Zur politischen (Ir-)Relevanz von Predigten in radikalislamischen Moscheen
Predigten spielen zweifelsohne sowohl in der Glaubenspraxis des Christentums als auch des Islam eine wichtige Rolle. Die »Ḫuṭba« (Predigt) ist ein essenzieller Bestandteil eines jeden Freitagsgebets in der Moschee, deren wöchentlicher Besuch nach den Vorstellungen des orthodoxen sunnitischen Islam Pflicht für jeden gesunden, männlichen Muslim ist.[1] Somit kann angenommen werden, dass das Glaubensverständnis vieler Gläubiger maßgeblich durch die wöchentliche Predigt geprägt wird.
Die Debatte um muslimische »Hassprediger«, die bereits in den frühen 2000er Jahren in der deutschen Politik und den Medien geführt wurde, zeigt, dass in der Öffentlichkeit Predigten im islamischen Kontext häufig eine potenziell hohe (und oftmals negative) Wirkmächtigkeit zugeschrieben wird. So schrieb der SPIEGEL 2004 anlässlich des durch einen dschihadistischen Anschlag ermordeten Regisseurs Theo van Gogh:
»Die rund 2000 muslimischen Versammlungs- und Gebetshäuser der Republik, das dämmert inzwischen auch den Politikern, sind der Schlüssel zu einem friedlichen Miteinander: Predigen die Vorbeter Versöhnung und distanzieren sie sich vom Terror, stellt das militante Muslime ins Abseits […]. Predigen die Imame jedoch Hass, drohen tatsächlich Konflikte wie in den Niederlanden.«[2]
Ob Predigten aber tatsächlich so wirksam sind wie oftmals behauptet, muss freilich dahingestellt bleiben. Studien zum Inhalt von Predigten in Moscheen in Deutschland gibt es bisher kaum, deren Rezeption durch Gläubige wurde bisher überhaupt nicht untersucht. Der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba legte 2020 eine Studie zur Analyse von dreißig Predigten vor, die 2016 und 2017 in einer namentlich nicht genannten Moschee salafistischer Prägung in Bayern gehalten wurden. Er kam zum Schluss, dass in der Hälfte der Predigten politische Ziele propagiert worden seien und identifizierte ein salafistisches Narrativ, das Nicht-Muslim*innen ebenso abwerte wie innerislamische Gegner*innen des Salafismus. Dieses könnte schließlich Jaraba zufolge zur gesellschaftlichen Spaltung beitragen.[3] Andere Studien befassen sich meist mit Predigten in den beiden großen Moscheeverbänden in Deutschland – der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DİTİB), deren Imame als Beamte dem türkischen Staat unterstellt sind, und der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG).[4] Die Inhalte von islamischen Predigten sind zudem auch in jüngerer Zeit Gegenstand der außerwissenschaftlichen Publizistik – so legte der Fernsehjournalist Constantin Schreiber 2017 das Buch »Inside Islam: Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird«[5] vor, in dem er eine Reihe zufällig ausgewählter Predigten vorstellt, die 2016 in Deutschland gehalten wurden. Die diesjährige Kurzstudie des FoDEx-Fachbereiches »Radikaler Islam« soll dazu beitragen, die bestehende Forschungslücke zu schließen, und erstmals Predigten in namentlich bekannten Moscheen aus dem radikalislamischen Spektrum in den Blick nehmen. Die ersten Ergebnisse der kommenden Veröffentlichung sollen hier vorgestellt werden.
Zur Konzeption der Studie
Die Studie »nimmt gezielt Predigten in den Blick, die 2022 in der Moschee der Deutschsprachigen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) in Braunschweig sowie in der Moschee des Deutschsprachigen Islamkreises (DIK) Hannover gehalten wurden. Letztere ist auch als »Masjid Ghuraba« (arabisch für: »Moschee von Fremden«) bekannt – unter diesem Namen ist die Gemeinde beim Messenger-Dienst Telegram aktiv.[6] Hierbei handelt es sich um die zwei Moscheen, die in den letzten Jahren vom Niedersächsischen Verfassungsschutz als dezidiert salafistisch geprägte Moscheen in Niedersachsen ausgewiesen worden sind.[7]
Die eingangs geschilderten Behauptungen kontrastierend wurde bei der Planung der Studie von der Annahme ausgegangen, dass explizite politische Themen in Predigten eine geringe Rolle spielen und stattdessen der Bezug auf das Jenseits und die Belohnungen und Strafen, die nach islamischer Lehre nach dem Tod zu erwarten sind, im Vordergrund stehen.[8] Gleichzeitig war die These handlungsleitend, dass Religion grundsätzlich eine »endemische politische Potenz«[9] innewohnt, da religiöse Lehren nicht nur Wahrheitsansprüche erheben, sondern häufig auch Normen postulieren und damit das Feld der Politik berühren, die mittels Regelsetzungen kollektive Entscheidungen trifft. Somit lassen sich auch Predigtinhalte auf ihre politische Relevanz befragen, die keine expliziten politischen Inhalte aufweisen. Die Studie stellt somit folgende Fragen: Werden in den Predigten explizit politische Themen aufgegriffen, wie die beiden aktuellen Großkrisen, die Covid-Pandemie und der Ukraine-Krieg, oder die Frage nach dem Zusammenleben in der multiethnischen, multireligiösen (Post-)Einwanderungsgesellschaft? Wie wird das Verhältnis zwischen der Eigengruppe bzw. Ingroup der frommen Muslim*innen und der Fremdgruppe bzw. Outgroup der Nicht-Muslim*innen oder auch Muslim*innen mit einem weniger rigiden Islambild dargestellt? Welche Aussagen werden zu den Beziehungen zwischen den Geschlechtern getroffen? Und: Welche politischen Implikationen hat das Weltbild, das in den Predigten vertreten wird?
Die empirische Grundlage der Studie bilden neun Predigten, die von Mitarbeitenden des FoDEx-Projektes besucht, vor Ort digital aufgezeichnet und anschließend transkribiert wurden. Sämtliche in der Studie inkludierte Predigten wurden nach Auslaufen aller pandemiebedingten Auflagen gehalten, die für Religionsgemeinschaften in Niedersachsen galten – die Thematisierung der Corona-Maßnahmen in den Predigten war somit nicht mehr so naheliegend wie in den Jahren zuvor. Sechs Predigten wurden während des Fastenmonats Ramadan 2022 besucht, davon vier in der DMG-Moschee Braunschweig.[10] Anschließend wurden noch drei weitere Predigten im Frühsommer besucht. So sollte vermieden werden, dass das Sample der Studie ausschließlich aus Ramadanpredigten besteht, die sich durch häufige Bezugnahmen auf den heiligen Monat des Islam auszeichnen. Darüber hinaus wurde eine zehnte Predigt in die Analyse einbezogen, die nicht vor Ort besucht wurde, sondern die am 13. Mai 2022 in der DIK-Moschee in Hannover gehalten und anschließend über soziale Medien verbreitet wurde.[11] Sie wurde ergänzt, weil sie das Verhältnis der Moscheegemeinde zu den überwiegend nicht-muslimischen Nachbar*innen der Moschee zum Thema hatte und somit die Beziehung zwischen Ingroup und Outgroup in den Blick nimmt.
Die Transkripte der Predigten wurden anschließend mithilfe des Softwareprogramms MAXQDA einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring unterzogen.[12] Den identifizierten Kernaussagen wurden dabei passende Codes zugeordnet. Eingeteilt wurden die Predigtpassagen nach a) formalen Kategorien (u. a. Begrüßung, Koran- oder Hadithzitat, Bittgebet), b) der Ansprache bestimmter Themen (Ramadan, das Jenseits, Glaubensüberzeugungen etc.) sowie c) tiefergehenden Reflexionen etwa über die Vergänglichkeit des Lebens und die Zeitverschwendung durch nichtige, irdisch-profane Tätigkeiten oder die Dankbarkeit des Menschen gegenüber Gott.
Die Auswertung der Predigtinhalte zeigt, dass explizit politische Inhalte in den zehn in den Blick genommenen Predigten nur eine marginale Rolle spielten. Insgesamt wurden dem Material 528 Codings zugewiesen – doch nur neun Textpassagen wurden dem Code »Bezug zur (aktuellen) Politik« zugeordnet. Reflexionen über das Verhältnis zur Outgroup der Nicht-Muslim*innen finden sich im Material ebenfalls nur neunmal – und die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter, die bei der öffentlichen Debatte um den Islam oft im Fokus steht, wird lediglich in fünf Passagen reflektiert. Im Vordergrund stehen vielmehr der Themenkomplex Ramadan und dessen Facetten (insgesamt 63 Codierungen) sowie verschiedene Glaubensüberzeugungen (53 Codierungen). Oft finden sich Betrachtungen über die Notwendigkeit, in der Glaubenspraxis Disziplin zu üben (43 Codierungen), sowie über die Vergänglichkeit des Menschen im Diesseits, die dazu nötige, sinnlose Zeitverschwendung mit weltlichen Dingen zu vermeiden (24 Codierungen). Auch die nach islamischer Überzeugung im Jenseits anstehenden Belohnungen und Strafen werden häufig angesprochen (42 Codierungen). Die letzten drei Themenkomplexe sind dabei eng miteinander verzahnt, da der Lohn im Jenseits Folge des Fokus auf die religiösen Pflichten im Diesseits ist. Hier soll als erster Einblick in die Ergebnisse der Studie ausführlich nur auf die Bezüge zu politischen Themen eingegangen werden.
Bezugnahmen zur (aktuellen) Politik in den Predigten
Der durch Medienberichte prominente Prediger Marcel Krass spricht in einer Predigt das Problem der »Abneigung gegen den Islam und die Muslime«[13] von Seiten der Nicht-Muslim*innen an. Krass zufolge stellten nicht »komische Leute mit Glatzköpfen«[14] die eigentliche Gefahr dar. Vielmehr trügen Muslim*innen, die mit ihrem Verhalten ihren Mitmenschen schadeten – etwa durch das Zuparken von Einfahrten im Umfeld von Moscheen – maßgeblich zu Antipathien gegen Muslim*innen bei. Angesichts des Ärgers um Parkplätze in der Umgebung der eigenen Moschee sei es nachvollziehbar, wenn die Menschen dort den Wunsch nach einer Regierungsverantwortung für die AfD entwickelten, selbst wenn sie eigentlich keine »Nazis« oder »Islamhasser« seien.[15]
In einer anderen Predigt stellt Marcel Krass die muslimische Gemeinschaft »andere[n] Nationen«[16] gegenüber, die einzelne für ihre Geschichte prägende Daten als Nationalfeiertage feierten – so etwa in der Bundesrepublik den Tag der Deutschen Einheit. Die Muslim*innen feierten hingegen das Ereignis der Herabsendung des Korans, das für ihre Geschichte maßgeblich sei, im Ramadan einen ganzen Monat lang.[17] Es ließe sich vermuten, dass die Klassifizierung der muslimischen Gemeinschaft als Nation schlicht Folge einer spontanen, unpräzisen Formulierung ist. Tatsächlich aber erklärte Krass bereits 2014 in einem Video, dass Muslim*innen sich als eine Nation verstünden.[18] Deshalb sei es sogar verständlich, dass sie die gegenwärtige Zerstreuung überwinden und einen eigenen Staat gründen wollten, in dem sich alle Muslim*innen der Welt versammeln und gemäß dem göttlich gestifteten islamischen Recht leben könnten.[19] Es ist somit davon auszugehen, dass die Einordnung der muslimischen Gemeinschaft als Nation in der Predigt bewusst vorgenommen worden ist. Krass grenzt die muslimische Gemeinschaft von Nationen, deren Staat nach den Grundsätzen der liberalen, säkularen Demokratie verfasst sind, ab, da seiner Auffassung nach der Islam eigentlich nach einer staatlichen Ordnung verlangt, die auf der Idee der Gottessouveränität fußt. In der gleichen Predigt stellt Krass aber auch Deutschland »unseren islamischen Ländern«[20] gegenüber. Dies verwundert nicht nur deshalb, weil Krass einen deutschen Pass besitzt und selbst deutschstämmig ist. Vielmehr klagte er an anderer Stelle, dass heute eigentlich kein wahrhaft islamischer Staat existiere, der als Heimstatt aller Muslim*innen dienen könne[21] – die Vision einer muslimischen Nation, die weltweit alle an den Islam Glaubenden politisch vereint, ist demnach noch nicht erreicht.
Ein anderer, namentlich nicht bekannter Prediger der DIK-Moschee Hannover verweist auf die Tatsache, dass die eigene Moscheegemeinde »nicht vom Staat finanziert«[22] werde, was möglicherweise nicht allen Moscheebesucher*innen bewusst sei. Diese Trennung von Staat und Religion wird allerdings nicht beklagt. Vielmehr dient der Verweis auf diesen Umstand als Anlass, die Gläubigen zu Spenden für die Moschee aufzurufen,[23] da Moscheen in Deutschland »auf den Schultern von Männern und Frauen, die an Allah und den Jüngsten Tag Īmān [Glauben] haben«[24] getragen würden.
Das von 2020 bis 2022 in der deutschen Politik vorherrschende Thema – die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung – fanden in den untersuchten Predigten überhaupt keinen Niederschlag. Das Thema des Krieges in der Ukraine, welches 2022 einen Großteil des politischen Diskurses dominierte, wird im Material auch nur ein einziges Mal angesprochen. Sami M‹Barek, der als Prediger unter der Kunya[25] »Abu Maher« bekannt ist, erwähnt in seiner Predigt am 8. April 2022, dass es auch muslimische Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland gebe, die Schwierigkeiten hätten, einen Ifṭār (die Mahlzeit des Fastenbrechens zu Tagesende im Ramadan) vor Ort zu finden, während in den Geflüchtetenunterkünften das Essen nur zu bestimmten Zeiten möglich sei und zudem Schweinefleisch enthalte.[26] Hier zeigt sich die Tendenz, weltpolitische Themen nur dann zu erwähnen, wenn sie konkret im Alltagsleben (von Muslim*innen) sichtbar werden.
Das Thema der Bildungspolitik wird in den untersuchten Predigten nicht direkt angesprochen. Ein namentlich nicht bekannter Prediger in der DIK-Moschee Hannover, der in seiner Predigt betont, dass einzig der Islam die wahre Religion sei, geht aber auf die Rolle der Bildungsinstitutionen ein. Sie seien mit dafür verantwortlich, dass viel »Unwissenheit« über den Islam bestehe und selbst »manche Muslime durch einfache Sachen […] ins Wanken geraten.« An »Schulen oder Universitäten oder anderen Institutionen« würden »Zweifel gesät über den Koran oder über den Propheten«. Doch der Versuch, die Botschaft des Islam »anzugreifen«, sei zum Scheitern verurteilt, denn »der Islam hat keine Fehler, der Koran hat keine Fehler«[27]. Deutlich wird, dass der Prediger hinter dem von politischen Mehrheiten gewünschten und getragenen Ausbau islambezogener Bildungsangebote[28] nicht die Absicht vermutet, mehr Kenntnisse über den Islam zu vermitteln und das Zugehörigkeitsgefühl von Muslim*innen zur deutschen Gesellschaft zu stärken, sondern das Ziel, die Glaubensgewissheit von Muslim*innen zu erschüttern sowie Unwahrheiten über die Religion zu verbreiten. Dabei ist bemerkenswert, dass er nicht unterscheidet zwischen um Neutralität bemühten Angeboten, wie religionskundlichem Unterricht oder der islamwissenschaftlichen Lehre, einerseits und konfessionellen Angeboten, wie dem islamischen Religionsunterricht und der islamischen Theologie, andererseits, die von gläubigen Muslim*innen unterrichtet beziehungsweise gelehrt werden, die einer innerislamischen Perspektive verpflichtet sind. Stattdessen wird jede Inklusion islambezogener Inhalte in staatlichen Bildungsinstitutionen hier offensichtlich als Gefährdung des eigenen Islamverständnisses aufgefasst, demzufolge wahres Wissen über den Islam nur dazu führen kann, den Wahrheitsanspruch des Islam unumschränkt anzuerkennen, während jeder Zweifel daran als Angriff auf die Religion gewertet wird.
Insgesamt zeigt sich, dass bei den wenigen Anlässen, bei denen inhärent politisch relevante Themen angesprochen wurden, zumeist ein direkter Bezug zur Lebensrealität der Moscheebesucher*innen vorliegt. Politisches und gesellschaftliches Engagement der Gläubigen wird als Möglichkeit überhaupt nicht erwähnt – ob dies in einer grundlegenden Ablehnung der Demokratie begründet ist oder in der Annahme, ein solches Engagement sei wirkungslos, bleibt offen. So wird etwa die Vermittlung eines vermeintlich falschen Islambilds in den Bildungsinstitutionen beklagt, doch keine Chance gesehen, auf den gesellschaftlichen Diskurs zur islambezogenen Bildung Einfluss zu nehmen. Den Predigern geht es vielmehr darum, dass die Gläubigen eingedenk der politischen Rahmenbedingungen im Privatleben zum (vermeintlichen) Wohl der muslimischen Gemeinschaft handeln, ohne sich aber dabei in die Sphäre des Öffentlichen und Politischen zu begeben.
Resümee
Die Analyse der untersuchten Predigten zeigt, dass die Predigten auch in Moscheen, die sich als radikalislamisch klassifizieren lassen, als religiöse Äußerungen ernst genommen werden müssen. Die Prediger verstehen sich als Verkünder einer überzeitlichen und überweltlichen Wahrheit und nicht als politische Akteure oder als auf die Gesamtgesellschaft einwirkende Aktivisten. Dennoch erlauben die untersuchten Predigten auch Einblicke in Bezug auf die politischen Ansichten der Prediger. Die Politik wird – wenn überhaupt – als fremde Sphäre wahrgenommen, die sich nicht beeinflussen lässt und von der potenziell Unheil droht. Einzig Marcel Krass merkt an, dass die Muslim*innen durch gutes Verhalten im Alltag gegenüber ihren nicht-muslimischen Mitmenschen dazu beitragen können, Muslim*innenfeindlichkeit einzudämmen. Gleichwohl grenzt er Muslim*innen als vermeintlich eigene Nation aus der politischen Gemeinschaft aus. In Bezug auf das Verhältnis zu Nicht-Muslim*innen wird ein zuvorkommender, sozialadäquater Umgang angemahnt, auch wenn die Gläubigen sich dabei des uneingeschränkten, einzigartigen Wahrheitsanspruchs der eigenen Religion bewusst bleiben sollen und der Kontakt mit Nicht-Muslim*innen nicht dazu führen dürfe, die Befolgung der als göttlich legitimierten Gebote einzuschränken, die in Koran und Sunna (der ursprünglich mündlichen Überlieferung vom Propheten Mohammed) fixiert sind. Dominierend in den untersuchten Predigten sind gleichwohl Ermahnungen, sich der Belohnungen und Strafen im Jenseits bewusst zu sein und daher jede Zeitverschwendung in der kurzen irdischen Existenz zu meiden, um sich diszipliniert der Glaubenspraxis zu widmen – und zwar ausschließlich in der bewussten Absicht, Gott zu dienen. Anderenfalls könne man – so warnt etwa Abu Maher – am Jüngsten Tag »sein Wunder erleben«[29]. Doch auch dieser auf den ersten Blick apolitische Fokus auf im Jenseits drohende Strafen hat durchaus politische Implikationen: Politisches Engagement erscheint in der von den Predigern vertretenen Weltanschauung wenig sinnvoll – der Streit um Regelungen im säkularen Staat im Diesseits kann angesichts der Sorge um die Einhaltung der gottgegebenen Gebote, die über das eigene Heil oder die Verdammnis im Jenseits entscheiden, tatsächlich als ablenkende Zeitverschwendung gelten.
Literatur:
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Cziesche, Dominik/Schmid, Barbara/Stark, Holger: Harte Hand gegen Hassprediger, in: SPIEGEL.de [ursprünglich SPIEGEL 48/2004], 21.11.2004, URL: https://www.spiegel.de/politik/harte-hand-gegen-hassprediger-a-88226944-0002-0001-0000-000037494654[eingesehen am 14.08.2022].
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Klevesath, Lino/Munderloh, Annemieke/Sprengeler, Joris/Grahmann, Florian/Reiter, Julia: Radikalislamische YouTube-Propaganda: Eine qualitative Rezeptionsstudie unter jungen Erwachsenen, Bielefeld 2021.
Klevesath, Lino/Munderloh, Annemieke/Sprengeler, Joris/Schlieker, Kathinka/Grahmann, Florian: Scharia als Weg zur Gerechtigkeit? Eine Analyse der Rezeption eines salafistischen Online-Videos durch junge Muslim*innen, FoDEx-Studie Radikaler Islam, Göttingen 2019, online einsehbar unter: https://www.fodex-online.de/publikationen/studie-scharia-als-weg-zur-gerechtigkeit/.
Krass, Marcel: »Wie wir Muslime die Moscheen niederreißen – Freitagspredigt v. 13.05.22«, in: Föderale Islamische Union, 16.05.2022, URL: https://youtu.be/60M0g2BI1b8 [eingesehen am 12.09.2022].
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Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 2015.
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O. V.: Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen: Koalitionsvereinbarung von CDU und GRÜNEN 2022 – 2027, Düsseldorf 2022.
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Schreiber, Constantin: Inside Islam: Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird, Berlin 2017.
Willems, Ulrich: Religion und Politik, in: Pollack, Detlef/Krech, Volkhard/Müller, Olaf/Hero, Markus (Hrsg.): Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden 2018, S. 659–692.
[1]Das Gebot, das Freitagsgebet zu besuchen, wird im Koran erwähnt (Koran 62:9). Einem von Abū Dāwūd as-Siǧistānī (gest. 888 oder 889) überlieferten Hadith zufolge sind von dem Gebot nur Sklaven, Frauen, Minderjährige und Kranke ausgenommen (Sunan Abī Dāwūd, Buch 2, Hadith 678, URL: https://sunnah.com/abudawud:1067 [eingesehen am 10.08.2022]).
[2]Cziesche, Dominik/Schmid, Barbara/Stark, Holger: Harte Hand gegen Hassprediger, in: SPIEGEL.de [ursprünglich SPIEGEL 48/2004], 21.11.2004, URL: https://www.spiegel.de/politik/harte-hand-gegen-hassprediger-a-88226944-0002-0001-0000-000037494654 [eingesehen am 14.08.2022].
[3]Jaraba, Mahmoud: Salafismus. Die Wurzeln des islamistischen Extremismus am Beispiel der Freitagspredigten in einer salafistischen Moschee in Deutschland, Wien 2020, S. 26–33 sowie 193–211.
[4]Carol, Sarah/Hofheinz, Lukas: Eine Inhaltsanalyse von Freitagspredigten der Türkischen Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V., WZB Discussion Paper No. SP VI 2021-101, URL: https://www.econstor.eu/bitstream/10419/234527/1/1759171883.pdf[eingesehen am 30.03.2022]; Kutzner, Stefan: Islamische Religiosität in Deutschland. Zwei Deutungsmusteranalysen, in: Winkel, Heidemarie/Sammet, Kornelia (Hrsg:): Religion soziologisch denken. Reflexionen auf aktuelle Entwicklungen in Theorie und Empirie, Wiesbaden 2017, S. 243–269; Oprea, Julia-Alexandra: An Assessment of DİTİB’s role in the prevention of violent radicalization. A crucial aspect of Turkish State Islam in Germany, SWP Working Papers 1, 2020, URL: https://www.swp-berlin.org/publications/products/arbeitspapiere/CATS_Working_Paper_Nr.1__Iulia_Alexandra_Oprea.pdf [eingesehen am 30.03.2022].
[5]Schreiber, Constantin: Inside Islam: Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird, Berlin 2017.
[6]Die Bezeichnung ist ein Verweis auf einen Hadith, demzufolge der Islam als etwas Fremdes in die Welt kam und letztlich wieder zu etwas Fremdem werden wird (Sunan Abī Dāwūd, Buch 1, Hadith 279, URL: https://sunnah.com/muslim/1/279 [eingesehen am 29.08.2022]). Der Hadith erfreut sich unter Anhänger*innen eines rigiden Islamverständnisses einer gewissen Beliebtheit, denn sie verstehen sich häufig als Menschen, die Nicht-Muslim*innen und sogar Muslim*innen mit einer vermeintlich unzureichenden, laxen Religionspraxis als »Fremde« gegenüberstehen. Vgl. Klevesath, Lino et al.: Radikalislamische YouTube-Propaganda: Eine qualitative Rezeptionsstudie unter jungen Erwachsenen, Bielefeld 2021, S. 101.
[7]Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport – Verfassungsschutz (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2021, Hannover 2022, S. 209–217.
[8]Diese Annahme lag auch in den in der bisherigen Forschungsarbeit gesammelten Erfahrungen im Rahmen der Feldforschung begründet.
[9]Willems, Ulrich: Religion und Politik, in: Pollack, Detlef et al. (Hrsg.): Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden 2018, S. 659–692, hier: S. 661.
[10]Während des Untersuchungszeitraumes wurden in der Moschee der DMG Braunschweig jeweils zwei Freitagsgebete nacheinander abgehalten mit je einer Predigt. Besucht wurde stets das zweite Freitagsgebet des Tages.
[11]Krass, Marcel: »Wie wir Muslime die Moscheen niederreißen – Freitagspredigt v. 13.05.22«, in: Föderale Islamische Union, 16.05.2022, URL: https://youtu.be/60M0g2BI1b [eingesehen am 12.09.2022].
[12]Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 2015, hier insbesondere S. 69–90.
[13]Krass, Marcel: Predigt vom 13.05.2022 in der DIK-Moschee Hannover, Abs. 29.
[14]Ebd., Abs. 25.
[15]Ebd., Abs. 24.
[16]Krass, Marcel: Predigt vom 22.04.2022 in der DIK-Moschee Hannover, Abs. 15.
[17]Ebd., Abs. 15 f.
[18]Krass, Marcel: Was ist Scharia?, in: Deen Akademie, 30.10.2014, URL: https://youtu.be/VcVMIqxhbSE [eingesehen am 13.09.2022], ab Minute 44:02.
[19]Ebd., ab Minute 46:03.
[20]Ders., Predigt vom 22.04.2022 in der DIK-Moschee Hannover, Abs. 2.
[21]Krass: Was ist Scharia?, ab Minute 44:45. Möglicherweise nutzt Krass in der Predigt bewusst den Begriff »Länder« und nicht »Staaten«, da es ihm um mehrheitlich muslimisch bevölkerte Länder geht und nicht um Gemeinden, die seinen Vorstellungen einer islamischen Ordnung entsprechen. Zur Analyse des Videos siehe Klevesath, Lino et al.: Scharia als Weg zur Gerechtigkeit? Eine Analyse der Rezeption eines salafistischen Online-Videos durch junge Muslim*innen, FoDEx-Studie Radikaler Islam, Göttingen 2019, online einsehbar unter: https://www.fodex-online.de/publikationen/studie-scharia-als-weg-zur-gerechtigkeit/.
[22]Predigt vom 29.04.2022 in der DIK-Moschee Hannover, Abs. 16.
[23]Ebd., Abs. 17.
[24]Ebd., Abs. 16.
[25]Die »Kunya« ist ein arabischer Beiname. Eine Kunya weist in der Regel die Namensträgerin oder den Namensträger als Mutter bzw. Vater eines namentlich genannten Kindes aus. »Abu Maher« bedeutet »Vater von Maher«.
[26]Abu Maher: Predigt vom 08.04.2022 in der DMG-Moschee Braunschweig, Abs. 103 f.
[27]Predigt vom 17.06.2022 in der DIK-Moschee Hannover, Abs. 19.
[28]Beispielhaft sei hier etwa auf den schwarz-grünen Koalitionsvertrag in NRW verwiesen. In diesem bekunden die Koalitionspartner ihre Absicht zum Ausbau sowohl des konfessionellen islamischen Religionsunterrichts als auch der islamischen Theologie (O. V.: Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen: Koalitionsvereinbarung von CDU und GRÜNEN 2022 – 2027, Düsseldorf 2022, S. 63, URL: https://gruene-nrw.de/dateien/Zukunftsvertrag_CDU-GRUeNE_Vorder-und-Rueckseite.pdf [eingesehen am 16.09.2022]).
[29]Abu Maher: Predigt vom 08.04.2022 in der DMG-Moschee Braunschweig, Abs. 51.