War das Scheitern des Westens in Afghanistan vermeidbar?Rezension zu Timor Sharan (2023): Inside Afghanistan – Political Networks, Informal Order, and State Disruption
Was ist in Afghanistan schiefgelaufen? Fast 20 Jahre lang waren die USA und Verbündete mit Militär, staatlicher Aufbauhilfe und zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Land am Hindukusch aktiv, nachdem die Taliban durch einen amerikanischen Militäreinsatz nach dem 11. September 2001 zu Fall gebracht worden waren. Doch im August 2021 kehrten die Taliban mit dem Abzug der internationalen Truppen wieder an die Macht zurück und sorgten etwa erneut dafür, dass Mädchen und Frauen von höherer Schulbildung und dem Besuch von Universitäten ausgeschlossen sind. Warum konnte nicht verhindert werden, dass das Land 2021 wieder unter die Herrschaft der radikal-islamischen Bewegung fiel, die es bereits in den 1990ern prägte – und das trotz des Einsatzes einer zwischenzeitlich sechsstelligen Zahl an Soldat*innen und vielen Milliarden Euro an Militär- und Entwicklungshilfe?
In Anbetracht der Tatsache, dass nirgendwo sonst nach dem Zweiten Weltkrieg so viele deutsche Soldat*innen im Einsatz starben, bleibt diese Frage aktuell, auch wenn mittlerweile andere internationale Krisen den Blick auf Afghanistan überlagern. Zudem flohen in Folge der Taliban-Machtübernahme sehr viele Menschen nach Deutschland: Von 2020 auf 2022 stieg in der Bundesrepublik die Zahl der Afghan*innen um mehr als 100.000 auf insgesamt 380.000 Menschen. Oft wird postuliert, dass das Maß der Zustimmung für die liberale Demokratie unter Einwanderer*innen von den politischen Verhältnissen im Heimatland abhängig ist.[1] Die Gründe zu klären, warum der Versuch gescheitert ist, in Afghanistan eine Demokratie zu etablieren, kann also potenziell dazu beitragen zu verstehen, wie aufgeschlossen oder resilient afghanischstämmige Muslim*innen in Niedersachsen und Deutschland für anti-demokratische Spielarten des radikalen Islam sind.
Afghanistan als Staat der Netzwerke
Timor Sharan geht in seiner 2023 vorgelegten Monografie »Inside Afghanistan – Political Networks, Informal Order, and State Disruption« dem westlichen Scheitern in Afghanistan nach. Er reflektiert die Entwicklungen der letzten 20 Jahre nicht nur als Politikwissenschaftler, sondern auch als ehemaliger Vizeminister im Independent Directorate of Local Governance (IDLG) Afghanistans und als langjähriger Mitarbeiter der International Crisis Group, einer NGO, die sich ausgiebig mit Policy-Analysen und -Empfehlungen zu virulenten Konflikten beschäftigt.
Ins Zentrum stellt er die Analyse Afghanistans als »networked state«. Er begreift die 2001 entstandene und 2021 untergegangene afghanische Republik als soziales Gebilde, in dem die formalen Institutionen, die durch ausformulierte Regeln und Verfahren beherrscht werden, allenfalls eine Nebenrolle spielen und in dem Netzwerke, unter anderem zwischen Zentralregierung, regionalen, über Waffen und Kämpfer verfügenden »Strongmen« und den Dorfältesten auf lokaler Ebene die entscheidenden Formationen darstellen, um Macht zu organisieren und zu verteilen. Die Grenzen zwischen staatlichen, parastaatlichen, wirtschaftlichen und kriminellen Akteuren seien demnach fließend gewesen. Die Netzwerke seien zudem nicht auf die Grenzen Afghanistans beschränkt gewesen, da ausländische Staaten, ihre Militäreinheiten und Sicherheitsfirmen sowie internationale Geldgeber und NGOs eine entscheidende Rolle spielten. Dies kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass auf dem Höhepunkt der ausländischen Intervention 2014 die internationalen Militär- und Zivilhilfen etwa 95 % zum Bruttoinlandsprodukt Afghanistans beitrugen[2] – der afghanische Staat selbst hatte nur wenige Ressourcen zu verteilen.
Der Autor will einerseits diese Netzwerke selbst und die alltäglichen Praktiken der in ihnen verbundenen Akteur*innen aufzeigen und andererseits darlegen, wie die Netzwerke zur endemischen Gewalt und zum Zusammenbruch des Staates 2021 beitrugen.[3] Die Netzwerke hätten durch leere Performanz das Vorhandensein eines Staates mit regelbasierten Institutionen lediglich simuliert und damit den Staat so schwach gehalten, dass die Taliban 2021 gar nicht im größeren Rahmen um die Macht kämpfen mussten: »[It] […] made the Afghan state so hollow that when the pressure of U.S. withdrawal was applied, it crumbled like a house of cards« (XIX).
Sharan versteht unter politischen Netzwerken offene und gleichzeitig hierarchische Strukturen in einem informellen und fortwährend auszuhandelnden Zusammenspiel, bei dem die involvierten Akteure wechselseitig von den Machtressourcen der anderen Mitglieder des Netzwerks abhängig sind, um politische Ergebnisse zu erzielen, und dabei sowohl auf Geld als auch auf das Ausnutzen ethnischer Identitäten und Gewalt setzen, um ihre Macht auszuüben. Der Staat konnte nach 2001 meist nur mittels einiger dieser Netzwerke handeln, die oft von einzelnen einflussreichen und regional verankerten Strongmen geknüpft wurden und weite Teile der Bevölkerung von echter Teilhabe an der Macht ausschlossen. Diese Strongmen standen hierarchisch unter dem früheren Präsidenten Hamid Karzai, der ihnen Zugang zu Ressourcen wie etwa internationalen Geldern verschaffte und dessen Interessen sie im Gegenzug in ihrer Region etwa durch Milizen absicherten. Somit fungierten die Strongmen als Karzais Klienten und er als oberster Patron. Gleichzeitig traten die Strongmen jedoch innerhalb ihrer Region selbst als Patrone auf, die ihren eigenen Klient*innen, die in ihren Dörfern für die Belange der Strongmen eintraten, Jobs in der Zentralregierung verschafften oder sie in ihre Miliz aufnahmen.
Ausführlich geht Sharan auf die geschichtliche Entwicklung der politischen Netzwerke in Afghanistan ein. 1973 und 1978 wurde das Land von zwei Staatsstreichen erschüttert – der erste beendete mit kommunistischer Unterstützung die Monarchie, der zweite brachte die kommunistische Partei selbst an die Macht. Die sich anschließende Teilung dieser Partei in Untergruppen, die als Faktionen bezeichnet werden (vor allem in die vorwiegend persischsprachige, urban geprägte Parcham-Faktion und die eher rurale, paschtunischsprachige Khalq-Faktion[4]) und die Bildung von dschihadistischen Milizen gegen das kommunistische Regime und die Sowjetunion, die das Land von 1979 bis 1989 besetzte, um dort eine verbündete Regierung an der Macht zu halten, hätten die Rolle politischer Netzwerke gestärkt: Denn sowohl innerhalb der kommunistischen Partei als auch unter den dschihadistischen Gruppen seien persönliche Beziehungen wichtiger gewesen als Ideologie. Nach dem Abzug der Sowjetunion 1989 und dem Sturz des Präsidenten Mohammed Nadschibullāh drei Jahre später sei die Macht vier Jahre lang vollends zwischen rivalisierenden Netzwerken im erbitterten, bis 1996 andauernden Bürgerkrieg umkämpft gewesen. Auch nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul 1996 und der Errichtung des Emirats Afghanistan herrschte in einem kleinen Teil des Landes die Nordallianz, die einen losen Zusammenschluss verschiedener Netzwerke um lokale Strongmen darstellte und nach der US-Militärintervention 2001 die faktische Macht im ganzen Land ausübte.
Die Konferenz von Bonn und ihre Konsequenzen
Die Folgekapitel beleuchten, wie sich die politischen Netzwerke nach dem Sturz der Taliban entwickelten. Bei der Bonner Konferenz auf dem Petersberg 2001 bekannten sich die afghanischen und internationalen Teilnehmenden zu einer frei gewählten Regierung und bestimmten Hamid Karzai zum Übergangspräsidenten. Doch im Land selbst herrschte faktisch die Nordallianz, insbesondere das tadschikischstämmige Netzwerk der Dschamiat-i Islāmī (kurz Dschamiat). Der ihnen nahestehende Kommandeur Mohammed Fahim übte in Kabul zunächst die militärische Kontrolle aus – Karzai war gezwungen, ihn zum Verteidigungsminister zu ernennen. Von Seiten der USA und des Vereinigten Königreiches sei Karzai signalisiert worden, dass er sich nicht auf die Macht der ausländischen Truppen stützen könne, welche sich auf die Bekämpfung des Terrorismus konzentrieren wollten. Vielmehr sei er ermutigt worden, die mächtigen Strongmen durch Patronage zu kooptieren, anstatt deren faktische Macht anzufechten. Neben dem Dschamiat-Netzwerk spielten weitere Netzwerke eine maßgebliche Rolle, in deren Mittelpunkt jeweils ein Strongman stand. Durch die Dominanz des Dschamiat-Netzwerkes wurde die Verwaltung zunächst in zentralen Bereichen zu mehr als 50 % von der tadschikischstämmigen Minderheit dominiert. Mittels internationaler Gelder schaffte es Karzai jedoch, sein Netzwerk im Land auszudehnen, seine Position zu stärken und die Rolle der Strongmen als regionale Gatekeeper ein wenig zu schwächen. Auch seine Bestätigung als Übergangspräsident durch eine »Loya Jirga«[5] war nach Ansicht von Sharan nur durch Stimmenkauf mit amerikanischen Geldern möglich.
Karzai vermochte es, auch die erste reguläre Präsidentschaftswahl 2004 für sich zu entscheiden, was die USA als Erfolg ihrer Bemühungen um die Stabilisierung des Landes verkauften. Für Sharan waren alle Gegenkandidierenden zum Scheitern verurteilt, da sie lediglich für einzelne ethnische Minderheiten angetreten seien. Allerdings hätten Konkurrenten Karzais den Vorwurf erhoben, der Sieg sei vor allem durch die Intervention des damaligen US-Botschafters Zalmay Khalilzad zustande gekommen, der einen aussichtsreichen Kandidaten zum Rückzug bewegt habe. Die Funktionsfähigkeit des politischen Systems sollte jedoch in den Folgejahren weiter abnehmen. Sharan erklärt, die USA hätten Karzai die Kooptierung von Strongmen zunehmend übelgenommen, obwohl sie ihm diese Praxis anfangs selbst empfohlen hätten. Für die Präsidentschaftswahlen 2009 habe der US-Sondergesandte Richard Holbrooke vergeblich versucht, aussichtsreiche Kandierende zu motivieren, gegen Karzai anzutreten. Dieser habe sich fortan von den USA verraten gefühlt und sei für Verschwörungstheorien empfänglich gewesen. Auch wenn Karzai sich durch die Einbindung zahlreicher Strongmen, von denen er sich Unterstützung bei der Stimmenbeschaffung erhoffen konnte, eine gute Ausgangsbasis für die Präsidentschaftswahl 2009 verschafft habe, hätte sich mit Abdullah Abdullah erstmals ein relativ aussichtsreicher Gegenkandidat zur Wahl gestellt. Er konnte vor allem auf die Stimmen tadschikischstämmiger Wähler*innen hoffen. Der 1. Wahlgang war von massiven Wahlfälschungen geprägt – schließlich wurden Karzai knapp weniger als 50 % der Stimmen zuerkannt. Nachdem Abdullah vergeblich Änderungen bei der Wahlkommission gefordert und sich dann frustriert zurückgezogen hatte, wurde die geplante Stichwahl abgesagt, was die USA durch die Gratulation an Karzai als Wahlsieger letztlich legitimierten. Nach der Wahl habe Karzai das Independent Directorate of Local Governance (IDLG) aufgebaut und so direkt über Gouverneure und Bürgermeister entscheiden können. Seine Statthalter hätten vor Ort als Gegenleistung faktisch die Aufgabe gehabt, bei Wahlen die Bevölkerung zur Stimmabgabe in seinem Sinne zu mobilisieren. Echte demokratische Willensbildung konnte so weder auf nationaler noch auf lokaler Ebene stattfinden.
Die unruhigen letzten Jahre der Republik
Zur Präsidentschaftswahl 2014 durfte Karzai nicht mehr antreten, da eine Amtszeitbegrenzung auf zwei Wahlperioden galt. Zu den Wahlen 2014 und 2019 traten Aschraf Ghani und Abdullah gegeneinander an, die beide von wechselnden Koalitionen von Strongmen unterstützt worden seien. In den Stichwahlen setzte sich beide Male Ghani offiziell durch, aber Abdullah war zweimal nicht bereit, das Ergebnis zu akzeptieren – 2019 führte er sogar seine eigene Amtseinführungszeremonie durch. In beiden Jahren allerdings drängten die USA erfolgreich auf eine Machtteilung zwischen den Kontrahenten, die beide Male an den Regeln der Verfassung vorbei erfolgte – durch die Kompetenzstreitigkeiten litt die Effizienz des Regierungshandelns, und das bereits von Karzai aufgebaute System der Kooptierung regionaler Netzwerke habe so nicht mehr funktionieren können, da Ghani angesichts der Zugeständnisse an Abdullah persönlich über zu wenige Ressourcen verfügte, um potenzielle Gefolgsleute in den Regionen zufriedenzustellen.
Sharan beleuchtet zum Abschluss des historischen Überblicks die Umstände des Endes der Republik 2021. Viele westliche Politiker*innen hätten die afghanische Korruption und den Unwillen der Armee zu kämpfen als Grund für das Scheitern ausgemacht – doch diese Diagnose überdecke tiefere Ursachen (277). In der Tat sei Korruption einer der Gründe für die Schwäche von Armee und Polizei gewesen, denn viele an die Hauptstadt gemeldete besoldete Kräfte hätten nur auf dem Papier existiert. Dies sei in der Armee ein großes Problem gewesen, und nach einer amerikanischen Schätzung von 2020 seien bei der Polizei sogar 50 bis 70 % »ghost officers« (275) gewesen. Entscheidend sei jedoch das Abkommen der USA im Februar 2020 mit den Taliban gewesen, in dem die Weltmacht einen Abzug im Jahre 2021 versprach und die radikalislamische Gruppierung im Gegenzug zusicherte, künftig den internationalen Terrorismus nicht mehr zu unterstützen. Faktisch sei die Vereinbarung weitgehend einem bedingungslosen Abzug gleichgekommen, der dann mit geringer Verzögerung 2021 auch umgesetzt wurde. Die Taliban hätten danach keinen Anreiz für Verhandlungen mit der afghanischen Regierung mehr gehabt. Die politischen Netzwerke hätten zudem in den letzten Jahren der Präsidentschaft Ghanis an Unterstützung auf dem Land eingebüßt, da deren maßgebliche Akteure dazu übergegangen waren, aussichtsreiche Posten exklusiv in ihren Familien zu verteilen anstatt Klienten jenseits ihrer Verwandtschaft zu versorgen. Daher hätten die Netzwerke auch nicht auf lokale Strongmen zurückgreifen können, als sich abzeichnete, dass die über den Staat vermittelten internationalen Ressourcen zu einem absehbaren Zeitpunkt nicht mehr verfügbar sein würden. Ohne Aussicht auf weitere Ressourcen internationaler Geldgeber habe sich ein Kampf gegen die Taliban für die maßgeblichen Akteure nicht mehr gelohnt, und als zunehmend mehr lokale Milizen im Sommer 2021 zu den Taliban übergelaufen seien, sei ein sich selbst verstärkender Kaskadeneffekt eingetreten, so dass Kabul am Ende praktisch ohne Verteidigung an die Taliban fiel. Wie Drogensüchtige seien die Netzwerke von ausländischem Geld abhängig gewesen: »[International] Money was the drug that kept Afghanistan’s networks performing the democratic dance for the international community, even as democratic institutions were transformed into mere props« (287).
Korruption statt demokratischer Willensbildung
Um einige der Praktiken der politischen Netzwerke, die einer ernsthaften Demokratisierung Afghanistans massiv entgegenstanden, en détail zu analysieren, untersucht Sharan den Wahlprozess, die Praktiken der gewählten Parlamentarier*innen sowie die Verflechtungen zwischen den internationalen Geldquellen und Politik und Wirtschaft in Afghanistan. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die afghanischen Wahlen kein Verfahren zur Ermittlung des Volkswillens gewesen seien, sondern vielmehr ein Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen politischen Netzwerken. Da es keine zuverlässigen Zensusdaten für Afghanistan gegeben habe, sei schon die Zuteilung der Zahl der Parlamentarier*innen pro Wahlbezirk ein korrupter, politisierter Prozess gewesen. Da laut Sharan die Independent Election Commission (IEC) bereits unter Karzai mit loyalen Verbündeten besetzt worden sei, habe es auch keine wirklich unabhängige Wahlaufsicht gegeben. Wahlkämpfe seien in Afghanistan üblicherweise zum einen von Personen bestritten worden, die damit selbst Geld verdienen wollten und etwa durch gefälschte Belege in die eigenen Taschen wirtschafteten, zum anderen durch regionale Klienten der Kandidierenden, die dann über ihr eigenes lokales Patronagenetzwerk Menschen durch Bargeld und kostenlose Mittagessen dafür bezahlt hätten, an Wahlkampfveranstaltungen teilzunehmen. Indem Stimmkarten zentral eingesammelt worden seien, hätten Stimmen bestimmter Dörfer, Vereine und Verbände en bloc zugesichert werden können.
Die Tätigkeiten der gewählten Abgeordneten hätten wenig mit der Parlamentsarbeit in funktionierenden Demokratien zu tun gehabt. Zwar gab es im Parlament auch Fraktionen, diese seien aber keine Zusammenschlüsse entlang inhaltlich-politischer Übereinstimmungen gewesen, sondern Patronage-Netzwerke – eine Abgeordnete habe berichtet, für ihre Mitgliedschaft in einer parlamentarischen Gruppe habe sie eine Zuwendung von monatlich 2.000 Dollar erhalten. Mehrheiten wurden organisiert, indem Abgeordneten Geld, aber auch Jobs für Angehörige und andere Vorteile angeboten worden seien. Das Einströmen ausländischer Gelder habe das politische System einerseits kurzfristig stabilisiert, aber andererseits eine nachhaltige Festigung staatlicher Institutionen verhindert. So seien ausländische Gelder zur Stabilisierung der Sicherheitslage an Sicherheitsfirmen (oftmals frühere Milizen) gegangen, um damit die Kasernen ausländischer Truppen zu sichern. Oft seien aber schätzungsweise zehn Prozent dieser Gelder an aufständische Gruppen als Schutzgeld weitergereicht worden – oder Mitarbeitende der Sicherheitsfirmen hätten gar selbst Anschläge beauftragt, um höhere Sicherheitszulagen einfordern zu können. Indirekt habe der Westen selbst somit die Taliban unterstützt.
Eine detaillierte, erhellende Analyse der Mikroebene, der ein Blick für die Makroebene fehlt
Durch die intimen Kenntnisse des Autors erhalten Leser*innen umfangreiche Einblicke in das Personengeflecht der politischen Netzwerke Afghanistans und eine detailreiche Darstellung der historischen Entwicklung von 2001 bis 2021. Allerdings identifiziert Sharan auch einige strukturelle Ursachen für das Scheitern der Intervention der USA und ihrer Verbündeten: Das präsidentielle System sei für Afghanistan ungeeignet gewesen. Der Modus Operandi der Macht sei die Verteilung von Ressourcen auf verschiedene politische Netzwerke und Ethnien gewesen – doch die Machtfülle des Amtes an der Spitze des Staates habe dieser Logik widersprochen. Somit habe für den Verlierer einer Präsidentschaftswahl ein großer Anreiz bestanden, die Wahl anzufechten. Der Präsident habe zudem die Richter des Obersten Gerichtshofes und ein Drittel der Abgeordneten des Oberhauses ernennen können, so dass eine effektive Gewaltenteilung in Afghanistan nach 2001 nicht etabliert worden sei. Zudem sei durch politische Entscheidungen der Aufbau echter Parteien mit einem inhaltlich-ideologischen Profil verhindert worden, die an die Stelle der informellen politischen Netzwerke hätten treten oder diese zumindest hätten schwächen können. Karzai habe über Erfahrungen im Umgang mit politischen Netzwerken verfügt, nicht aber über den mit Parteien, deren Aufkommen er durch die Einführung des Systems des »Single Non-Transferable Vote« (SNTV) deshalb bewusst dauerhaft erschwert habe.[6] Dieses System begünstige den Einzug formal unabhängiger Kandidierender, die dann durch Personen mit Einfluss kooptiert werden konnten. Da außerdem mehrere Kandidierende eines Netzwerkes antreten und untereinander um Stimmen konkurrieren konnten, sei das Entstehen einheitlicher Parteien mit einem innerparteilichen Zusammenhalt unwahrscheinlicher geworden. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn Sharan die Frage nach dem Effekt des Wahlrechts auf die Entstehung von Parteien und auf den innerparteilichen Zusammenhalt an die Forschungsliteratur angebunden hätte.[7]
Eine Leerstelle des Buches bleibt die Unterbelichtung der Rolle von Frauen in den Jahren der westlichen Intervention. Nur an einzelnen Stellen geht Sharan auf die Frage des Zugangs zur Macht für Frauen ein. So erwähnt er etwa, dass nur wenig mehr als ein Zehntel der Kandidierenden für das Unterhaus bei der ersten Parlamentswahl 2005 Frauen waren. Wünschenswert wäre jedoch gewesen, wenn der Effekt der Marginalisierung von Frauen durch die politischen Netzwerke genauer analysiert worden wäre – denn es lässt sich vermuten, dass das von den internationalen Akteuren propagierte Ziel der Stärkung der Frauenrechte enger hätte verknüpft werden müssen mit den Bemühungen um die Stärkung der formalen politischen Institutionen des Landes.
Zu loben ist, dass Sharan dank seiner intimen Kenntnisse der afghanischen Regierungsarbeit, der internationalen Akteure in Afghanistan wie auch der parastaatlichen Akteure wie den Strongmen die Leser*innen detailliert in die politischen Verhältnisse des zentralasiatischen Landes einzuführen vermag. Er macht verständlich, warum die Verteidigung der republikanischen Ordnung gegen die Taliban angesichts der Abhängigkeit des Staates von internationalen Zahlungen, deren Fortführung über den militärischen Abzug hinaus ungewiss schien, von vornherein unwahrscheinlich war. Auch die von ihm verständlich geschilderte Abhängigkeit der formalen Institutionen von personalen Netzwerken, deren Zusammenwirken nur durch permanentes Aushandeln möglich war und zusätzlich oft das Einwirken internationaler Akteur*innen erforderlich machte, zeigt die jahrzehntelang bestehende Fragilität der staatlichen Ordnung gut nachvollziehbar auf.
Die Detailfülle ist aber auch ein Nachtteil: Bisweilen dürften sich Leser*innen weniger verwirrende Darstellungen von Personenkonstellationen, die auf der Mikroebene anzusiedeln sind, wünschen. Dafür wären ausführlichere Darlegungen zu den auf der Meso- und Makroebene angesiedelten Herausforderungen des afghanischen Staates wünschenswert gewesen – auch mit Seitenblicken auf andere Fälle fragiler Staaten, die sich auch in eine »single case study« integrieren lassen. Die in zahlreichen Schaubildern und Tabellen dargestellten persönlichen Verbindungen der maßgeblichen Akteur*innen dürften sich Menschen, denen eine detaillierte Kenntnis des Landes fehlt, kaum einprägen – zudem sind diese unübersichtlich und in kleiner, schwer lesbarer Schrift verfasst. An im Text stehengebliebenen Kommentaren eines unbekannten Lektors wird deutlich, dass nicht nur dieser die verwirrende Detailtiefe beklagt (»It sounds a bit too insider-y here.”, S. 137), sondern auch der Autor selbst ein wenig den Überblick verloren zu haben scheint und so die im Text verstreuten Lektoratskommentare nicht mehr finden konnte.
Sharans Analyse, dass es den staatlichen Institutionen in Afghanistan an Inklusivität und der Möglichkeit zur Teilhabe der Bevölkerung fehlte, deckt sich mit den Ergebnissen aktueller Forschung.[8] Der Blick auf die politischen Netzwerke erfasst die Entwicklung in Afghanistan sicher nicht vollständig – auch der Blick auf die ideologische Attraktivität der Taliban bleibt weiter notwendig, um ihren Erfolg zu erklären. Festzuhalten ist allerdings, dass in Afghanistan die Mehrheit der Bevölkerung trotz der westlichen Intervention nie die Möglichkeit einer echten politischen Partizipation hatte. Das Wiedererstarken der Taliban kann somit nicht mit den ideologischen Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit erklärt werden. Entgegen der Annahme zu Beginn dieses Textes erlaubt die Analyse des Scheiterns der afghanischen Republik somit kaum Rückschlüsse auf die Einstellung der aus Afghanistan nach Deutschland eingewanderten Muslim*innen zur liberalen Demokratie, da sie in ihrer alten Heimat mit dieser faktisch noch keine Erfahrungen sammeln konnten. Doch kann man bei Sharan lernen, dass gerade der Versuch westlicher Akteure, mit Verweis auf vermeintliche kulturelle Unterschiede die Einbindung korrupter Netzwerke zu tolerieren oder gar zu fördern, gleichzeitig aber weiter das Ideal der liberalen Demokratie zu predigen, zu einem Glaubwürdigkeitsverlust westlichen Handels geführt hat und die neu geschaffene Ordnung angesichts der massiven Differenz von propagierten Normen und politischer Praxis illegitim erscheinen ließ.
Literatur:
Bilodeau, Antoine/McAllister, Ian/Kanji, Mebs: Adaptation to Democracy among Immigrants in Australia, in: International Political Science Review, Jg. 31 (2010), H. 2, S. 141–165, https://doi.org/10.1177/0192512110364737.
Bizhan, Nematullah: Building legitimacy and state capacity in Afghanistan, in: ders.: State Fragility. Case Studies and Comparisons, Abdington 2023, S. 24–63, http://doi.org/10.4324/9781003297697-2.
Chang, Alex/ Tang, Yen-Chen: Dual Defection Incentives in One System: Party Switching under Taiwan’s Single non-transferable Vote, in: Japanese Journal of Political Science, Jg. 16 (2015), H. 4, S. 489–506, https://doi.org/10.1017/S1468109915000274.
Sharan, Timor: Inside Afghanistan. Political Networks, Informal Order, and State Disruption. Abdington 2023.
[1] Vgl. bspw. Bilodeau, Antoine/McAllister, Ian/Kanji, Mebs: Adaptation to Democracy among Immigrants in Australia, in: International Political Science Review, Jg. 31 (2010), H.2, S. 141–165, https://doi.org/10.1177/0192512110364737.
[2] Sharan, Timor: Inside Afghanistan. Political Networks, Informal Order, and State Disruption, Abdington 2023, S. 240.
[3] Wenn im Folgenden Seitenzahlen in Klammern angegeben sind, beziehen sie sich sämtlich auf Sharan, Timor: Inside Afghanistan.
[4] »Parcham« bedeutet »Fahne« und wurde nach einer gleichnamigen Publikation benannt, »Khalq« bedeutet »Volk« oder »Massen« (54).
[5] Der paschtunische Begriff bedeutet »große Versammlung«. Mit dem Begriff wird an eine Tradition von Versammlungen in der afghanischen Geschichte angeknüpft, die zur Klärung von nationalen Grundsatzfragen einberufen worden waren.
[6] Bei Wahlen nach dem SNTV-System, bei dem jede wahlberechtigte Person eine Stimme hat, können pro Wahlkreis mehrere Kandidierende ins Parlament einziehen – die für einen Wahlkreis festgelegte Zahl an Abgeordneten kann dabei variieren, vgl. Chang, Alex/ Tang, Yen-Chen: Dual Defection Incentives in One System: Party Switching under Taiwan’s Single non-transferable Vote, in: Japanese Journal of Political Science, Jg. 16 (2015), H. 4, S. 489–506, hier S. 494, https://doi.org/10.1017/S1468109915000274.
[7] So kommen etwa Chang und Tang am Beispiel Taiwans zu dem Ergebnis, dass das SNTV-System auch in einer liberalen Demokratie vor allem den innerparteilichen Wettbewerb befördert und sowohl für populäre Mandatsinhaber*innen als auch für solche, die es mit einem knappen Ergebnis ins Parlament geschafft haben, Anreize schaffe, die Parteizugehörigkeit zu wechseln, vgl. Chang/Tang: Dual Defection, S. 502.
[8] Siehe beispielhaft Bizhan, Nematullah: Building legitimacy and state capacity in Afghanistan, in: ders.: State Fragility. Case Studies and Comparisons, Abdington 2023, S. 24–63, hier S. 56 f., http://doi.org/10.4324/9781003297697-2.