Vom Neonazi zum MuǧāhidDer Fall des „Northeimer Salafisten“ Sascha L. und die Parallelen zwischen dschihadistischem und rechtsradikalem Extremismus
»Terrorverdächtiger festgenommen! – Sascha L. (26) wollte Polizisten in die Luft sprengen«[1], prangt es am 23. Februar 2017 in der BILD-Zeitung. Zwei Tage zuvor war L. in Northeim verhaftet worden. Schon wird von der »Salafisten-Hochburg Niedersachsen«[2] gesprochen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch unklar ist, ob Sascha L. Teil eines Terrornetzwerkes sein könnte. Das Gerichtsverfahren über die Anklage wegen der »Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz«[3] erstreckte sich vom 20. September bis zum 18. Dezember 2017 über insgesamt 14 Prozesstage. Seinen drei Mitangeklagten wird »Beihilfe zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat in Tateinheit mit unerlaubten Umgang mit explosionsgefährlichen Stoffen«[4] vorgeworfen. Etwa dreißig Zeugen wurden gehört, mehr als 3.100 Seiten Akten gefüllt.
Die Anhörung findet im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Braunschweig statt. Zu Beginn des Verhandlungstages öffnet sich die Tür hinten rechts im Raum, Richter und Schöffen treten ein und das Geräusch von Hand- und Fußketten verrät das Herannahen der Angeklagten. Nur Wladislav S. (21) betritt den Raum durch den Besuchereingang, zumindest zu Beginn des Prozesses. Etwa zur Hälfte des Strafverfahrens werden die beiden Mitangeklagten Masie S. (27) und Alpaslan Ü. (27) aus der Untersuchungshaft entlassen, da sich aus der Hauptverhandlung kein dringender Tatverdacht ergeben hatte und sie zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als sieben Monate in der JVA verbracht haben. Sascha L. und Masie S. sitzen an der rechten Seite des Raumes, hinter ihnen eine schwarze Wand aus Sicherheitsbeamten in voller Montur. Alpaslan Ü. und Wladislav S. sitzen den Richtern zugewandt, neben jedem der vier ein Anwalt.
In erster Linie werden Polizeibeamte in den Zeugenstand gerufen, die an dem Untersuchungsverfahren beteiligt gewesen sind. Ihre Berichterstattung bezüglich der Fundsachen, der Ermittlungen und der gezogenen Schlüsse fällt fast immer deckungsgleich aus. Deutlich interessanter für den Beobachter sind Aussagen von Familienangehörigen, Bewährungshelfern und Sozialarbeitern. Natürlich auf die Natur des Verfahrens zugeschnitten und dadurch notwendig unvollständig, geben sie aufschlussreiche Einblicke in das Leben und den Charakter der Angeklagten – Informationen, die Forschern und der Öffentlichkeit sonst kaum zugänglich sind.
Und so entsteht ein Bild von Sascha L.: Ein ehemaliger Neonazi aus Berlin-Neukölln, mehrmals vorbestraft, Vater zweier Kinder aus zwei gescheiterten Beziehungen und ohne Sorgerecht, nach eigenen Angaben 2014 zum Islam konvertiert, nun angeklagt, weil er im Namen Allahs einen Anschlag auf deutsche Staatsdiener geplant habe.
Bis zu seiner Konversion verbreitete er noch als »Peter Unsterblich« mit der rechtsextremen Szene verbundene Inhalte über diverse Profile auf YouTube und Facebook. Seine Ex-Freundin und Mutter seines Sohnes sagt aus, dass sie ihn damals – etwa 2013 – »als Nationalsozialisten«[5] über das Internet kennengelernt habe. Aufgrund seines wachsenden Interesses am Islam habe er versucht, sie und ihre gemeinsamen Szenefreunde davon zu überzeugen, dass der »Islam zum Nationalsozialismus gehört«[6]. Das sei aber »nicht gut angekommen«[7], weshalb er sich nach und nach selbst aus dem Freundeskreis ausgeschlossen habe. Weiter sagt sie: »Es war nicht mehr möglich, zu ihm durchzukommen, da war er komplett dicht« [8]. Er habe sich viel über Videos bekannter Prediger wie Pierre Vogel oder »Abu Walaa« – dessen Prozess zeitgleich mit L.s Verhandlung vor dem Oberlandesgericht in Celle stattfindet[9] – informiert, Bücher über den Islam gelesen und »mit Muslimen geskyped«[10]. Den Ermittlern blieb aber unbekannt, ob er regelmäßig eine Moschee besucht oder auch nur gemeinsam mit anderen Muslimen gebetet habe; von einem lokalen Netzwerk könne also nach derzeitigem Kenntnisstand nicht die Rede sein.
L. berichtet, dass er sich innerhalb von zwei Wochen über YouTube-Kurse Arabisch beigebracht habe, zunächst, um anāšīd[11] (Anaschid) zu verstehen, dann, um den Qurʾān (Koran) lesen zu können. Rasch hatte er Administrator-Positionen in diversen muslimischen Facebook-Gruppen inne, u.a. in einer Online-Heiratsvermittlung. L. scheint im Islam einen Weg gefunden zu haben, seine Autorität unter Beweis stellen zu können, indem er im Netz selbstbewusst Fragen zum Koran beantwortet und sich in der Position sieht, andere gläubige Muslime bezüglich ihrer Lebensweisen zu belehren. So bekam ein Mädchen, das im Prozessverlauf auch als Zeugin gehört wurde, von ihm zu hören, sie sei eine »Schlampe«[12], da sie kein Kopftuch trage. Hier, wie auch in vielen anderen Momenten des Prozesses, wird das starke Geltungsbedürfnis Sascha L.s deutlich. Es könnte ein Versuch sein, sich von der Masse abzuheben, seine Position in der Gesellschaft (scheinbar) aufzubessern und Handlungsmacht zurückzugewinnen; ob nun einstmals mithilfe seines – recht gut frequentierten[13] – rechtsgerichteten YouTube-Kanals oder später dann als vermeintlicher Kopf hinter den Anschlagsplänen der Gruppe. Denn seine virtuelle Selbstpräsentation steht im Kontrast zu seinem bislang eher erfolglosen Lebensweg: Seine Bewährungshelferin aus einer früheren Vorstrafe berichtet von L.s Vergangenheit mit Drogenkonsum, Depressionen, Essstörungen, längeren Phasen der Arbeitslosigkeit, zwischenzeitlicher Unterbringung in Obdachlosenunterkünften und hohen Schulden. Der Vater habe seine Mutter geschlagen (auch L.s Vorstrafe erfolgte wegen Körperverletzung gegen seine damals schwangere Freundin). Noch während der Schulzeit zog er in einer Jugend-WG mit »anderen Problemfällen«[14] zusammen, schmiss die Realschule und wurde mit 19 Jahren zum ersten Mal Vater.
Im Juli 2016 fiel L. der Polizei erstmals als radikaler Konvertit auf. Er habe ein Video geteilt, auf dem die Fahne des »Islamischen Staates« (IS) zu sehen war, und musste eine Geldstrafe zahlen. In diesem Ermittlungszusammenhang wurde L.s Wohnung in Northeim durchsucht und sein PC samt Handy konfisziert. Beides habe er allerdings nach kurzer Zeit wiederbekommen. Es sei (noch) nichts Auffälliges gefunden worden, was auf eine dschihadistische Radikalisierung schließen lassen würde; auf dem PC habe sich neben »islamischer Musik«[15] vordergründig grenzwertiges rechtsextremistisches Gedankengut befunden. L. sagt aus, dass ihn diese Durchsuchung und das Einbehalten seiner elektronischen Geräte von der »Ungerechtigkeit«[16] des deutschen Justizwesens überzeugt hätten und er sich deswegen zunehmend radikalisiert habe; man habe hier, statt das Gespräch mit ihm zu suchen, »mit Kanonen auf Spatzen«[17] geschossen.
Endgültig aufhorchen ließ die Polizei L.s Verhalten Anfang 2017. Er habe bei einer internationalen Hilfsorganisation mehrmals angefragt, ob sie ihm beim Vollzug der hiǧra[18] (Hidschra) behilflich sein könnte. Er wolle in Syrien oder im Irak humanitäre Hilfe leisten und als gläubiger Muslim unter der šarīʿa (Scharia) leben. Ab diesem Zeitpunkt wurde eine Kommunikationsüberwachung eingerichtet. Nachdem ein Telefonat L.s mit einem Elektroniklieferanten über den richtigen Zusammenbau eines Fernzünders abgehört worden war und die Post die Ermittler über die Lieferung einer Lichterkette benachrichtigt hatte, welche sich Spezialisten zufolge als Auslöser für den Zünder eigne, wurde L.s Wohnung am 21. Februar 2017 erneut durchsucht. Als tatsächlich mehrere Bestandteile für den Bau einer TATP-Bombe[19] gefunden wurden, erfolgte schließlich der Haftbefehl und L. wurde auf die Polizeistation Northeim-Osterode gebracht. Bei der anschließenden ersten Beschuldigtenvernehmung habe der Angeklagte umfassend ausgesagt, was sich mildernd auf sein Strafmaß ausgewirkt habe. Er habe von einer Probesprengung Anfang Januar berichtet, von der später noch ein Amateurvideo (gefilmt vom Mitangeklagten Wladislav S.) auf seinem Handy gefunden werden wird. Laut eines Beamten der Kriminalpolizei habe L. überzeugend Reue gezeigt und ausgesagt, dass er schon vor seiner Verhaftung Abstand von seinen Anschlagsplänen genommen habe, vielmehr Hilfe beim Ausstieg aus der Szene suche. Jedoch: Das Bild des verlorenen Sohnes beginnt während des Prozesses zu bröckeln, die Kammer wird seine angebliche Distanzierung vom IS bei der Urteilsverkündung schließlich als »nicht glaubhaft«[20] bewerten.
Bis zu seiner Inhaftierung ging es den Ermittlern nur um Sascha L. Doch im April 2017 meldet sich der 15-jährige Alan B., dessen Bruder 2016 an dem dschihadistisch motivierten Anschlag auf den Sikh-Tempel in Essen beteiligt war, beim Staatsschutz in Bielefeld. Er sagt aus, dass er Mitwisser des von L. geplanten Bombenangriffs sei. Er habe L. 2016 in einer Facebook-Gruppe kennengelernt, später mit ihm privat über den Messengerdienst Telegram – laut L. ein sichereres Kommunikationsmedium – über den Islam gesprochen und einen Gleichgesinnten in ihm gefunden. Es habe eine von L. geleitete Telegram-Gruppe existiert, in der auch die Mitangeklagten gewesen seien und in der über die Anschlagspläne diskutiert worden sei. Wenige Tage nach B.s Aussage wurden Alpaslan Ü. (Köln) und Masie S. (Bünde) verhaftet, Ende des Monats folgte der Haftbefehl gegen Wladislav S. (Katlenburg-Lindau).
Nun sitzen die vier nebeneinander auf der Anklagebank. Wladislav S. fällt nicht nur aufgrund seines Aussehens gleich am zweiten Prozesstag aus der Reihe. Den nationalsozialistischen Chefideologen Alfred Rosenberg zitierend und darüber seinen tiefgreifenden Antisemitismus erklärend, stellt sich S. als »bekennender Nationalsozialist«[21] vor – sein Verteidigungsargument, warum er rein ideologisch betrachtet kein Interesse an einem dschihadistisch geprägten Anschlag gehabt haben könnte. Er kenne Sascha L. noch aus früheren »politischen Projekten« und habe zwischenzeitlich bei ihm gewohnt, das sei alles. Doch vielleicht ist die in Sascha L. gegebene und von Wladislav S. so selbstverständlich abgelehnte Vermischung von Ideologieelementen des Nationalsozialismus und des dschihadistischen Islamismus gar nicht so ungewöhnlich, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Eine Frage, die sich – blickt man auf seine vom Richter verlesenen Google-Suchanfragen – auch Wladislav S. gestellt haben könnte, suchte dieser doch etwa nach »Nazis und Muslime« oder »NS und IS«[22].
Auch in der Wissenschaft wird seit einigen Jahren über die Verbindung von dschihadistischem Islamismus und Rechtsextremismus diskutiert. Parallelen zwischen den beiden Bewegungen lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: Merkmale der Ideologie, Ausprägungen ihres Feindbildes und Art und Weise der Rechtfertigung ihrer Taten. Sowohl beim IS als auch bei Rechtsextremisten lasse sich ein regelrechter »Kult der Gewalt«[23] feststellen, der mit einer zunehmenden Verrohung der Gefolgschaft und Entmenschlichung des erklärten Feindes einhergehe.[24] Es könne bei ersteren fast von einer künstlerischen Inszenierung der Gewalt, einer Ästhetisierung des Todes, die Rede sein. Vergleichbare rechte »politische Ästhetik«[25] wiederum, wie es sie bspw. im Nationalsozialismus gab, drücke sich heute vor allem in szenetypischer Musik aus[26] – die auch auf L.s PC gefunden wurde. Sascha L. plante seinen Anschlag als inszenierten Propaganda-Akt, der für zukünftige IS-Werbevideos aufwendig gefilmt werden und somit weit über seine lokale Wirkung hinausgehen sollte. In einer Audiodatei an seinen Mitangeklagten Alpaslan Ü. klingt er mehr als euphorisch, wenn er davon spricht, dass er sich auf den Anschlag freue, »wie ein Kind auf Weihnachten«[27]. Er lacht auf bei der Vorstellung, Polizisten durch das Attentat in Angst und Schrecken zu versetzen, und fabuliert über mögliche stylishe Outfits, die »Angst in ihre Herzen«[28] bringen würden. Der Gedanke an die auf den Anschlag folgende Medienberühmtheit lässt keinen Platz für Mitleid mit den Opfern, die zuvor als »Ungläubige«[29] klassifiziert worden sind und somit ohnehin als unterlegen gelten.
Auch verlange es beiden Bewegungen nach einer charismatischen, starken Führerfigur an der Spitze einer neuen Elite, die ihre Interessen vereine und die (quasi-)religiöse Gefolgschaft in Form einer militarisierten Massenbewegung in eine neue Ordnung führe.[30] L. selbst hat den Treueschwur des IS abgelegt und dessen Anführer Abu Bakr al-Baghdadi als Kalifen anerkannt. Er spricht in einer weiteren Audioaufnahme davon, dass alle Muslime, die diesen Eid nicht leisteten, ebenso abzuschlachten seien wie die »Ungläubigen«.
Hinzu kämen Helden- und Märtyrermythen und eine damit einhergehende Verherrlichung des Todes. Die Affinität des Rechtsextremismus zu nordischen Riten und eine heldenhafte Verehrung »des Führers« sind bekannt. Und wenn sich einerseits der Todeskult bei dschihadistischen Islamisten in einer gewissen Todessehnsucht durch den Einsatz von Selbstmordattentätern artikuliert, so werden andererseits auch heute noch landesweit regelmäßig Demonstrationen organisiert, die an die Todestage Hitlers, Heß’ oder anderer hochrangiger Nationalsozialisten erinnern. Beiden ist gemein, dass ihr angestrebtes Ziel, ihre ideale Welt, nur durch eine gewaltsame Revolution (wieder-)hergestellt werden kann. Das verlange Aufopferung von ihren Anhängern, teilweise bis zum Tod.[31] Sascha L.s Ziel schien zwar nicht gewesen zu sein, selbst bei dem Anschlag zu sterben, doch betont er in einer Sprachnachricht, die Anschläge in Deutschland solle man »feiern, denn sie [die Attentäter] sind für uns als Märtyrer gestorben«[32].
Auch in Bezug auf die Rechtfertigung gibt es Parallelen zwischen rechtsextremistisch und dschihadistisch motivierten Taten. Sie zeichnen sich zumindest nach außen hin durch eine ausgeprägte Ablehnung von Demokratie und Liberalismus aus, jene Werte, für die »der Westen« sinnbildlich steht.[33] L. wollte Deutschland – dem »Willkürstaat«, dem »satanischen System«[34] – den Rücken kehren, um unter der Scharia zu leben, obwohl es ihm nach eigenen Angaben nicht um eine Islamisierung Europas gegangen sei. Verachtung von Modernismus, Amerikanismus und auch Zionismus einen darüber hinaus die beiden Bewegungen, insbesondere der für alle Komponenten sinnbildlich stehende gemeinsame ›Feind‹, die USA. Dschihadisten schreiben ihnen und ihrem Neokolonialismus die derzeitige missliche Lage der Muslime weltweit zu; in der rechtsextremen Szene stehen die Vereinigten Staaten für »Dekadenz, Nivellierung und Vermassung«[35], welche die völkische bzw. ethnische Identität zu vernichten drohten. Modernisierung und Globalisierung brächten neue Normen und Werte, die nicht nur die Souveränität der Religion bedrohten, sondern auch die der Nationalstaaten.[36] Antizionismus führe zu einer Solidarisierung verschiedener rechter Gruppen mit islamistischen Bewegungen gegen den angeblich USA-gesteuerten »Staatsterrorismus Israels«[37]. Am zentralsten für die dschihadistische Bewegung ist jedoch ein aus alldem entspringendes Gefühl der Demütigung durch den Westen, der den Islam in eine Krise gestürzt habe. Vor allem Gebietsverluste – insbesondere nach der Niederlage im Sechstagekrieg – sowie ein Gefühl der Fremdbestimmung arabischer Regierungen spielten dabei eine Rolle. Obendrein werde die als vom Westen aufgedrängt empfundene Säkularisierung in arabischen Ländern als Angriff auf die Grundfesten des islamischen Glaubens verstanden: die über dem Staat stehende Religion.[38] Radikalisierte hierzulande spürten aufgrund ihrer Verbundenheit zum Islam diese Demütigung, als wäre sie ihnen persönlich widerfahren.[39] In der globalen »Neo-Umma«[40] entstehe ein Hass auf westliche Strukturen und Staatsdiener, der oft durch persönliche negative Erfahrungen mit Vertretern des Staates unterstrichen werde, wie auch im Falle Sascha L.s. Daraus entstehe der Wunsch nach Rache, befeuert durch die vielzähligen Demütigungen, die Muslimen – tatsächlich oder wahrgenommen – andernorts widerfahren sei. Die Opferrolle, in die sich beide Bewegungen durch empfundene Erniedrigungen und Souveränitätsbeschneidungen gedrängt fühlten, eigne sich wiederum hervorragend, um ihre Anhänger davon zu überzeugen, dass im Kampf gegen ihre Feinde alle Mittel erlaubt seien.[41]
Konkret wird der Hass in seiner Manifestierung im Antisemitismus und in Verbindung mit Verschwörungstheorien insbesondere in Bezug auf Juden.[42] Laut L.s Aussagen seien alle Staatsvertreter »Judendiener«[43], dem gesamten Rechtssystem in Deutschland sei nicht zu trauen, selbst im laufenden Prozess würden »Inhalte [seiner Aussagen] verdreht«[44] und am Ende gebe es immer genügend Beweise, die seine Schuld belegten, egal, ob er nun schuldig sei oder nicht. »Der Jude« hat als Figur eine lange Tradition der Personalisierung als Drahtzieher hinter abstrakten Herrschaftsprozessen und wird von Dschihadisten und Rechtsradikalen aus zweierlei Gründen verachtet: als Vertreter einer als minderwertig klassifizierten Bevölkerungsgruppe, aber gleichzeitig auch als übermächtiger Feind, der im Weltgeschehen scheinbar überall seine Finger im Spiel habe.[45]
Ein fundamentaler Gegensatz beider Ideologien bleibt zwar vermeintlich unvereinbar, verläuft im Grunde jedoch in ähnlichen Bahnen: die jeweilige Rechtfertigung der Überlegenheit der eigenen Ingroup. Auf der einen Seite die »Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit«[46], gekennzeichnet durch eine empfundene Prävalenz der eigenen Rasse, die alle Außenstehenden zu Minderwertigen bestimme und einen Wechsel vom Dschihadismus zum Rechtsextremismus zumindest für gebürtige Muslime aufgrund ihrer Herkunft quasi unmöglich mache; auf der anderen Seite die Superiorität durch den vermeintlich »wahren Glauben« und damit die Zugehörigkeit zur Umma (muslimische Gemeinschaft), die alle Außenstehenden als kuffār (Ungläubige) diffamiere[47] – den Seitenwechsel eines vormals rechtsradikalen »Herkunftsdeutschen«[48] durch Konversion jedoch nicht ausschließe.
Sascha L.s Wandlung vom Neonazi zum Dschihadisten ist zwar für den Forscher faszinierend, war für den Prozess und die Urteilsfindung allerdings nur am Rande von Bedeutung. L. wird zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt, Alpaslan Ü.s einjährige Haftstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt, Wladislav S. werden hundert Arbeitsstunden verordnet und Masie S. wird freigesprochen. Doch irgendwie fühlt sich das Ganze mit der Urteilsverkündung nicht wie abgeschlossen an. Es stellt sich die Frage, was nun folgt. Setzt Sascha L. im Gefängnis seine schon vorweg eifrig bekundete Distanzierung vom IS fort oder radikalisiert er sich vielmehr weiter? Noch während des Prozessverlaufs wird Sascha L. ermahnt, weil er eine selbstgemalte IS-Flagge an seine Zellenwand gehängt hat; ein Polizeihauptkommissar erzählt im Zeugenstand, L. werde in der Justizvollzugsanstalt von anderen Muslimen nur als »Bruder« angesprochen und gelte »als König«, wahrscheinlich »weil er was vorbereitet hat, das sie als achtenswert betrachten«.[49] Und: Würde es überhaupt einen Unterschied machen, wenn er doch entweder zu Unrecht beschuldigt wurde, sich nicht ausreichend distanziert zu haben, und durch diese erneute Ungerechtigkeit nun ein vielleicht viel größeres Radikalisierungspotenzial in sich trägt – oder er sich eben tatsächlich nicht vom IS und seinen Plänen abgewandt hat und mögliche Radikalisierungsversuche somit auf fruchtbaren Boden fallen?
Denn: Gefängnisse gelten auch in Deutschland als Orte der Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar beschreibt sie als »Zwangsgemeinschaft verurteilter oder auf das Urteil wartender Individuen […], die oft ein gespanntes Verhältnis zur Gesellschaft haben und unter sozialer Frustration, wirtschaftlicher Exklusion oder kultureller Stigmatisierung leiden«[50] und den Islam, der zur »Religion der Unterdrückten«[51] geworden sei, als möglichen Halt sehen. Er unterscheidet im Gefängnis zwei Typen: die »Radikalisierer« und die »Radikalisierten«[52]. Letztere seien häufig durch ihre im Gefängnis verstärkte psychische Labilität ein leichtes Ziel für Radikalisierer. Aus dem, was im Prozess deutlich wurde, hätte L. Potenzial zu beidem. Sein Geltungsbedürfnis könnte ihn zu Ersterem machen, seine schon zuvor auftretenden psychischen Probleme könnten zu Letzterem führen. Obwohl es in deutschen Gefängnissen immer mehr Deradikalisierungsprogramme gibt und eine größer werdende Zahl an Imamen als Gefängnisgeistliche eingesetzt werden, scheint ihre Anzahl aber dennoch zu gering. Das erleichtere Radikalisierern, sich als selbsterklärte geistige Führer zu etablieren und die »Sakralisierung des Hasses«[53] mit ihren eigenen Qurʾān-Auslegungen voranzutreiben. Trotz vielversprechender Modellprojekte zur Deradikalisierung und Radikalisierungsprävention sowie neuer pädagogischer Ansätze, Programme und Multiplikatorenschulungen, wie z.B. das »Violence Prevention Network«, ist das Gefängnis – und das ist am Ende des Prozesses gewiss – mitnichten ein Ort für eine garantierte Abkehr vom Extremen.
[1] Keim, K./Tunnat, F, in: BILD Zeitung, URL: http://www.bild.de/news/inland/festnahme/sascha-l-wollte-polizisten-in-die-luft-sprengen-50575676.bild.html [eingesehen am 31.01.2018].
[2] O.V.: Nach Festnahme von Sascha L. (26) in Northeim. Salafisten-Hochburg Niedersachsen, in: BILD Zeitung, URL: http://www.bild.de/regional/hannover/festnahme/in-northeim-salafisten-hochburg-niedersachsen-50584724.bild.html [eingesehen am 31.01.2018].
[3] O.V.: Verhandlung über Anklage wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, in: Landgericht Braunschweig, URL: https://www.landgericht-braunschweig.niedersachsen.de/aktuelles/presseinformationen/verhandlung-ueber-anklage-wegen-vorbereitung-einer-schweren-staatsgefaehrdenden-gewalttat-157184.html [eingesehen am 31.01.2018].
[4] Ebd.
[5] Aussage vom 8. Prozesstag, 20.11.2017.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Siehe dazu den Beitrag von Lino Klevesath in diesem Heft.
[10] Aussage vom 8. Prozesstag, 20.11.2017.
[11] Ursprünglich religiös-islamische Gesänge, in der Regel auf Arabisch vorgetragen, inzwischen beliebtes, verschiedensprachiges Stilmittel in dschihadistischen Propagandavideos; vgl. Said, Benham: Hymns (Nasheeds). A Contribution to the Study of the Jihadist Culture, in: Studies in Conflict & Terrorism, Jg. 35 (2012), H. 12, S. 863–879, hier S. 864.
[12] Aussage vom 10. Prozesstag, 04.12.2017.
[13] Seine Videos haben zwischen 800 und 6.800 Klicks (URL: https://www.youtube.com/channel/UC4LTSClO8XmRJ8WCgisEAbA).
[14] Aussage vom 10. Prozesstag, 04.12.2017.
[15] Aussage vom 4. Prozesstag, 06.11.2017.
[16] Aussage vom 3. Prozesstag, 18.10.2017.
[17] Aussage vom 4. Prozesstag, 06.11.2017.
[18] Historisch beschreibt hiǧra die Emigration des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina, heute ist damit meist die Ausreise in ein muslimisches »Herrschaftsgebiet« (dār al-islām) gemeint, die einige Gelehrte als Pflicht für Muslime betrachten, die auf nicht-islamischem Territorium (dār al-ḥarb) leben; vgl. Tottoli, Roberto: Dār al-islām / dār al-ḥarb in the Tafsīr by Ibn Jarīr al-Ṭabarī and in Early Traditions, in: Lancioni, Giuliano/Calasso, Giovanna (Hrsg.): Dār al-islām / dār al-ḥarb. Territories, People, Identities, Boston 2017, S. 108–124, hier S. 108 ff.
[19] Triacetontriperoxid hat laut einem im Prozessverlauf befragten Sprengstoffexperten etwa sechzig Prozent der Sprengkraft von TNT. Die Materialbeschaffung ist vergleichsweise einfach, die Herstellung für Laien jedoch umso riskanter.
[20] Aussage vom 14. Prozesstag, 18.12.2017.
[21] Aussage vom 2. Prozesstag, 12.10.2017.
[22] Ebd.
[23] Vgl. Priester, Karin: Warum Europäer in den Heiligen Krieg ziehen. Der Dschihadismus als rechtsradikale Jugendbewegung, Frankfurt 2017, S. 255; vgl. auch Jaschke, Hans-Gerd: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe – Positionen – Praxisfelder, Wiesbaden 2001, S. 83.
[24] Vgl. Charters, David A.: Something Old, Something New …? Al Qaeda, Jihadism, and Fascism, in: Terrorism and Political Violence, Jg. 19 (2007), H. 1, S. 65–93, hier S. 81; Priester, S. 248 ff.
[25] Jaschke, S. 82 f.
[26] Vgl. ebd.
[27] Aussage vom 7. Prozesstag, 15.11.2017.
[28] Aussage vom 10. Prozesstag, 04.12.2017.
[29] Aussage vom 2. Prozesstag, 12.10.2017.
[30] Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Ideologien des islamistischen, linken und rechten Extremismus in Deutschland. Eine vergleichende Betrachtung, in: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Gefährdungen der Freiheit. Extremistische Ideologien im Vergleich, Göttingen 2006, S. 205–222, hier S. 211; Priester, S. 249.
[31] Vgl. Priester, S. 255 sowie S. 271 f.
[32] Aussage vom 6. Prozesstag, 13.11.2017.
[33] Vgl. Priester, S. 254 ff.; Pfahl-Traughber, S. 214.
[34] Aussage vom 2. Prozesstag, 12.10.2017.
[35] Pfahl-Traughber, S. 214.
[36] Vgl. ebd., S. 215; Dantschke, Claudia: Zwischen Feindbild und Partner. Die extreme Rechte und der Islamismus, in: Braun, Stephan et al. (Hrsg.): Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009, S. 440–460, hier S. 446.
[37] Dantschke, S. 446.
[38] Vgl. Charters, S. 70.
[39] Vgl. Khosrokhavar, Farhad: Radikalisierung, Bonn 2016, S. 52.
[40] Neuartige, radikalislamistische Idee einer Gemeinschaft aus muslimischen Gläubigen, die nicht mehr nur auf lokaler/nationaler Ebene solidarisiert, sondern alle Muslime weltweit umfasst und ihren historischen Ursprung in den salaf sieht, den Gefährten des Propheten (Khosrokhavar, S. 27).
[41] Vgl. ebd., S. 52; Pfahl-Traughber, S. 215.
[42] Vgl. Pfahl-Traughber, S. 206 f.; Charters, S. 78; Dantschke, S. 447.
[43] Aussage vom 4. Prozesstag, 06.11.2017.
[44] Aussage vom 2. Prozesstag, 12.10.2017.
[45] Vgl. Pfahl-Traughber, S. 206 f.; Dantschke, S. 447; Priester, 2017, S. 272 ff.
[46] Pfahl-Traughber, S. 212 f.
[47] Ebd., S. 219 f.
[48] Dantschke, S. 442.
[49] Aussage vom 4. Prozesstag, 06.11.2017.
[50] Khosrokhavar, S. 183.
[51] Ebd., S. 185.
[52] Ebd., S. 183.
[53] Ebd., S. 192.