Vom Neonazi zum MuǧāhidDer Fall des „Northeimer Salafisten“ Sascha L. und die Parallelen zwischen dschihadistischem und rechtsradikalem Extremismus
»Terrorverdächtiger festgenommen! – Sascha L. (26) wollte Polizisten in die Luft sprengen«[1], prangt es am 23. Februar 2017 in der BILD-Zeitung. Zwei Tage zuvor war L. in Northeim verhaftet worden. Schon wird von der »Salafisten-Hochburg Niedersachsen«[2] gesprochen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch unklar ist, ob Sascha L. Teil eines Terrornetzwerkes sein könnte. Das Gerichtsverfahren über die Anklage wegen der »Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz«[3] erstreckte sich vom 20. September bis zum 18. Dezember 2017 über insgesamt 14 Prozesstage. Seinen drei Mitangeklagten wird »Beihilfe zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat in Tateinheit mit unerlaubten Umgang mit explosionsgefährlichen Stoffen«[4] vorgeworfen. Etwa dreißig Zeugen wurden gehört, mehr als 3.100 Seiten Akten gefüllt.
Die Anhörung findet im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Braunschweig statt. Zu Beginn des Verhandlungstages öffnet sich die Tür hinten rechts im Raum, Richter und Schöffen treten ein und das Geräusch von Hand- und Fußketten verrät das Herannahen der Angeklagten. Nur Wladislav S. (21) betritt den Raum durch den Besuchereingang, zumindest zu Beginn des Prozesses. Etwa zur Hälfte des Strafverfahrens werden die beiden Mitangeklagten Masie S. (27) und Alpaslan Ü. (27) aus der Untersuchungshaft entlassen, da sich aus der Hauptverhandlung kein dringender Tatverdacht ergeben hatte und sie zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als sieben Monate in der JVA verbracht haben. Sascha L. und Masie S. sitzen an der rechten Seite des Raumes, hinter ihnen eine schwarze Wand aus Sicherheitsbeamten in voller Montur. Alpaslan Ü. und Wladislav S. sitzen den Richtern zugewandt, neben jedem der vier ein Anwalt.
In erster Linie werden Polizeibeamte in den Zeugenstand gerufen, die an dem Untersuchungsverfahren beteiligt gewesen sind. Ihre Berichterstattung bezüglich der Fundsachen, der Ermittlungen und der gezogenen Schlüsse fällt fast immer deckungsgleich aus. Deutlich interessanter für den Beobachter sind Aussagen von Familienangehörigen, Bewährungshelfern und Sozialarbeitern. Natürlich auf die Natur des Verfahrens zugeschnitten und dadurch notwendig unvollständig, geben sie aufschlussreiche Einblicke in das Leben und den Charakter der Angeklagten – Informationen, die Forschern und der Öffentlichkeit sonst kaum zugänglich sind.
Und so entsteht ein Bild von Sascha L.: Ein ehemaliger Neonazi aus Berlin-Neukölln, mehrmals vorbestraft, Vater zweier Kinder aus zwei gescheiterten Beziehungen und ohne Sorgerecht, nach eigenen Angaben 2014 zum Islam konvertiert, nun angeklagt, weil er im Namen Allahs einen Anschlag auf deutsche Staatsdiener geplant habe.
Bis zu seiner Konversion verbreitete er noch als »Peter Unsterblich« mit der rechtsextremen Szene verbundene Inhalte über diverse Profile auf YouTube und Facebook. Seine Ex-Freundin und Mutter seines Sohnes sagt aus, dass sie ihn damals – etwa 2013 – »als Nationalsozialisten«[5] über das Internet kennengelernt habe. Aufgrund seines wachsenden Interesses am Islam habe er versucht, sie und ihre gemeinsamen Szenefreunde davon zu überzeugen, dass der »Islam zum Nationalsozialismus gehört«[6]. Das sei aber »nicht gut angekommen«[7], weshalb er sich nach und nach selbst aus dem Freundeskreis ausgeschlossen habe. Weiter sagt sie: »Es war nicht mehr möglich, zu ihm durchzukommen, da war er komplett dicht« [8]. Er habe sich viel über Videos bekannter Prediger wie Pierre Vogel oder »Abu Walaa« – dessen Prozess zeitgleich mit L.s Verhandlung vor dem Oberlandesgericht in Celle stattfindet[9] – informiert, Bücher über den Islam gelesen und »mit Muslimen geskyped«[10]. Den Ermittlern blieb aber unbekannt, ob er regelmäßig eine Moschee besucht oder auch nur gemeinsam mit anderen Muslimen gebetet habe; von einem lokalen Netzwerk könne also nach derzeitigem Kenntnisstand nicht die Rede sein.
L. berichtet, dass er sich innerhalb von zwei Wochen über YouTube-Kurse Arabisch beigebracht habe, zunächst, um anāšīd[11] (Anaschid) zu verstehen, dann, um den Qurʾān (Koran) lesen zu können. Rasch hatte er Administrator-Positionen in diversen muslimischen Facebook-Gruppen inne, u.a. in einer Online-Heiratsvermittlung. L. scheint im Islam einen Weg gefunden zu haben, seine Autorität unter Beweis stellen zu können, indem er im Netz selbstbewusst Fragen zum Koran beantwortet und sich in der Position sieht, andere gläubige Muslime bezüglich ihrer Lebensweisen zu belehren. So bekam ein Mädchen, das im Prozessverlauf auch als Zeugin gehört wurde, von ihm zu hören, sie sei eine »Schlampe«[12], da sie kein Kopftuch trage. Hier, wie auch in vielen anderen Momenten des Prozesses, wird das starke Geltungsbedürfnis Sascha L.s deutlich. Es könnte ein Versuch sein, sich von der Masse abzuheben, seine Position in der Gesellschaft (scheinbar) aufzubessern und Handlungsmacht zurückzugewinnen; ob nun einstmals mithilfe seines – recht gut frequentierten[13] – rechtsgerichteten YouTube-Kanals oder später dann als vermeintlicher Kopf hinter den Anschlagsplänen der Gruppe. Denn seine virtuelle Selbstpräsentation steht im Kontrast zu seinem bislang eher erfolglosen Lebensweg: Seine Bewährungshelferin aus einer früheren Vorstrafe berichtet von L.s Vergangenheit mit Drogenkonsum, Depressionen, Essstörungen, längeren Phasen der Arbeitslosigkeit, zwischenzeitlicher Unterbringung in Obdachlosenunterkünften und hohen Schulden. Der Vater habe seine Mutter geschlagen (auch L.s Vorstrafe erfolgte wegen Körperverletzung gegen seine damals schwangere Freundin). Noch während der Schulzeit zog er in einer Jugend-WG mit »anderen Problemfällen«[14] zusammen, schmiss die Realschule und wurde mit 19 Jahren zum ersten Mal Vater.
Im Juli 2016 fiel L. der Polizei erstmals als radikaler Konvertit auf. Er habe ein Video geteilt, auf dem die Fahne des »Islamischen Staates« (IS) zu sehen war, und musste eine Geldstrafe zahlen. In diesem Ermittlungszusammenhang wurde L.s Wohnung in Northeim durchsucht und sein PC samt Handy konfisziert. Beides habe er allerdings nach kurzer Zeit wiederbekommen. Es sei (noch) nichts Auffälliges gefunden worden, was auf eine dschihadistische Radikalisierung schließen lassen würde; auf dem PC habe sich neben »islamischer Musik«[15] vordergründig grenzwertiges rechtsextremistisches Gedankengut befunden. L. sagt aus, dass ihn diese Durchsuchung und das Einbehalten seiner elektronischen Geräte von der »Ungerechtigkeit«[16] des deutschen Justizwesens überzeugt hätten und er sich deswegen zunehmend radikalisiert habe; man habe hier, statt das Gespräch mit ihm zu suchen, »mit Kanonen auf Spatzen«[17] geschossen.
Endgültig aufhorchen ließ die Polizei L.s Verhalten Anfang 2017. Er habe bei einer internationalen Hilfsorganisation mehrmals angefragt, ob sie ihm beim Vollzug der hiǧra[18] (Hidschra) behilflich sein könnte. Er wolle in Syrien oder im Irak humanitäre Hilfe leisten und als gläubiger Muslim unter der šarīʿa (Scharia) leben. Ab diesem Zeitpunkt wurde eine Kommunikationsüberwachung eingerichtet. Nachdem ein Telefonat L.s mit einem Elektroniklieferanten über den richtigen Zusammenbau eines Fernzünders abgehört worden war und die Post die Ermittler über die Lieferung einer Lichterkette benachrichtigt hatte, welche sich Spezialisten zufolge als Auslöser für den Zünder eigne, wurde L.s Wohnung am 21. Februar 2017 erneut durchsucht. Als tatsächlich mehrere Bestandteile für den Bau einer TATP-Bombe[19] gefunden wurden, erfolgte schließlich der Haftbefehl und L. wurde auf die Polizeistation Northeim-Osterode gebracht. Bei der anschließenden ersten Beschuldigtenvernehmung habe der Angeklagte umfassend ausgesagt, was sich mildernd auf sein Strafmaß ausgewirkt habe. Er habe von einer Probesprengung Anfang Januar berichtet, von der später noch ein Amateurvideo (gefilmt vom Mitangeklagten Wladislav S.) auf seinem Handy gefunden werden wird. Laut eines Beamten der Kriminalpolizei habe L. überzeugend Reue gezeigt und ausgesagt, dass er schon vor seiner Verhaftung Abstand von seinen Anschlagsplänen genommen habe, vielmehr Hilfe beim Ausstieg aus der Szene suche. Jedoch: Das Bild des verlorenen Sohnes beginnt während des Prozesses zu bröckeln, die Kammer wird seine angebliche Distanzierung vom IS bei der Urteilsverkündung schließlich als »nicht glaubhaft«[20] bewerten.
Bis zu seiner Inhaftierung ging es den Ermittlern nur um Sascha L. Doch im April 2017 meldet sich der 15-jährige Alan B., dessen Bruder 2016 an dem dschihadistisch motivierten Anschlag auf den Sikh-Tempel in Essen beteiligt war, beim Staatsschutz in Bielefeld. Er sagt aus, dass er Mitwisser des von L. geplanten Bombenangriffs sei. Er habe L. 2016 in einer Facebook-Gruppe kennengelernt, später mit ihm privat über den Messengerdienst Telegram – laut L. ein sichereres Kommunikationsmedium – über den Islam gesprochen und einen Gleichgesinnten in ihm gefunden. Es habe eine von L. geleitete Telegram-Gruppe existiert, in der auch die Mitangeklagten gewesen seien und in der über die Anschlagspläne diskutiert worden sei. Wenige Tage nach B.s Aussage wurden Alpaslan Ü. (Köln) und Masie S. (Bünde) verhaftet, Ende des Monats folgte der Haftbefehl gegen Wladislav S. (Katlenburg-Lindau).
Nun sitzen die vier nebeneinander auf der Anklagebank. Wladislav S. fällt nicht nur aufgrund seines Aussehens gleich am zweiten Prozesstag aus der Reihe. Den nationalsozialistischen Chefideologen Alfred Rosenberg zitierend und darüber seinen tiefgreifenden Antisemitismus erklärend, stellt sich S. als »bekennender Nationalsozialist«[21] vor – sein Verteidigungsargument, warum er rein ideologisch betrachtet kein Interesse an einem dschihadistisch geprägten Anschlag gehabt haben könnte. Er kenne Sascha L. noch aus früheren »politischen Projekten« und habe zwischenzeitlich bei ihm gewohnt, das sei alles. Doch vielleicht ist die in Sascha L. gegebene und von Wladislav S. so selbstverständlich abgelehnte Vermischung von Ideologieelementen des Nationalsozialismus und des dschihadistischen Islamismus gar nicht so ungewöhnlich, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Eine Frage, die sich – blickt man auf seine vom Richter verlesenen Google-Suchanfragen – auch Wladislav S. gestellt haben könnte, suchte dieser doch etwa nach »Nazis und Muslime« oder »NS und IS«[22].