Viren als Soldaten Gottes?Radikalislamische Akteure während der Corona-Krise
Die Affinität zu Verschwörungstheorien, die grundsätzliche Ablehnung der Verfasstheit säkularer Staaten wie auch Pauschalkritik gegen staatliche Amtsträger gehören bei radikalislamischen Akteuren wie Ahmad Amih (alias »Abul Baraa«) oder Yasin Bala (alias »Yasin al-Hanafi«) und Furkan Karacar (alias »Furkan Abdullah«) vom Netzwerk »Im Auftrag des Islam«[1] zum üblichen Repertoire. Gerade deshalb ist es interessant, ob sich das Verhalten dieser Prediger während der Corona-Krise geändert hat. Neigen sie ähnlich wie manche rechtsradikale Akteure[2] zum Boykott der zur Eindämmung der Pandemie getroffenen Maßnahmen? Zeigen sie eine Affinität zu Verschwörungstheorien von Impfgegnern, die Bill Gates als Bedrohung empfinden? Erste Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen liefern drei Videos von Ahmad Amih und Co., die allesamt im März 2020 online veröffentlicht wurden – also zu einem Zeitpunkt, als die erste Welle der Pandemie Deutschland erreichte und das Virus und seine Bekämpfung erstmals im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte standen.
Die Antwort fällt zweigeteilt aus: Einerseits rufen die hier in den Blick genommenen Protagonisten, die in Niedersachsen durchaus über eine größere Community verfügen, in ihren Videos nicht dazu auf, die staatlichen Verordnungen, wie z. B. die Kontaktbeschränkungen, die Abstandsregeln oder die Maskenpflicht, zu missachten.[3] Furkan Abdullah kritisiert den Staat sogar dafür, dass zum damaligen Zeitpunkt noch keine allgemeine Ausgangssperre verhängt worden sei.[4] Ihre Stellungnahmen zu den Beschränkungen müssen jedoch differenziert betrachtet werden, da in den Videos mitunter Passagen zur Beruhigung der eigenen Zuschauer, spekulative Verschwörungstheorien und Verweise auf vermeintliche Anzeichen für die nahende Apokalypse in einem Atemzug geäußert werden. Zudem befassen sie sich mit Fragen nach dem Ursprung des Virus, der Ursache der Pandemie sowie der Frage, wie Muslime sich gemäß dem Koran und der Sunna verhalten sollen bzw. was gegen das Virus hilft.
Die Frage nach dem Ursprung
Um den Ursprung des Corona-Virus ranken sich mittlerweile eine Vielzahl von Verschwörungstheorien. Doch auch die seriöse Wissenschaft konnte den Sachverhalt bisher nicht eindeutig klären. Lange herrschte die Annahme vor, dass sich das Virus Ende 2019 auf einem Wildtiermarkt in Wuhan von einer Fledermaus über einen Zwischenwirt auf den Menschen übertragen hat.[5] Da aber nicht alle frühen Fälle in Wuhan mit dem Markt in Verbindung zu bringen sind, wird mittlerweile eher davon ausgegangen, dass zu einem früheren Zeitpunkt und an einem anderen Ort die Erstübertragung auf den Menschen stattfand.[6] Die hier im Zentrum stehenden Akteure greifen jedoch die These, wonach der Wildtiermarkt der Ursprung des Virus sei, auf, und kritisieren mehrfach den Verzehr von Haustieren wie Hunden und Katzen sowie von Wildtieren, Ratten und Insekten.[7] Oftmals reißerisch und inhaltlich wenig fundiert, gleiten ihre Äußerungen bisweilen in offenen Rassismus ab. Abul Baraa erklärt, dass es für Chinesen zur Normalität gehöre, solche Tiere zu essen und behauptet sogar, sie würden abgetriebene weibliche Babys verzehren: »Wenn die alles essen, was sich bewegt und was kriecht, dann: Was haben sie ausgelassen außer den Menschen? Bis wir auch belehrt wurden: Sie essen auch Menschen! Es gibt Frauen, wenn sie eine Fehlgeburt haben beziehungsweise es gibt Frauen, wenn sie Kinder bekommen und das ist ein Mädchen, dann werden diese getötet oder beziehungsweise abgetrieben und dann werden die gegessen, weil sie wünschen sich Jungs, das wird wie eine Art Strafe gemacht.«[8]
Yasin al-Hanafi bringt konkreter auf den Punkt, warum die Prediger überhaupt das Auftreten des Corona-Virus in China thematisieren, nämlich, weil sich die dortige Bevölkerung nicht an die göttliche Ordnung halte, was sich darin zeige, dass dort »Hund, Katze, und was weiß ich noch für Dinge«[9] als Delikatessen verspeist würden, obwohl sie für den Menschen nicht geeignet seien.[10] Allah habe schon den ersten beiden Menschen, Adam und Eva, beigebracht, welche Tiere zu essen seien und welche nicht – der Verstoß gegen diese Speisegebote könne zu Krankheiten führen.[11] Die geäußerte Kritik an der chinesischen Bevölkerung rund um den Ursprung des Virus lässt sich als Versuch der Protagonisten zusammenfassen, die Regeln der Scharia rational und vernünftig erscheinen zu lassen. Hätten sich die Chinesen an die Speisevorschriften gehalten, so die Argumentation, wäre es gar nicht zu einer Übertragung gekommen. Die missionarische Botschaft ans Publikum ist eindeutig: Wer dem Islam folgt, im besten Fall der Auslegung und Interpretation der hier vorgestellten Akteure, ist vor einem solchen Fehlverhalten gefeit.Abul Baraa prangert allerdings nicht nur die (vermeintlichen) chinesischen Essgewohnheiten an, sondern geht auch auf eine Verschwörungstheorie ein, der zufolge die Vereinigten Staaten absichtlich das Virus in Laboren gezüchtet hätten, um es in Ländern wie China und dem Iran, die ihnen feindlich gesonnen seien, zu verbreiten. Allerdings lehnt er derlei Spekulationen letztlich doch ab, da sie vom einzig richtigen Weg Allahs ablenkten und wie alle anderen Wege außer dem Allahs schlicht die Wege des Satan (Schaitan) seien.[12] So ist es für ihn letztlich unerheblich, ob sich Ungläubige verschwören, um anderen Schaden zuzufügen oder nicht, da jede Abweichung vom wahren Islam gleichermaßen verdammenswert sei. Widersprüchlicherweise hält Abul Baraa also derartig abwegige Thesen zumindest potenziell für zutreffend, auch wenn er sie selbst im nächsten Atemzug als »Verschwörungstheorien« bezeichnet. Der Umstand, dass die USA aktuell weltweit am stärksten von der Corona-Pandemie betroffen sind, lässt die These, die Vereinigten Staaten hätten das Virus aktiv verbreitet, um China zu schaden, heute indes noch weniger plausibel erscheinen als im März, als Abul Baraas Video veröffentlicht wurde.
Die Ursache für die Corona-Pandemie aus Sicht der Akteure
Ursächlich für das Auftreten der Pandemie in China könnte aus Sicht Abul Baraas die Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uiguren, die in der nordwestlichen Region Xinjiang leben, sein. Gott habe China bestraft, weil die Chinesen zahlreiche Uiguren in »Konzentrationslager[n] halten«[13] würden, weshalb Gott die Viren als seine Soldaten geschickt habe. Abul Baraa führt als Beleg einen Auszug aus Koranvers 74:31 an: »Niemand kennt die Soldaten deines Herrn außer er [sic]«.[14] Der chinesische Präsident Xi Jinping – den Abul Baraa als »Verbrecher« bezeichnet, den Gott mit ungekannten Krankheiten strafen möge – habe allerdings mittlerweile erkannt, dass das Auftreten des Virus eine göttliche Strafe gewesen sei und habe sich daher gezwungen gesehen, eine Moschee aufzusuchen und die Muslime zu Bittgebeten aufzufordern, um die Pandemie von China abzuwenden. So habe Allah einen Weg gefunden, Xi zu erniedrigen. Abul Baraa erklärt, das Geschehen sei durch ein Video dokumentiert, das er selbst gesehen habe,[15] doch offenbar ist er hier auf eine im Internet kursierende Falschmeldung hereingefallen, in der ein Video von einem Moscheebesuch Xis im Jahre 2016 als Beleg für seinen vermeintlichen Bittgang im Kontext der Corona-Krise herangezogen wird.[16] Die von China verübten Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Uiguren wurden aus im letzten Herbst geleakten Dokumenten aus dem chinesischen Überwachungsapparat Anfang des Jahres in einer Reportage deutscher Journalisten zusammengefasst. Demnach seien mit der Begründung zur Terrorbekämpfung ca. eine Millionen Uiguren in sog. »Umerziehungslager[n]« inhaftiert.[17]
Obwohl Abul Baraa zurecht den Vorwurf der Unterdrückung der muslimischen Minderheit Chinas erhebt, ist die von ihm vorgebrachte Vorstellung, Gott habe das Virus gesandt, um die übrige chinesische Bevölkerung für das Handeln ihrer Regierung zu bestrafen, mittlerweile wahrscheinlich auch für Muslime, die an einen strafenden Gott glauben, nicht plausibel. Denn das Virus hat sich nach wenigen Monaten auf der ganzen Welt ausgebreitet und Opfer gefordert, auch in muslimisch geprägten Ländern, während die Opferzahlen in China bisher – relativ – gering geblieben sind.
Daher gehen die hier analysierten Akteure zusehends dazu über, zu erklären, warum die Pandemie aus islamisch-religiöser Sicht als Botschaft an die ganze Menschheit verstanden werden kann. Vor allem Furkan Abdullah sieht die Corona-Krise als eines der »kleinen« Vorzeichen der Apokalypse an, auf die bald größere folgen würden, die das Weltende einleiteten.[18]
Allerdings habe die Krise der Menschheit auch ein »Wir-Gefühl« verliehen, das ihr sonst fehle. Dies werde deutlich, wenn die Toten eines Terroranschlags auf Charlie Hebdo in Frankreich viel Aufmerksamkeit erhielten, obwohl die Opfer französischer Bomben in Mali oder russischer Angriffe im syrischen Idlib gleichgültig hingenommen würden, oder aber wenn über die an Corona Gestorbenen berichtet werde, nicht aber darüber, dass in armen Ländern seit Jahren zahllose Menschen den Hungertod sterben würden. Das Virus lehre aber, dass das Denken in nationalen Grenzen überwunden werden müsse.[19] In diesem Zusammenhang kritisiert er auch den Kapitalismus und dessen Folgen für Klimawandel, Wirtschaftskrisen und die ethischen Grundlagen der Gesellschaft. Die Menschen in Deutschland (aber auch in anderen Staaten wie der Türkei) würden unter einer verfehlten Einschätzung der Realität leiden. Um seine Argumentation zu stützen, zieht er einen Vergleich zwischen der Situation am Ende des Zweiten Weltkrieges, als in Deutschland große Nahrungsknappheit geherrscht habe und die Menschen dennoch miteinander ihre Lebensmittel geteilt hätten, und der Situation zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Videos im März 2020, als es keine solche Knappheit gegeben habe und die Menschen durch »Hamsterkäufe« dennoch ihre unsolidarische Einstellung gezeigt hätten. Der »Säkularismus« und der Ṭāġūt[20]-Staat seien für diesen Werteverfall verantwortlich:[21] »Mit dem Säkularismus – sie haben in hundert Jahren den Menschen entwertet, sie haben die Werte [aus der Gesellschaft] rausgeholt. Das einzigste [sic!], was die Gesellschaft – hier in Europa, aber leider auch in unseren Ländern – zusammenhält, ist das Geld.«[22] Es entsteht der Eindruck, dass Abdullah jegliche areligiösen Vorstellungen nicht nur ablehnt, sondern ausschließt, dass diese überhaupt Grundlage für ethisches Verhalten sein können. Doch bemerkenswerterweise könne nicht nur der Islam Werte vermitteln, sondern es könne auch »nicht-islamische« bzw. »christliche« Werte geben.[23] Jedes Volk – ob das deutsche, russische oder französische – könne seine eigenen Werte haben.[24] Hier muss angemerkt werden, dass gerade die säkularisierende Wirkung der Nationalstaatsgründung dazu beigetragen hat, dass die Völker ihre eigenen Werte entwickelten. Ebenso wenig kohärent erscheint seine Solidaritätseinschätzung der Endphase des Zweiten Weltkriegs in der Angehörige vieler Minderheiten verfolgt oder gar ermordet wurden; außerdem berücksichtigt er nicht, dass die Corona-Krise gerade zu solidarischem Handeln wie Einkaufshilfen etc. animiert hat.
Allerdings fällt auf, dass Abdullah trotz seiner gesellschaftlichen Fundamentalkritik die Pandemie weder leugnet noch herunterspielt. Vielmehr kritisiert er andere Muslime für die Leugnung der Pandemie: Trotz seiner radikalen Ablehnung des politischen Systems – er sieht die Teilnahme an demokratischen Wahlen als »Kufr« (Unglaube) an[25] – betont er, dass Muslime den Empfehlungen des staatlichen Robert Koch-Institutes (RKI) folgen sollten, ebenso wie den Maßnahmen der Bundesregierung, die sich durch das RKI beraten ließe. Auch nach den Anweisungen von Ärzten könne man sich ruhig richten, da sie unabhängig von Weisungen des unislamischen Staates handelten, um der Gesellschaft bei der Bekämpfung der Pandemie zu helfen. Das widerspreche nicht der Scharia.[26]
Betrachtet man Furkan Abdullahs Video in der Gesamtschau, wird deutlich, dass es von Widersprüchen durchzogen ist: Einerseits sieht er die Corona-Pandemie als ein Vorzeichen der Apokalypse, die nicht mehr allzu weit entfernt sei. Andererseits erklärt er, nicht zur Panik aufrufen zu wollen und wehrt sich gegen eine Verschwörungsmentalität unter Muslimen. Dabei scheint er sich nicht mit seinem ebenfalls für das Netzwerk »Im Auftrag des Islam« tätigen Kollegen Yasin al-Hanafi abgesprochen zu haben, der in seinem Video, das wenige Wochen vor Abdullahs veröffentlicht worden war, eine Verschwörungstheorie über die Pharma-Industrie postuliert hat.
Diese Branche sei nur an einer Behandlung der Symptome des SARS-CoV-2-Virus interessiert und nicht an der kostspieligen Entwicklung eines Impfstoffes. Das sei der Tatsache geschuldet, dass die Pharma-Industrie in den Händen privater Kapitalgeber sei und profitorientiert arbeite. Eine medikamentöse Behandlung der Symptome biete eine permanente Geldquelle, während ein Impfstoff trotz hoher Forschungs- und Entwicklungskosten nur einmalig Einnahmen generiere. In diesem Zusammenhang verweist Hanafi auf HIV-Patienten, denen bis heute auch nur eine medikamentöse Behandlung und kein Impfstoff angeboten werde.[27] Indes beweisen die 170 Forschungsprojekte weltweit, die damit beschäftigt sind, einen Impfstoff zu entwickeln, das Gegenteil seiner Behauptungen. Die Forschungskosten sind jedoch in der Tat sehr hoch, weshalb viele Projekte durch eine Reihe von Geldgebern unterstützt werden, z. B. durch die deutsche Bundesregierung, aber auch von der Bill & Melinda Gates Foundation.[28] Bemerkenswert ist, dass die hier untersuchten Protagonisten die Verschwörungstheorien, die sich rund um Bill Gates’ Impfprogramme ranken und bei vielen rechtsradikalen Akteuren verbreitet sind,[29] nicht thematisieren. Im Gegenteil beklagt Hanafi mit seiner Verschwörungstheorie ja gerade das Fehlen eines Impfstoffes.
Schwarzkümmel gegen Corona?
Um der Pharma-Industrie nicht zu noch mehr Geld zu verhelfen, so Hanafi, gebe es ein viel kostengünstigeres, natürliches Heilmittel, das allerdings langsamer wirke als konventionelle Medikamente.[30] Hanafi zitiert auf Arabisch einen Hadith[31] des Propheten Mohammed – auf den auch Abul Baraa verweist[32] –, in dem dieser Schwarzkümmel als Mittel gegen alle Krankheiten empfiehlt; nur den Tod selbst könne das Mittel nicht abwenden.[33] Darüber hinaus führen alle drei hier untersuchten Akteure einen weiteren Hadith des Propheten Mohammed an, in dem er die Gläubigen anweist, eine Region, in der die Pest (arabisch Ṭāʿūn) auftritt, nicht zu bereisen; in dem Fall, dass sie sich bereits dort befänden, sollten sie die Gegend hingegen nicht verlassen.[34] Eine solche Handlungsanweisung kommt modernen Quarantänemaßnahmen schon ziemlich nahe.
Abul Baraa widmet sich ebenfalls der Frage, wie sich ein Muslim angesichts der Pandemie verhalten müsse, etwa, ob männliche Muslime das Freitagsgebet weiterhin in der Moschee verrichten müssten. Er betont, dass es in Regionen, in denen das Virus kaum verbreitet ist, durchaus angebracht sei, freitags in der Moschee zu beten, da es schließlich eine Pflicht sei. Allerdings sollte man dabei nicht jeden »knuddeln«. Auch sollten sich die Muslime nicht in großen Gruppen versammeln; gegen den Gebrauch einer Maske sei nichts einzuwenden.[35] Das Einhalten eines Abstandes von 1,5 Metern zum Nebenmann entsprechend der Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung widerspreche zwar der Sunna, doch ungültig würde das Gebet dadurch nicht.[36] Der Berliner Prediger ruft darüber hinaus auch dazu auf, den Moscheeleitungen keine Vorwürfe zu machen, wenn sie ihre Gebetsstätten angesichts der Corona-Krise auf Anweisung schließen würden.[37] Als Alternative gäbe es für die Muslime weithin die Möglichkeit, ihre Gebete Zuhause zu verrichten. Außerdem könne man in diesen Zeiten Bittgebete verrichten, um Gott um ein Ende der Krise zu bitten.[38]
Fazit
Alle drei untersuchten Videos weisen also eine wichtige Gemeinsamkeit auf: Muslimen wird mit Verweis auf den Pest-Hadith empfohlen, während der Corona-Krise Risikogebiete zu meiden und auf Reisen zu verzichten, wenn sie selbst aus einer erheblich von der Pandemie betroffenen Region kommen. Der Hadith eignet sich gut als religiöse Begründung dafür, die Empfehlungen des RKI sowie die Anordnungen von Behörden zur Eindämmung des Infektionsgeschehens zu befolgen. Diese für Muslime verbindliche Überlieferung ist wohl auch eine Erklärung dafür, dass die hier betrachteten Akteure nicht zum Boykott dieser Maßnahmen aufrufen, wie es viele rechtsradikale Akteure und andere Anhänger von Verschwörungstheorien tun. Diese Einigkeit bröckelt jedoch, wenn es um die viel weitreichendere Frage der politischen Einordnung der Krise geht: Hier findet sich ein bizarres Repertoire aus religiösen Deutungen, moralischer Kritik an der vermeintlichen Dekadenz der hedonistischen Gesellschaft sowie verschwörungstheoretischem Denken. Es entsteht also letztlich ein Bild, in dem die Akteure entgegen ihrer sonst üblichen staatskritischen bis -ablehnenden Haltung – auch im Vergleich zu anderen politischen Kräften – eher Staatskonformität suggerieren, um dann jedoch mit ganz eigenen (zum Teil verschwörungstheoretischen) Interpretationen der Krise letztlich wieder in ihre alten Verhaltensmuster zurückzufallen, nur um ihren Communitys eine Erklärung für diese Krise liefern zu können.
[1] Dabei handelt es sich um eine radikalislamische Gruppe, die Predigten in Niedersachsen hält, unter anderem auch in Göttingen, und den YouTube Channel »Im Auftrag des Islams« (siehe https://www.youtube.com/channel/UCIZ6b1bttjI0-gKAwxU5iHA) betreibt.
[2] Siehe hierzu den Beitrag von Joris Sprengeler in diesem Band.
[3] Vgl. Abul Baraa: Wie steht der Islam zum Corona Virus [sic!] und wie verhält sich der Muslim in diesen Zeiten, Facebook, 14.03.2020, URL: https://facebook.com/story.php?story_fbid=256891238647828&id=1606763732949097 [eingesehen am 18.07.2020], ab Minute 24:20 sowie 24:53, im Folgenden abgekürzt als Abul Baraa: Corona; Yasin al Hanafi: 06- MAGAZIN KOMMENTARE ᴴᴰ┇Corona-Virus 2020 | YASIN AL-HANAFI, YouTube, 05.03.2020, URL: https://www.youtube.com/watch?v=32gRTNtnaw4&feature=youtu.be&fbclid=IwAR0f5Zlnwg-v0I-rsasSjqGC99F2TBC7pFW2E28K1UzwY_kB_NRwIaozxOM [eingesehen am 18.07.2020], ab Minute 22:44, im Folgenden abgekürzt als Hanafi: Corona-Virus.
[4] Vgl. Furkan Abdullah: Stellungnahme zur Corona Krise [sic!] | 20.03.2020 | Furkan bin Abdullah, YouTube, 20.03.2020, URL: https://www.youtube.com/watch?v=x9J5qGnFTqI [eingesehen am 18.07.2020], Minute 5:31–5:57 sowie 24:39-25:41 im Folgenden abgekürzt als Abdullah: Corona. In diesem Zusammenhang erwähnt Abdullah auch die Türkei lobend, die es selbst in der Millionenmetropole Istanbul geschafft habe, einen strengen Lockdown umzusetzen. Die gute Umsetzung sei dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu verdanken (ab Minute 25:11: »Er [Erdoğan] kann dieses Land richtig gut führen!«) Dieses Urteil überrascht, da die Gruppe »Im Auftrag des Islam« Erdoğan an anderer Stelle vorwirft, an der Spitze eines säkularen Systems zu stehen und vom Islam abgefallen zu sein. Siehe hierzu den Beitrag von Hoxhaj und Klevesath in diesem Band.
[5] Vgl. Kalkhof, Maximilian: Chinas Fledermaus-Offensive, in: Welt, 23.04.2020, URL: https://www.welt.de/print/die_welt/politik/article207446901/Chinas-Fledermaus-Offensive.html [eingesehen am 19.07.2020].
[6] Cohen, Jon: Wuhan seafood market may not be source of novel virus spreading globally, in: Science, 26.01.2020, URL: https://www.sciencemag.org/news/2020/01/wuhan-seafood-market-may-not-be-source-novel-virus-spreading-globally [eingesehen am 25.07.2020).
[7] Siehe Hanafi: Corona-Virus, ab Minute 05:23 sowie Abul Baraa: Corona ab Minute 07:40; siehe Abdullah: Corona, ab Minute 41:20.
[8] Siehe Abul Baraa: Corona ab Minute 08:40. Abul Baraa hat sich hier möglicherweise von Fake News aus dem Internet rund um das Thema der Ein-Kind-Politik Chinas täuschen lassen. Seit Jahrzehnten kursiert im Internet das Gerücht, in China würden regelmäßig Babys und menschliche Föten verspeist. Um den Vorwurf zu untermauern, werden immer wieder Fotos eines Mannes verbreitet, der ein neugeborenes Baby zu essen scheint. Tatsächlich zeigen die Bilder die Kunstaktion »Eating People« des Performance-Künstlers Zhu Yu aus dem Jahr 2000 für das Shanghai Arts Festival. Der Kannibalismus-Vorwurf stellte sich jedoch 2001 als falsch heraus, als eine Untersuchung von FBI und Scotland Yard zum Ergebnis kam, dass der Künstler den Verzehr eines Babys nur vorgetäuscht hatte. 2006 wurden diese Bilder im deutschsprachigen Raum von der China-kritischen, der Falun-Gong-Sekte nahestehenden Webseite »China-Intern« verbreitet, um die Ein-Kind-Politik in China anzuprangern und Funktionären der Kommunistischen Partei Chinas zu unterstellen, regelmäßig Babys zu verspeisen. Die Bilder des Künstlers und das Gerücht tauchen im Internet immer wieder auf, zuletzt wurden sie Anfang 2020 im Zusammenhang mit der Corona-Krise verbreitet. Vgl. Patalong, Frank: Entwarnung: Die Legende von den Babyfressern, in Spiegel.de, 17.07.2006, URL: https://www.spiegel.de/netzwelt/web/entwarnung-die-legende-von-den-babyfressern-a-426201.html [eingesehen am 20.07.2020]; o. V.: Chinese isst ein Baby (Faktencheck), in: mimikama, 30.01.2020, https://www.mimikama.at/allgemein/chinese-isst-ein-baby-faktencheck/ [eingesehen am 26.07.2020].
[9] Siehe Hanafi: Corona-Virus, ab Minute 06:32.
[10] Das Geschäft mit Wildtieren ist zwar reglementiert, allerdings werden solche Tiere vor allem in der traditionellen chinesischen Medizin verwendet und in diesem Kontext auch verzehrt. Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie sah sich die Regierung zusehends gezwungen, den Handel mit solchen Tieren einzuschränken, um einem Infektionsrisiko vorzubeugen. Die Großstadt Shenzhen im chinesischen Süden war die erste Metropole des Landes, die den Verzehr von Hunden und Katzen vollständig verbot. Es muss allerdings angemerkt werden, dass der Konsum von solchem Fleisch schon vorher nicht zum Alltag in China gehörte – vielmehr werden Menschen, die Hunde und Katzen verspeisen, häufig als abergläubisch angesehen. Vgl. Kalkhof.
[11] Siehe Hanafi: Corona-Virus, Minute 02:48–05:54.
[12] Siehe Abul Baraa: Corona, ab Minute 09:21.
[13] Siehe Abul Baraa: Corona, ab Minute 11:17. Abul Baraa erklärt, es handele sich tatsächlich um »Konzentrationslager«, und angesichts der Umstände spreche er bewusst davon, dass die Chinesen die Uiguren dort wie Tiere »halten« würden.
[14] Siehe Abul Baraa: Corona, ab Minute 15:38. Yasin al-Hanafi übt in seinem Video ebenfalls Kritik an der chinesischen Regierung. Das Land sei »abartig, widerwärtig, kommunistisch« und das kommunistische Regime »volksverbrecherisch« (vgl. Hanafi: Corona-Virus, ab Minute 09:43). Die Hauptschuld für den Verstoß gegen die göttlichen Gebote wie die Speisevorschriften treffe aber die Menschen, da zumindest Nicht-Muslime auch in China einen gewissen Handlungsspielraum hätten. Deshalb würden die Menschen mit der Krankheit bestraft. Vgl. Hanafi: Corona-Virus, ab Minute 09:02.
[15] Siehe Abul Baraa: Corona, ab Minute 12:40.
[16] O. V.: Old Video of Chinese Prez at Mosque Revived Amid Coronavirus Scare, in: The Quint, 05.02.2020, URL: https://www.thequint.com/news/webqoof/video-of-chinese-president-xi-jinping-visiting-mosque-amid-coronavirus-scare-fact-check [eingesehen am 28.07.2020].
[17] Vgl. Adelhardt, Christine, et al: »China: Uiguren weggesperrt in Lagern«, Weltbilder, 18.02.2020, URL: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/weltbilder/China-Uiguren-weggesperrt-in-Lagern-,weltbilder7850.html und https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/weltbilder/Weltbilder,sendung998166.html [eingesehen am 20.07.2020]. Die Gründe hierfür seien z. B. das Anklicken einer dem chinesischen Regime missliebigen Internetseite, das Beantragen eines Reisepasses oder das Tragen eines langen (islamischen) Bartes. Der häufigste Grund, warum ein Mensch in ein Lager gesperrt werde, sei jedoch, dass er oder sie aus Sicht der chinesischen Regierung zu viele Kinder bekommen hätte.
[18] Siehe Abdullah: Corona, ab Minute 32:37.
[19] Siehe Abdullah: Corona, Minute 19:32–23:25.
[20] »Taghut« heißt hier soviel wie Tyrann, der nicht nach den Geboten des Islam herrscht.
[21] Siehe Abdullah: Corona, Minute 23:44–37:15.
[22] Siehe Abdullah: Corona, ab Minute 35:58. Während Abdullah den Materialismus der Gesellschaft anprangert, kritisiert Abul Baraa in seinem Video den Hedonismus der Gesellschaft. Die Corona-Krise habe dazu geführt, dass die Menschen nicht mehr ihrem Lebensinhalt nachgehen könnten, der für sie im Besuch von Fußballstadien, Restaurants, Theatern und Diskotheken bestehen würde. Damit fällt er ein ähnliches Pauschalurteil über die Gesellschaft wie Furkan Abdullah und blendet an der Stelle aus, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auch in die Lebensführung frommer Muslime eingriffen, die zeitweise keine Moscheen mehr besuchen konnten. Siehe Abul Baraa: Corona, ab Minute 15:53.
[23] Siehe Abdullah: Corona, ab Minute 35:50.
[24] Siehe Abdullah: Corona, ab Minute 36:36.
[25] Siehe Abdullah: Corona, ab Minute 48:29.
[26] Siehe Abdullah: Corona, ab Minute 47:11.
[27] Siehe Hanafi: Corona-Virus, ab Minute 11:31.
[28] Siehe o. V.: Impfstoffe zum Schutz vor Covid-19, der neuen Coronavirus-Infektion, in: Verband Forschender Arzneimittelhersteller, 23.07.2020, URL: https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/woran-wir-forschen/impfstoffe-zum-schutz-vor-coronavirus-2019-ncov [eingesehen am 23.07.2020].
[29] Siehe hierzu den Beitrag von Joris Sprengeler in diesem Band.
[30] Hanafi: Corona-Virus, ab Minute 19:08. Interessanterweise verweist Hanafi in diesem Zusammenhang selbst darauf, dass er ähnlich wie manche Rechtsradikale argumentiere, wenn er behaupte, die Produkte der Pharmaindustrie könne man mit Naturheilmitteln substituieren: »Ich hör’ mich jetzt wahrscheinlich an wie diese ganzen Rechtsradikalen, weil auch sie – sie haben auch so ’n Anti-Pharma-… -Haltung, sie erzählen auch die ganze Zeit davon. Aber nein. Natürlich bin ich kein Rechtsradikaler, al-Hamdu li-Llāh!« Hanafi: Corona-Virus, ab Minute 18:44.
[31] Siehe Hanafi: Corona-Virus, ab Minute 19:15. Ein Hadith bezeichnet eine Aussage Mohameds zu einem bestimmten Thema.
[32] Siehe Abul Baraa: Corona, ab Minute 40:34.
[33] Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Buch 76, Hadith 10, zitiert nach Sunnah.com – Sayings and Teachings of Prophet Muhammad, URL: https://sunnah.com/bukhari/76/10 [eingesehen am 30.07.2020].
[34] Siehe hierzu Abul Baraa: Corona, ab Minute 5:10; Hanafi: Corona-Virus, ab Minute 22:00; wie auch Abdullah: Corona, ab Minute 58:33. Der Hadith findet sich im Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Buch 76, Hadith 43, zitiert nach Sunnah.com – Sayings and Teachings of Prophet Muhammad, URL: https://sunnah.com/bukhari/76/43 [eingesehen am 30.07.2020]. Der Wortlaut des Ṣaḥīḥ al-Buḫārī weicht teilweise von den Zitaten in den Videos ab.
[35] Siehe Abul Baraa: Corona, ab Minute 24:20.
[36] Vgl. Abul Baraa: Macht der Abstand von 1,5m in den Moscheen zwischen Betenden das Gebet Ungültig?, Facebook, 04.05.2020, URL: https://www.facebook.com/Ahmadabulbaraa/videos/185519309217645/ [eingesehen am 24.07.2020].
[37] Vgl. Abul Baraa: In die Moschee zurück trotz der neuen Coronaregeln oder lieber Zuhause beten?, Facebook, 06.05.2020, URL: https://www.facebook.com/Ahmadabulbaraa/videos/322242462071748/ [eingesehen am 24.07.2020].
[38] Siehe Abul Baraa: Corona, ab Minute 20:59.