Salafiyya, Salafismus und IslamismusVerhältnisbestimmung und Ideologiemerkmale
Einleitung
Sowohl in zahlreichen Berichten des Niedersächsischen Verfassungsschutzes als auch im medialen Diskurs werden Begriffe wie »Salafiyya«, »Salafismus«, »Wahhabismus« und »Islamismus« häufig synonym verwendet und im Bewusstsein der westlichen Gesellschaft nicht selten mit einer gewalttätigen, antiwestlichen Gesinnung gleichgesetzt.[1] So kommt es zu einem nicht immer zutreffenden Verständnis dieser islamischen Religionsbewegungen, die als Bedrohung für eine pluralistische, multireligiöse Gesellschaft eingeschätzt werden. Die Bezeichnungen implizieren jedoch komplexe Phänomene, die ganz unterschiedliche Ideologien, Strukturen und Erscheinungsformen aufweisen; die Übergänge zwischen den einzelnen Konzepten sind fließend.
Zwar teilen radikale und gemäßigte Vertreter dieser Gruppen viele ideologische Grundannahmen; zugleich unterscheiden sie sich jedoch im Hinblick auf ihre Einstellungen zu Demokratie und Menschenrechten sowie in der Frage, ob Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele darstellt. Der vorliegende Beitrag stellt diese Begriffe vor und grenzt sie vor dem Hintergrund folgender Fragen voneinander ab: Unterscheidet sich die »Salafiyya« vom »Salafismus« und der »Salafismus« vom »Islamismus«? Wenn ja, inwiefern? Kann man Salafisten ohne Spezifizierung und nähere Prüfung dem islamistischen Milieu zuordnen?
Salafiyya
Die Bezeichnung salafiyya ist ein arabischer Ausdruck, der auf den Wortstamm salaf zurückgeht. Salaf, soviel wie »Altvorderer« oder »Vorfahren«, bezieht sich auf die sogenannten »rechtschaffenen Altvorderen« (as-salaf aṣ-ṣāliḥ) der ersten drei Generationen islamischer Zeitrechnung, etwa zwischen dem sechsten und dem neunten Jahrhundert n. Chr. Da sie entweder in unmittelbarem Kontakt mit dem Propheten Muḥammad (gest. 632) standen, dessen »Gefährten« (ṣaḥāba), Nachfolger (tābiʿūn) oder Nachfolger der Nachfolger (tābiʿū at-tābiʿīn) sie waren, wird ihr Handeln und Islamverständnis von vielen Muslimen als Idealzustand der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit sowie als zentrale Referenz für Fragen des Lebens angesehen.[2]
Die Begegnung mit der Moderne im Zuge der westlichen Kolonialisierung weiter Teile der muslimischen Welt markiert den entscheidenden Wendepunkt in der Entstehung zahlreicher islamischer Reformbewegungen in nahezu allen islamischen Gebieten um die Wende des 20. Jahrhunderts. Trotz der mannigfaltigen und zum Teil gegensätzlichen Strategien dieser Bewegungen hatten sie ein gemeinsames Anliegen, und zwar, den Islam gegen die Übermacht westlicher Zivilisation zu behaupten und mit der Technologie und weiteren Errungenschaften des Westens zu versöhnen. Reformdenker wie etwa Muḥammad ʿAbduh (gest. 1905) und Muḥammad Rašīd Riḍā (gest. 1935) nahmen an, dass sich die islamische Welt in einer Krise befände: Auf der einen Seite moderne christliche Gesellschaften, geprägt von kulturellem, wissenschaftlichem, technologischem und politischem Fortschritt; auf der anderen Seite islamische Gesellschaften, geprägt von soziopolitischer und wirtschaftlicher Dekadenz und Rückständigkeit. Jene Reformdenker machten nicht den Islam selbst für die vermeintliche Misere verantwortlich. Vielmehr führten sie diese auf dessen vorherrschendes tradiertes Verständnis und verkrustetes Normensystem zurück. Sie monierten die akritische Orientierung am überholten Islamverständnis früherer Autoritäten, lehnten die blinde Übernahme herkömmlicher Rechtsansichten ab und wandten sich stattdessen der »selbstständigen Normenfindung« (iğtihād) zu. Durch rationale Neubetrachtung der islamischen Quellentexte (Koran und die Aussprüche und Handlungen des Propheten Muḥammad – sogenannte Sunna) und unter Rückgriff auf die frühislamische Praxis der Salaf strebten sie eine freiere, der Zeit angepasste Auslegung der koranischen und prophetischen Aussagen an, um den Islam mit der Moderne in Einklang zu bringen. Ihre Rückbesinnung auf die Salaf erklärten sie damit, dass der »reine« und »authentische« Islam Antworten auf alle Fragen und Herausforderungen der Moderne gebe.[3]
Neben der Salafiyya sind viele weitere islamische Bewegungen im 20. Jahrhundert entstanden.[4] Trotz in vielerlei Hinsicht gegensätzlicher Positionen stellt Bernard Haykel, Professor für Nahoststudien, folgende Aspekte als ideologische Gemeinsamkeiten zwischen diesen Massenbewegungen heraus: Der Berührungspunkt aller islamischen Reformbemühungen sei die Frage, weshalb sich Muslime im Vergleich zum Westen in einer Krise befänden. Das Abweichen vom »ursprünglichen, reinen« Islam sei für diese Misere verantwortlich, so die Antwort. Daher werde die Rückkehr zu der für authentisch gehaltenen Form und Lehre der ersten drei Generationen von Muslimen als Lösung für diesen Missstand angestrebt. Dadurch würden die Muslime auf den rechten Weg zurückgebracht und die muslimische Gemeinschaft nähme wieder die ihr zugedachte führende Rolle in der Weltgeschichte ein. Dabei werde insbesondere dem Koran und der Sunna als autoritativen rechtleitenden Quellen für alle Zeiten und an allen Orten eine zentrale Rolle zugesprochen. Zudem werde der Einheitsgedanke mit seinen verschiedenen religiösen und politischen Implikationen mit Nachdruck hervorgehoben. Die Zersplitterung der islamischen Welt in verschiedene Königreiche, Republiken, Sultanate usw. werde als einer der entscheidenden Gründe für den angenommenen Niedergang muslimischer Gesellschaften aufgefasst und daher zur Wiedererrichtung einer »islamischen Einheit« (waḥda islāmiyya) aufgerufen.[5]
Salafismus als Teil der Wahhabiyya-Bewegung
Der Terminus »Salafismus« geht auf das arabische Wort »Salafiyya« zurück. Er wird seit einigen Jahren in Medien und Politik sowie im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs verwendet. Eine saubere Trennung zwischen »Salafismus« und »Salafiyya« wird dabei nicht immer vorgenommen. Beim Salafismus handelt es sich um ein Phänomen, das unterschiedliche Kategorien und Ideologiemerkmale, zugleich aber auch Gemeinsamkeiten mit der Salafiyya aufweist. Zur klaren Differenzierung zwischen der oben dargestellten »modernen« Salafiyya und der »zeitgenössischen« Salafiyya schlägt die Islamwissenschaftlerin Justyna Nedza die Verwendung des Begriffs »Salafismus« als Idealtypus für Letztgenannte vor. Dies begründet sie zu Recht wie folgt: »Der Vorteil eines Idealtypus ist, dass er eine Reinform von ›Salafismus‹ schafft, eine Idealform, in der seine wesentlichen Merkmale festgelegt werden. An dieser Messlatte kann dann gemessen werden, wer – unabhängig der Selbstbezeichnung – ein Vertreter des ›Salafismus‹ ist und wer nicht.«[6]
Wenngleich es in der Geschichte des Islam immer wieder Persönlichkeiten und Bewegungen gab, die den gegenwärtigen Salafismus geprägt haben und gewisse Gemeinsamkeiten bezüglich des Islamverständnisses aufweisen,[7] ist er laut dem Islamwissenschaftler und Terrorismusexperten Guido Steinberg maßgeblich von der Wahhabiyya-Bewegung beeinflusst worden. Die im 18. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel aufgetretene Wahhabiyya, die auf das Wirken des saudischen Predigers Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (gest. 1792) zurückgeht, stellt eine puristisch-traditionalistische Richtung des sunnitischen Islam dar. Im Fokus ihrer Lehre stand vor allem die Einheit Gottes (tauḥīd). ʿAbd al-Wahhāb forderte die Reinigung des Islam von allen »unislamischen Neuerungen« (bidʿa) und erachtete den seinerzeit weitverbreiteten Gräberkult, die Heiligenverehrung sowie die Feier des Prophetengeburtstags als »Vielgötterei« bzw. »Beigesellung Gottes« (širk) – das Gegenteil von tauḥīd. Glaubensauffassungen, die mit den Lehren der Wahhabiyya nicht übereinstimmen, werden von deren Anhängern als unislamisch deklariert. So lehnen die Wahhabiyya-Anhänger beispielsweise den Sufismus sowie viele der schiitischen Glaubenslehrsätze ab.[8]
Theologisch richten sich Anhänger der Wahhabiyya in erster Linie, ähnlich wie die Salafiyya, nach den Lehren des Korans, der Sunna und der Lebensweise der »frommen Altvorderen« (as-salaf as-salih). Sie lehnen die blinde Übernahme tradierter Lehrmeinungen früherer Gelehrter ab und wenden sich den Quellentexten zu, um im Wege der selbstständigen Normenfindung ihre Überzeugungen allein auf Grundlage der autoritativen Texte zu begründen. Dabei wird dennoch, im Gegenteil zur Salafiyya, ein buchstabengetreues Abbild aus der Frühzeit vertreten und unerbittlich versucht, die vermeintlich aus dem Wortlaut des Koran folgenden Gebote in die Tat umzusetzen.[9]
Das wahhabitische Islamverständnis wurde von zeitgenössischen salafistischen Gelehrten und Autoritäten Saudi-Arabiens in unterschiedlicher Ausprägung übernommen. Folgerichtig wird die Wahhabiyya-Bewegung als »die wohl größte Antriebsfeder für den gegenwärtigen Salafismus« erachtet.[10] Während die Anhänger von ʿAbd al-Wahhāb ihre Benennung als Wahhabiiten als abwertende Fremdbezeichnung interpretieren und sich selbst ahl at-tauḥīd (»Leute des Einheitsbekenntnisses«) bzw. al-Muwaḥḥidūn (»Bekenner der Einheit Gottes«) oder einfach ahl as-sunna (»Sunniten«) nennen, werden heutige Salafisten als Salafiyya, Ahl al-Ḥadīṯ (»Leute der Prophetenüberlieferung«) oder Ahl al-aṯar (»Leute, die sich auf die überlieferten Berichte aus der Frühzeit des Islam berufen«) bezeichnet oder auch schlicht Muslime genannt. Dies variiert von Land zu Land. Der Osnabrücker Religionssoziologe Rauf Ceylan merkt in diesem Zusammenhang an, dass es im Hinblick auf die Akzeptanz und Ablehnung des Begriffs Salafi als Selbstbezeichnung unterschiedliche Meinungen gibt. Während einige daran festhalten, als Muslime tituliert zu werden, akzeptieren andere, Salafi genannt zu werden.[11]