Mächtiges ÜberraschenDie Crux des AfD-Erfolges am Beispiel der Landtagswahl in Niedersachsen 2017
Seit den 1950er Jahren ist erstmals wieder eine Partei deutlich rechts der Mitte im Bundestag vertreten. Die AfD sitzt nun im Reichstag und dazu noch in fast allen Landesparlamenten (14 von 16). Ihre Etablierungschancen stehen damit so gut wie bei keiner anderen neuen Partei seit den Grünen in den 1980er Jahren. Doch anders als bei der Partei der Friedens- und Umweltaktivisten, Hippies und Sexualreformer bleiben die Fragen nach den tieferliegenden Ursachen und den Motiven für die Wahl der AfD bislang weitgehend unbeantwortet.[1] Ihr aktueller Erfolgslauf ist gekennzeichnet von Ambivalenzen, wie das Beispiel der niedersächsischen Landtagswahl 2017 zeigt. Einerseits schienen die Voraussetzungen für die AfD vor der Wahl äußerst günstig. Fast die Hälfte der Niedersachsen (47 Prozent) war der Ansicht, die AfD nähme ein gesunkenes Sicherheitsgefühl vieler Menschen ernster als andere Parteien. Und es fand jeder »dritte niedersächsische Wahlberechtigte gut, dass die AfD den Einfluss des Islam in Deutschland verringern und den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen stärker begrenzen will als andere«[2]. Andererseits machte die AfD gerade zwischen Nordsee und Harz kaum Wahlkampf und blockierte sich durch innerparteiliche Streitereien selbst.
Auf den ersten Blick folgte daraus die scheinbar logische Konsequenz, dass die Partei mit 6,2 Prozent der abgegebenen Stimmen weniger Zuspruch erhielt als noch kurz zuvor bei der Bundestagswahl (bundesweit 12,6; in Niedersachsen 9,1 Prozent). Politische Beobachter und Kommentatoren des Feuilletons gaben angesichts des mäßigen AfD-Erfolges relativ schnell Entwarnung.[3] Denn schließlich blieb die Partei mit diesem Ergebnis hinter den eigenen Erwartungen und vor allem noch deutlicher hinter den Befürchtungen zurück. In den letzten Jahren scheint sich offenbar in der Bundesrepublik einiges verändert zu haben, war doch dieses System jahrelang geradezu stolz darauf, als eines der wenigen demokratischen Länder überhaupt immun gegen den Aufstieg rechter Parteien zu sein. Doch nun hat sich mit der AfD wohl auch hier einiges »normalisiert«, wenn der Einzug einer rechten Partei in Parlamente medial mit teils beschwichtigenden und relativierenden Tönen abgetan wird. Doch diese 6,2 Prozent (235.000 Stimmen) bleiben in jedem Fall ein Achtungserfolg. Das Wahlergebnis deutet darauf hin, dass sich hier trotz starker kultureller Beharrungskräfte und konsolidierter Volksparteien bei gleichzeitig kaum positiv wahrnehmbarer AfD-Parteiarbeit ein rechtsnationales Potenzial weiter verfestigen könnte. Eine solche Diskrepanz mag an und für sich im politischen Betrieb nicht ungewöhnlich sein – schließlich verlaufen politische Kämpfe selten planmäßig. Aber der Wahlerfolg der AfD in ganz verschiedenen Wählersegmenten, in bestimmten gesellschaftlichen Schichten und in so unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexten wirkt in seinen Widersprüchen doch beachtlich. Zumindest sollten es sich Beobachter, Kommentatoren und Politiker vordergründig nicht zu einfach machen, indem sie dieses Phänomen vorschnell abtun.
Denn man kann das Wahlergebnis auch gegen den Strich lesen und dann zeigt sich rasch die Crux des AfD-Erfolges: Folgt man etwa den Einsichten der Parteien- und Wahlforschung[4], tut die AfD eigentlich alles, um möglichst nicht gewählt zu werden. Wie in kaum einem anderen Landesverband (neben dem saarländischen) blockiert sich die Partei selbst, intrigiert und sabotiert sich gegenseitig, und die Konfliktlinien, nicht nur zwischen Basis und Führung, sondern auch innerhalb des Landesvorstands, überlagern sich. Die Partei präsentierte sich im Vorfeld der Wahl auch nicht als Einheit, worauf gerade in Deutschland traditionsgemäß viel Wert gelegt wird, und sie machte im Prinzip kaum einen wahrnehmbaren Wahlkampf. Anders als etwa in den Landtagswahlkämpfen 2016 in Sachsen-Anhalt veranstaltete die AfD Niedersachsen keine Mobilisierungsveranstaltungen, anders als in Baden-Württemberg organisierte sie kaum Bürger- und Infoabende und anders als in Rheinland-Pfalz konnte sie auch kein moderat-bürgerliches und professionelles Image pflegen.[5] Aber vor allem hatte die Partei nicht einmal ein brennendes, polarisierendes Wahlkampfthema, denn die Relevanz der Flüchtlingsthematik hat seit 2015/16 spürbar abgenommen. Doch selbst ohne dieses gerade für neue und junge Parteien so wichtige Elixier eines politischen Alleinstellungsmerkmals schaffte es die AfD in den niedersächsischen Landtag. Vor einigen Jahren wäre dies noch undenkbar gewesen.
Wie schon bei vorherigen Wahlen reüssierte die AfD bei der niedersächsischen Landtagswahl vor allem in drei Gruppen[6]: Sie bekam am meisten Stimmen von den vormaligen Wählern sonstiger Kleinparteien (79.000), den bisherigen Nichtwählern (63.000) und den Christdemokraten (45.000). Von den anderen Parteien – SPD (15.000), Linke (10.000), FDP (6.000) und Grüne (2.000) – erhielt sie verhältnismäßig weniger Stimmengewinne. Die AfD erzielte ihre besten Ergebnisse in den Wahlkreisen Salzgitter (13,7 Prozent), Delmenhorst (10,5) und Wilhelmshaven (8,3).[7] Im Vergleich fallen vor allem drei Regionen auf: Braunschweig (7,5), Lüneburg/Celle (7,0) und Hameln/Hildesheim (6,7). Lediglich in fünf Wahlkreisen blieb die AfD unter vier Prozent: Einmal in der Stadt Göttingen, die übrigen Wahlkreise liegen alle im katholisch geprägten Raum Osnabrück/Emsland.
Nach der Landtagswahl erklärte Jörg Meuthen auf der kleinen Feier des AfD-Bundesvorstands in Berlin das relativ schwache Abschneiden seiner Partei in Niedersachsen unter anderem damit, dass die Region im Gegensatz zum katholisch geprägten Süden und zum »atheistischen« Osten protestantisch sei und daher »tendenziell linker« wähle.[8] Doch betrachtet man nun die Wahlanalysen, trügt diese Einschätzung – unabhängig von der Validität dieser Aussage angesichts genötigter politischer Relativierung. Denn historisch betrachtet war schließlich die protestantische Konfession immer schon ein entscheidendes Moment für den Antrieb rechter Parteien. Vor allem in Niedersachsen, dem einstigen »Stammland des Nachkriegsrechtsradikalismus«[9], konnten Parteien wie die neonazistische SRP Anfang der 1950er Jahre oder auch die deutschnationale NPD unter Adolf von Thadden Ende der 1960er Jahre gerade im protestantischen Milieu erfolgreich sein. Doch der konfessionelle Kitt als wahlentscheidendes Moment hat in der fragmentiert-individualisierten Gesellschaft freilich an Bedeutung verloren. Heutzutage scheinen andere Motive für die Wahlunterstützung wirkmächtig zu sein, nur dass sich die Wahlforschung auf dieses neue AfD-Phänomen noch gar keinen Reim machen kann.
Soziostrukturell betrachtet wird die AfD deutlich öfter von Männern als von Frauen gewählt.[10] Tendenziell am meisten Zuspruch erhält sie in den Altersgruppen zwischen 25–34 und 35–44 Jahren. Zwar sammeln sich hinter der AfD auch relativ viele Menschen aus eher bildungsfernen Milieus; aber der ebenso große Anteil an Wählern mit mittlerer Bildung verweist darauf, dass der prototypische AfD-Wähler nicht zwangsläufig ungebildet sein muss.[11] Außerdem erhält die Partei quer durch alle Berufsgruppen Zustimmung. Sie wird sowohl von Angestellten, Beamten, Selbstständigen als auch von Rentnern gewählt – in all diesen Gruppen liegt sie über fünf Prozent. Auch wenn prozentual in Niedersachsen am meisten Arbeiter und Arbeitslose die Partei gewählt haben, deckt sich dies dennoch mit neueren Wahlanalysen, die darauf hindeuten, dass die sogenannte Modernisierungsverlierer-These – also die Vorstellung, sozioökonomisch Abgehängte (oder sich zumindest so Fühlende) würden eher rechte Parteien wählen – für die AfD-Wählerschaft zu kurz greift.[12] Denn weder ein geringer Bildungsgrad, ein Arbeiterstatus noch eine untere Einkommensschicht gehen statistisch betrachtet mit einer häufigeren AfD-Unterstützung einher.[13]
In jedem Fall wirkt die sogenannte Flüchtlingsfrage als Katalysator eines tieferliegenden Unbehagens. Die AfD errang ihre besten Ergebnisse in Salzgitter, Delmenhorst und Wilhelmshaven, also in solchen Städten, in denen im niedersächsischen Vergleich der Anteil an seit 2015 zugezogenen Flüchtlingen am höchsten ist.[14] Dies deutet darauf hin, dass gerade in mittelgroßen Städten die Sichtbarkeit der Veränderung durch Zugezogene einen wahlentscheidenden Einfluss ausübt, ohne dass damit allerdings etwas über die intrinsische Motivation ausgesagt werden kann. Denn gerade diese bleibt weiterhin eher im Dunkeln. Lediglich in Umrissen deuten sich unterscheidbare Kriterien an.[15] AfD-Wähler votieren mit 68 Prozent stärker als andere Parteianhänger für die Stärkung nationaler Grenzen. Während bei allen anderen Parteien jeweils über achtzig Prozent für ein »weltoffenes Land« plädieren, geben dies unter AfD-Anhängern nur 26 Prozent an.[16] Bereits vor der Landtagswahl gab in einer Umfrage mehr als jeder dritte Niedersachse an, zu befürchten, dass durch die Flüchtlingsmigration die deutsche Kultur und Sprache verloren gehe. Fast alle AfD-Anhänger (99 Prozent) haben dieser Aussage zugestimmt.[17] Zwar beurteilen AfD-Wähler die aktuelle wirtschaftliche Lage in Niedersachsen zu 59 Prozent als gut und zu 35 Prozent als schlecht, womit sich die Werte etwas von den Parteianhängern von SPD wie CDU unterscheiden (beide 89 zu neun bzw. elf Prozent). Aber dennoch ist dies kein spezifisches AfD-Charakteristikum, denn auch die Linkspartei-Anhänger beurteilen die aktuelle wirtschaftliche Lage und die soziale Ungerechtigkeit ähnlich.[18]
Das wohl beliebteste und geläufigste Erklärungsmuster, warum jemand die AfD wählt, ist zweifelsohne das Protestmotiv.[19] Demnach wähle ein Großteil der sogenannten Protestwähler lediglich eine solche Partei, um den anderen Parteien einen »Denkzettel« zu verpassen.[20] Und in der Tat mag auf den ersten Blick diese Einschätzung auch für die AfD zutreffen, denn immerhin geben fast alle AfD-Wähler an (97 Prozent), die Partei auch aus »Protestgründen« gewählt zu haben. Doch bei genauerem Hinsehen kommen Zweifel an dieser Aussage auf, denn gegen sie spricht nicht nur die zeitliche Dimension: Dieses Erklärungsmuster wurde der AfD-Wahl bereits 2013 aufgedrückt. Zwar haben sich die inhaltlichen Dimensionen diesbezüglich fraglos verschoben, der »Protest« richtet sich nicht mehr gegen die als »alternativlos« ausgerufene Sachpolitik der Eurogruppenländer (wobei auch dieser »Protest« schon nicht altruistisch motiviert war), sondern die diffuse Empörung richtet sich nunmehr abstrakt gegen einen als nicht mehr kollektivistisch wahrgenommenen Gesellschafts- und Staatskörper. Das Bild des »Protestes« suggeriert hingegen ein temporäres und auf Einzeldimensionen beschränktes Wahlmotiv. Es beschreibt eine kurzfristige oder kurzlebige Enttäuschung gegenüber der eigentlich präferierten Partei.[21] Doch das Mantra der Protestwahl muss auch aus einem anderen Grund angezweifelt werden, denn die empirische Validität dieser Aussage, auf die sich gerne berufen wird, steht methodisch auf tönernen Füßen. Denn: Das Protestmotiv wird methodisch in Umfragen mit folgender Frage ermittelt: »Die AfD ist die einzige Partei, mit der ich meinen Protest gegenüber der vorherrschenden Politik ausdrücken kann«[22]. Doch diese Frage ist suggestiv, unabhängig davon, aus welch unterschiedlichen Gründen sich jemand für die Wahl der AfD entscheidet, eine solche Frage kann die entsprechende Person folglich nur bejahen.
Entsprechende Zweifel werden noch zusätzlich dadurch genährt, zieht man ein anderes Item aus der gleichen Umfrage heran. Auf die Frage: »Haben Sie ihre Partei gewählt, weil Sie von ihr überzeugt sind/von anderen enttäuscht sind?«, gaben vierzig Prozent der AfD-Wähler an, diese aus Überzeugung, und 56 Prozent, die AfD aus Enttäuschung gewählt zu haben.[23] Dieses zusätzliche Item verrät, dass die erste Protestfrage tiefergehende Entwicklungen verdeckt. Denn obwohl fast alle AfD-Wähler das Protestmotiv angeben, sagen gleichzeitig immerhin vierzig Prozent »von der AfD überzeugt zu sein«[24]. Das Bild der Protestwahl mag einen wahren Kern haben, weil schließlich gesellschaftliches Unbehagen kommuniziert wird, das zumindest oberflächlich auch unter dem inflationär verwendeten Wort »Protest« subsumiert werden kann. Aber als Erklärungsfolie reicht es bei Weitem nicht aus.
Was AfD-Anhänger allerdings auszeichnet, ist eine grundlegende Ablehnung des demokratischen Systems, insofern, als die AfD-Wähler mit deutlicher Mehrheit (71 Prozent) unzufrieden mit der Demokratie sind, so wie sie aktuell funktioniert. Dies ist der größte Unterschied im Vergleich zu den anderen Parteianhängern. Und in dieser Klarheit deutet diese Aussage daraufhin, dass die AfD vor allem tieferliegende Einstellungsmuster aggregiert und artikuliert, die sich in Teilen der Gesellschaft wohl schon länger aufgestaut haben. Ihr »Protest« richtet sich nicht nur gegen bestimmte politische Entscheidungen. Die Ursache ihrer Ablehnungshaltung liegt wohl in einem geänderten kulturellen wie informationellen Klima und in einer anderen Erwartungshaltung an Politik. Die Frustration über den politischen Betrieb muss sich anscheinend in Teilen der Gesellschaft dermaßen tief festgesetzt haben, dass die aktuelle Performanz der AfD ausreicht, um vordergründig Befriedigung zu verschaffen. Nur so ist auch zu erklären, wieso die Selbstzerfleischung der Partei ihr gerade nicht schadet, während früher genau dies doch rechte Parteien zuverlässig in die Bedeutungslosigkeit führte.
Es gehört wohl zur Ironie des bundesdeutschen Parlamentarismus, dass Wählerschaften selten ihre Wahlentscheidungen nach ihren eigenen Interessen und nach dem politischen Zustand der präferierten Partei ausrichten. Wenn es so wäre, hätten wir sicher ganz andere Zustände in diesem Land. Insofern haben diese Beharrungskräfte und Resilienz sicherlich auch ihr Gutes. Der relative Erfolg der AfD in Niedersachsen deutet zugleich aber auf ein rechtsnationales Potenzial hin, das sich inzwischen anders als noch vor zehn Jahren offen artikulieren will und auch verfestigen könnte.[25] Freilich speist sich die AfD-Wählerschaft zu einem Teil aus dem Spektrum der extremen Rechten. Aus demokratietheoretischer Sicht erweist die AfD der Demokratie damit einen Bärendienst. Denn ein gewisser Bodensatz an rechten Einstellungen ist nun einmal in modernen Gesellschaften eine »normale Pathologie« (Scheuch/Klingemann). Bis zu einem gewissen Grad führt die AfD diese Stimmen und vor allem vormalige Nichtwähler wieder an die Wahlurnen. Das hatten sich manche Auguren der vergangenen Jahre sicherlich anders vorgestellt, als man sich noch süffisant über sinkende Wahlbeteiligung als größte »Gefahr für die Demokratie« echauffieren konnte.[26] Denn zweifelsohne endet der demokratietheoretisch förderliche Beitrag der AfD spätestens an dem Punkt, an dem die zivilisierenden Kräfte des Parlamentarismus versagen. Wir kennen diesen Effekt etwa von der Sozialdemokratie, die bis in die 1950er Jahre hinein die Gesellschaft noch wirklich tiefgehend verändern wollte, oder von den Grünen, die bis in die 1980er Jahre hinein noch Revoluzzer in ihren Reihen hatten. Kraft der Institutionalisierung dieser politischen Kräfte in die staatlichen Verwaltungsapparate[27] und der »Verbeamtung des Protests« (Franz Walter) gehören diese Parteien nunmehr zu den staatstragenden Agenten per se. Ob ein solcher Prozess bei der AfD einsetzt, wird sich erst noch zeigen. In einer Partei, die im Deutschen Bundestag sitzt und sich weiterhin hinter Björn Höcke stellt, erscheint dies aktuell zumindest fraglich – auch wenn es nicht ausgeschlossen ist.
Jedenfalls: Wer über die AfD-Wählerschaft lediglich in den Kategorien von Rechtsradikalen und Protestwählern denkt, macht es sich zu einfach. Zugegeben: In Niedersachsen zeichnet sich das gesellschaftliche Unbehagen dank oder gerade trotz Trägheitsmomenten weniger stark ab als bei anderen Wahlen der letzten Jahre. Dennoch kann im Umkehrschluss keineswegs von Zufriedenheit und Vertrauen in die Politik die Rede sein. Seit Jahren mehren sich die Anzeichen, dass es in der sogenannten bürgerlichen Mitte gewaltig rumort: Das Misstrauen in der Gesellschaft nimmt immer mehr zu, soziale Fragen werden lediglich in Phantomdebatten angegangen (ob nun 8,84 oder 9,00 Euro Mindestlohn) und die politisch-leidenschaftliche Partizipation erlahmt gerade in dieser so wichtigen »bürgerlichen Mitte« in Institutionen wie Parteien (bei allen immanenten Problemlagen, die dazu geführt haben).[28] Der Erfolg der AfD resultiert schließlich nicht nur daraus, dass diese Partei die subalternen Gruppen mobilisiert hat – für diesen Teil der Gesellschaft interessiert sich schon seit Langem kaum jemand mehr. Die aktuelle Hysterie über die AfD kommt vielmehr daher, dass Teile dieser bürgerlichen Mitte, die so lange als Bastion und Bollwerk der gesellschaftlichen Stabilität galten, nervös werden und ihre Wahlentscheidungen zugunsten der AfD zumindest nicht mehr kategorisch und absolut ausgeschlossen werden können.[29] Vieles deutet derzeit auf neue grundlegende kulturelle Konfliktlinien hin, die aber eben auch sozioökonomisch produziert und projiziert werden.[30] Da helfen rhetorische Leitfäden zum Umgang mit »Rechten«[31] der sich selbst vergewissernden linksliberalen Intelligenz nur wenig.
[1] Vgl. Kassel, Dieter: Die Wissenschaft hinkt der AfD hinterher, in: Deutschlandfunk Kultur, 26.09.2017.
[2] Infratest Dimap: Wahlreport Landtagswahl Niedersachsen 2017. Eine Analyse der Wahl vom 15. Oktober 2017, Berlin 2017, S. 23.
[3] Vgl. bspw. Fiedler, Maria: Warum die AfD in Niedersachsen strauchelt, in: Tagesspiegel, 13.10.2017; Willner, Tanja: Warum die AfD in Niedersachsen kaum eine Rolle spielt, in: Focus, 09.10.2017.
[4] Vgl. Niedermayer, Oskar: Eine neue Konkurrentin im Parteiensystem? Die Alternative für Deutschland, in: ders. (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2013, Wiesbaden 2015, S. 175–207.
[5] Vgl. zu diesen Landesverbandsprofilen Hensel, Alexander; Finkbeiner, Florian u.a.: Die AfD vor der Bundestagswahl 2017. Vom Protest zur parlamentarischen Opposition, Frankfurt a.M. 2017.
[6] Vgl. im Folgenden Infratest Dimap: Wahlreport Landtagswahl Niedersachsen 2017, S. 60.
[7] Ebd.
[8] Zitiert nach Steffen, Tilmann/Greven, Ludwig: AfD Niedersachsen. »Die Nerven liegen blank«, in: Die Zeit, 16.10.2017.
[9] Grebing, Helga: Niedersachsen vor 40 Jahren. Gesellschaftliche Traditionen und politische Neuordnung, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 60/1988, S. 213–227, hier S. 224.
[10] Angaben der AfD-Wahlunterstützung nach ARD und Infratest dimap-Untersuchung, vgl. Infratest dimap: Wahlreport Landtagswahl Niedersachsen 2017, S. 61 f.
[11] Nach Lengfeld haben die meisten AfD-Wähler eher einen mittleren oder höheren Bildungsabschluss, Lengfeld, Holger: Die »Alternative für Deutschland«: eine Partei für Modernisierungsverlierer?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 69 (2017), H. 2, S. 209–232, hier S. 222.
[12] Schmitt-Beck, Rüdiger/Deth, Jan W. van/Staudt, Alexander: Die AfD nach der rechtspopulistischen Wende. Wählerunterstützung am Beispiel Baden-Württembergs, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 27 (2017), H. 3, S. 273–303.
[13] Vgl. Lengfeld, Holger: Die »Alternative für Deutschland«: eine Partei für Modernisierungsverlierer?, S. 223.
[14] Vgl. Hendrich, Cornelia Karin: »Der soziale Frieden droht zu kippen«, in: Die Welt, 16.10.2017.
[15] Vgl. Infratest Dimap: Wahlreport Landtagswahl Niedersachsen 2017, S. 23.
[16] Ebd., S. 27.
[17] Ebd., S. 28.
[18] Vgl. ebd., S. 24 f.
[19] Vgl. Billerbeck, Liane von: »Die Protestwahl ist enttabuisiert«, in: Deutschlandfunk Kultur, 09.02.2015.
[20] Vgl. Schumann, Siegfried: Formen und Determinanten der Protestwahl, in: Gabriel, Oscar W. (Hrsg.): Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Wiesbaden 1997, S. 401–421.
[21] Zur Debatte um die sogenannte »Protestwahl«, vgl. Arzheimer, Kai: Die Wähler der extremen Rechten 1980-2002, Wiesbaden 2008, S. 104 f.
[22] Infratest Dimap: Wahlreport Landtagswahl Niedersachsen 2017, S. 37.
[23] Ebd., S. 91.
[24] Ebd., S. 62.
[25] Vgl. Schwarzbözl, Tobias/Fatke, Matthias: Außer Protesten nichts gewesen? Das politische Potenzial der AfD, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 57 (2016), H. 2, S. 276–299.
[26] Vgl. Bell, Arvid: Demokratie in Gefahr, in: Die Zeit, 23.09.2009.
[27] Vgl. Flechtheim, Ossip K.: Die Institutionalisierung der Parteien in der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 9 (1962), H. 2, S. 97–110.
[28] Ausdrücklich zu empfehlen ist hierzu die aktuelle Debatte im Merkur, vgl. Möllers, Christoph: Wir, die Bürger(lichen), in: Merkur, Jg. 71 (2017), Nr. 818, S. 5–16; Fach, Wolfgang: Ab durch die bürgerliche Mitte?, in: Merkur, Jg. 72 (2018), Nr. 824, S. 79–86.
[29] Vgl. Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016.
[30] Vgl. Inglehart, Ronald/Norris, Pippa: Trump, Brexit, and the rise of populism: Economic have-nots and cultural backlash. HKS Working paper 2016.
[31] Leo, Per/Steinbeis, Maximilian/Zorn, Daniel-Pascal: Mit Rechten reden. Ein Leitfaden, Stuttgart 2017.