Macht Stadtluft zufrieden?Unterstützung des politischen Systems in urbanen und ländlichen Räumen
Unterschiede zwischen Stadt und Land sind eine zentrale Triebfeder politischer Auseinandersetzungen. Sie spielen bereits in der Cleavage-Theorie von Seymour M. Lipset und Stein Rokkan aus den 1960er-Jahren[1] eine zentrale Rolle. In jüngster Zeit beobachten wir nun ein neu erwachtes Interesse der Politikwissenschaft am Stadt-Land-Konflikt. In diesem Beitrag gehen wir daher der Frage nach, ob Stadt-Land-Unterschiede in den politischen Einstellungen auch in Niedersachsen nachgewiesen werden können. Dabei lassen wir Unterschiede in Bezug auf Parteipräferenzen außer Acht und konzentrieren uns stattdessen auf die grundlegendere Unterstützung des politischen Systems. Hierzu erläutern wir zunächst den theoretischen Hintergrund der Analyse und erklären, woher die geografische Prägung politischer Einstellungen rührt. Im Anschluss untersuchen wir anhand von Daten des Niedersächsischen Demokratie-Monitors (NDM) 2021, ob die politische Systemunterstützung in Niedersachsen tatsächlich strukturell durch Stadt-Land-Muster geprägt ist oder ob es vielmehr individuelle Faktoren sind, die Unterschiede in der Systemunterstützung erklären können.
Gegenwärtige Stadt-Land-Unterschiede und ihr Effekt auf die Systemunterstützung
Hintergrund des neu erwachten Interesses an potenziellen Konflikten zwischen urbanen und ruralen Räumen ist die Beobachtung, dass ländliche Regionen zum Beispiel in den USA deutlich konservativer wählen als Großstädte.[2] Ähnlich gelagerte Stadt-Land-Unterschiede im Wahlverhalten zeigen sich auch in Deutschland und in Niedersachsen. Hierzulande scheinen die Wähler*innen in ländlich geprägten Regionen empfänglicher für rechtsextreme und -populistische Parteien zu sein als jene in Groß- und Universitätsstädten. Die Ergebnisse der AfD zum Beispiel sind auf dem Land deutlich besser als in urbanen Gegenden.[3] James Gimpel und Kolleg*innen[4] schlussfolgern in diesem Zusammenhang, dass politische Einstellungen nicht nur abhängig sind von individuellen Charakteristika wie beispielsweise dem sozio-ökonomischen Status oder dem Geschlecht, sondern dass sie auch eine starke strukturelle, räumliche Prägung aufweisen. Damit, so der Geograph Andrés Rodríguez-Pose, wird die Wahl (rechts-)populistischer Parteien dann zu einer »revenge of the places that don’t matter«[5]. Laut Rodríguez-Pose richte sich diese Revolte gegen die Folgen der Konzentrationsprozesse in modernen Marktwirtschaften, die die ökonomische Entwicklung urbaner Zentren beförderten, in der ländlichen Peripherie aber zu einem Niedergang führten. Die sich entwickelnde Konfliktlinie verliefe demnach nicht mehr zwischen Arm und Reich, wie beispielsweise Thomas Piketty[6] betont, der die Ungleichheit zwischen Individuen ins Zentrum seiner Betrachtung rückt. Vielmehr gerieten prosperierende und abgehängte Regionen in Konflikt miteinander. Dem Argument von Rodríguez-Pose folgend wäre das Wahlverhalten demnach nicht durch individuelle, sondern durch strukturell-räumliche Faktoren geprägt. So wählten Menschen in den Großstädten unabhängig von Alter, Geschlecht und sozio-ökonomischem Status eher linke, Menschen auf dem Land eher rechte Parteien – auch wenn dies nicht mit ihrer jeweiligen individuellen (zum Beispiel sozio-ökonomischen) Lage und den daraus erwachsenden Interessen vereinbar sei. Und nicht nur die Wahl rechtsextremer und -populistischer Parteien ist auf dem Land weiter verbreitet als in Großstädten. Auch die Demokratiezufriedenheit ist in ländlich geprägten Regionen in Europa und auch in Deutschland geringer als in urbanen Zentren.[7]
Doch woher rührt diese geografische Prägung politischer Einstellungen und insbesondere die geringere Unterstützung des politischen Systems in ländlichen Regionen? Einige Untersuchungen heben hier insbesondere auf ökonomische, in der individuellen Lebenssituation liegende Gründe ab. Als Ursachen für das geringere Institutionenvertrauen als einer Facette der Systemunterstützung etwa im ländlichen Südeuropa seit 2008 führen Frieder Mitsch und Kolleg*innen[8] insbesondere die Unzufriedenheit mit Gesundheitsversorgung, Bildungsangeboten und der wirtschaftlichen Entwicklung an. Die Mehrzahl aktueller Studien hebt aber eher strukturelle Erklärungen für die in den letzten Jahren beobachtbare ablehnende Haltung gegenüber dem politischen System und seiner Eliten in ländlichen Regionen hervor. So beschreibt Yotam Margalit[9], dass langfristige sozialstrukturelle Entwicklungen wie ein besserer Zugang zu höherer Bildung, zunehmende ethnische Vielfalt, Urbanisierung und größere Geschlechtergleichheit auf immer breitere Akzeptanz in immer weiteren städtischen Gesellschaftskreisen stoßen. Dem entgegen steht ein im Zuge der Globalisierung angelegtes und durch Zuzug von Migrant*innen verstärktes Gefühl einer kulturellen Bedrohung auf dem Land: Vormals dominante Mehrheiten haben plötzlich den Eindruck, dass ihr sozialer Status in Frage gestellt wird. Sie werden empfänglich für populistische und rechtsextreme Narrative, in denen diese als Bedrohung wahrgenommenen Veränderungen darauf zurückgeführt werden, dass eine abgehobene, kosmopolitisch-urbane Elite die Interessen der Mehrheit nicht vertreten würde. Individuelle ökonomische Herausforderungen tragen in dieser Lesart zwar zur abnehmenden Systemunterstützung in ländlichen Regionen bei, sie sind aber nicht der ursächliche Grund für diese Entwicklung. Vielmehr prägen strukturelle, regional geprägte kulturelle Konflikte diese Systemkritik.
Dass diese Analysen ein relevantes Phänomen beschreiben, lässt sich mit einer Reihe von Beispielen belegen: Zu nennen wären etwa die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich oder die erfolgreiche Brexit-Kampagne, die beide als Ausdruck einer Unzufriedenheit mit urbanen Eliten in fernen Hauptstädten interpretiert werden können. Einen systematischeren Blick auf die Mechanismen, die der Unzufriedenheit mit dem politischen System und seinen Eliten zugrunde liegen, ermöglichen ethnografische Studien. Die autobiografische Studie »Rückkehr nach Reims«, die der Soziologe Didier Eribon[10] bereits 2009 (und damit lange vor den Aktivitäten der Gelbwesten) auf Französisch veröffentlicht hat, zeigt, wie wahrgenommene Bedrohungen des sozialen Status sich in der nordfranzösischen Arbeiterklasse in rechtspopulistischen Einstellungen, in Homophobie und Rassismus niederschlagen. Auch eine Untersuchung von Katherine Cramer Walsh[11] zu ländlichen Gemeinden in Wisconsin legt nahe, dass kultureller Wandel die Triebfeder der wachsenden Systemskepsis auf dem Land ist. Die Ablehnung urbaner Eliten ist in Wisconsin verwoben mit Wahrnehmungen des relativen sozialen und ökonomischen Status: Bewohner*innen ländlicher Gegenden und kleiner Städte verbinden den ökonomischen Niedergang ihrer Region mit politischer Bevorzugung urbaner Räume und deren liberaler Bewohner*innen durch urbane und liberale Eliten. So wird ein Gefühl des Abgehängtseins und ein wahrgenommener Gegensatz zwischen urbanen Eliten und der Bevölkerung auf dem Land in Bezug auf Machtressourcen, ökonomische Ressourcen sowie Lebensstile und Werte genährt.
Dieses Phänomen finden wir jedoch nicht nur in Frankreich oder den USA, sondern auch vor der eigenen Haustür. Die qualitative Vertiefungsstudie zum NDM aus dem Jahr 2023[12] weist die punktuelle Anschlussfähigkeit an populistische Narrative auch in Niedersachsen nach. Und zwar nicht in den abgehängten Regionen des Landes, sondern im ökonomisch prosperierenden Speckgürtel um Hamburg, der in Teilen allerdings stark ländlich geprägt ist. Selbst in einer Gemeinde wie Rosengarten im Landkreis Harburg, die aufgrund ihrer hervorragenden sozial-strukturellen Rahmenbedingungen und trotz ihres ländlichen Charakters ein eher unwahrscheinlicher Ort für den Systemskeptizismus der Abgehängten und Vergessenen sein sollte, äußern Teilnehmer*innen in Gruppendiskussionen deutlich ablehnende und mit Fäkalausdrücken garnierte Haltungen gegenüber urbanen Eliten, die vom Landleben keine Ahnung hätten:
»Schauen wir doch mal von der Bundespolitik bis zum kleinen Dorf. Kommt denn aus dem fernen Berlin, was dort entschieden wird von den Leuten, die mit den Tretrollern, die sie sich für teures Geld die Minute mieten, kommt da eine Entscheidung in diesem Dorf an? […] Wissen die, dass das, was sie in dem Bio-Supermarkt, wo sie da einkaufen, irgendwo auf dem Acker wachsen muss? Und dass nun mal auf dem Acker nichts wächst, wenn da nicht vorher Scheiße draufkommt, um es zu düngen? Ich glaube, an der Stelle haben wir ein Problem.«[13]
Die kulturellen Differenzen zwischen den Menschen in der Stadt und den Bewohner*innen des ländlichen Rosengartens betont eine Person, die zur Arbeit regelmäßig nach Hamburg pendelt:
»Also, ich bin auf jeden Fall froh, dass wir viele Gruppen hier einfach auch nicht haben, weil ich kenne das von meinem Büro. Alles super, alles bunt und man muss sich möglichst korrekt ausdrücken. Dass ich hier beim Bäcker noch normal sprechen kann, ohne Gendersternchen und diesen ganzen Quatsch. […] Bin ich froh, dass das in der Stadt bleibt und ich das nicht mit nach Hause nehmen muss (lacht).«[14]
Wir können also davon ausgehen, dass Systemzufriedenheit auch in Niedersachsen durch strukturelle geografische Aspekte geprägt wird. Menschen in ländlichen Regionen, so die erste Annahme, die wir im folgenden Abschnitt prüfen werden, unterstützen demnach das politische System in geringerem Maße als Menschen in urbanen Ballungsräumen. Um zu untersuchen, ob strukturelle geografische Faktoren tatsächlich einen stärkeren Einfluss auf die Systemunterstützung haben als individuelle Charakteristika, prüfen wir zudem eine zweite Hypothese: Neben der räumlichen Prägung spielt – so nehmen wir an – auch das individuell wahrgenommene Abgehängtsein eine wesentliche Rolle. Menschen, die ihre Zukunftsaussichten als schlecht bezeichnen, unterstützen das politische System demnach in geringerem Maße als diejenigen, die positiv in die Zukunft blicken.
Ländlichkeit, wahrgenommene Zukunftsperspektiven und Systemunterstützung in Niedersachsen
Diese Annahmen prüfen wir im folgenden Abschnitt mit Hilfe von Daten des NDM 2021[15], für den zwischen dem 30. April und 13. Juni 2021 1.001 zufällig ausgewählte Bürger*innen mit Wohnsitz in Niedersachsen telefonisch befragt wurden. Zur Messung der Systemunterstützung ziehen wir drei Indikatoren heran, um verschiedene Positionen auf dem Kontinuum zwischen diffuser und spezifischer Systemunterstützung[16] abbilden zu können. Spezifische Systemunterstützung bezieht sich auf die politischen Akteure*innen und auf konkrete Institutionen wie die niedersächsische Landesregierung. Sie ist stark durch die Ergebnisse von deren politischem Handeln beeinflusst und demnach von den politischen Präferenzen der Befragten abhängig. Deshalb unterliegt sie starken Schwankungen im Zeitverlauf, ist also durch politische Maßnahmen kurzfristig beeinflussbar. Zur Messung der spezifischen Unterstützung verwenden wir eine Frage zum Vertrauen in die niedersächsische Landesregierung.[17] Diffuse Unterstützung hingegen bezeichnet eine stabile, wertebasierte und von grundsätzlichen Überlegungen geprägte Einstellung gegenüber den Grundlagen des politischen Systems. Diese prinzipielle Systemunterstützung messen wir mit Hilfe des Index »Unterstützung der repräsentativen Demokratie«, der die Antworten auf zwei Fragen zur Notwendigkeit von Parteien und Opposition kombiniert.[18] Zwischen diesen beiden Polen der spezifischen und diffusen Systemunterstützung ist die Zufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland angesiedelt, die wir als dritten Aspekt messen.[19]
Als erklärende Variablen nutzen wir zur Untersuchung der geografischen Prägung der Systemunterstützung den vom Thünen-Institut herausgegebenen Ländlichkeits-Index[20], der abbildet, wie stark ländlich oder städtisch der Wohnort unserer Befragten geprägt ist. Darüber hinaus berücksichtigen wir mit einer Frage nach den Zukunftsaussichten der Befragten deren subjektive Einschätzung ihrer persönlichen Situation.[21]
Blicken wir zunächst auf den Zusammenhang zwischen Ländlichkeit und politischer Systemunterstützung (siehe Abbildung 1). Es zeigt sich, dass alle drei Variablen zur Unterstützung des politischen Systems, die aus Gründen der besseren Les- und Vergleichbarkeit auf einen Wertebereich von 0 bis 4 skaliert wurden, eher Systemunterstützung als -kritik anzeigen. In allen Fällen liegen die Werte über zwei Punkten und damit im positiven Bereich. Unabhängig von der ländlichen oder urbanen Prägung ihres Lebensumfelds zeigen sich die Befragten demnach zumindest »eher« vertrauensvoll gegenüber der Landesregierung, sind »eher zufrieden« mit dem Zustand der Demokratie und unterstützen die Grundwerte der repräsentativen Demokratie »eher« als sie diese ablehnen. Allerdings beobachten wir deutliche Niveauunterschiede. Die Zufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie schneidet am schlechtesten ab, das Vertrauen in die Landesregierung nimmt eine Mittelposition ein und die Prinzipien der repräsentativen Demokratie finden den größten Rückhalt in Niedersachsen. Unterschiede zeigen sich auch zwischen städtischen und ländlichen Räumen. Während die Zufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie sowie die Unterstützung für demokratische Prinzipien in ländlichen Regionen tendenziell schwächer ausgeprägt sind als in den Städten, deutet sich für das Vertrauen in die Landesregierung ein umgekehrter Zusammenhang an. Die Befragten scheinen der Landesregierung umso mehr zu vertrauen, je ländlicher ihr Wohnort geprägt ist.
Auf den ersten Blick scheinen sich unsere Annahmen in Bezug auf die Demokratiezufriedenheit sowie die Unterstützung der repräsentativen Demokratie demnach zumindest teilweise zu bestätigen: Stadtmenschen sind zufriedener mit dem Zustand der Demokratie und unterstützen die Prinzipien der repräsentativen Demokratie in höherem Maße als die Menschen auf dem Land. Allerdings fallen die Unterschiede zwischen ländlichen und urbanen Räumen recht gering aus. Nicht bestätigen lässt sich unsere Annahme zur geografischen Prägung des Vertrauens in die Landesregierung, die zum Zeitpunkt der Umfrage noch von SPD und CDU getragen wurde: Entgegen der ersten Hypothese zur geringeren politischen Systemunterstützung vertrauen die Befragten der Landesregierung umso mehr, je ländlicher ihr Wohnumfeld ist.
Etwas deutlichere Zusammenhänge beobachten wir im Fall der politischen Systemunterstützung und bei den individuell wahrgenommenen Zukunftsaussichten der Befragten (siehe Abbildung 2). Je negativer deren Zukunftsaussichten, desto geringer auch ihre Systemunterstützung. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Zufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie. Diejenigen, die die eigene Zukunft im Vergleich zu heute »schlechter« einschätzen, sind im Mittel »eher unzufrieden« mit dem Zustand der Demokratie (1,8 von 4 Punkten). Die Zufriedenheit steigt dann bei denjenigen, die für die Zukunft eine Besserung ihrer Lebensumstände erwarten, um 0,8 Punkte auf 2,6 Punkte an. Auch das Vertrauen in die Landesregierung ist bei den Befragten, die pessimistisch in die Zukunft blicken, am geringsten, aber – anders als die Demokratiezufriedenheit – mit 2,4 Punkten deutlich im positiven Bereich. Auch beim Vertrauen in die Landesregierung beobachten wir eine Verbesserung der Werte bei denjenigen, die die eigene Zukunft gleich (2,9 Punkte) oder gar besser (3,0 Punkte) bewerten.
Eine Auf- und Abbewegung finden wir bei der Unterstützung der repräsentativen Demokratie. Sie ist bei den Befragten, die pessimistisch in die Zukunft blicken, mit 3,4 Punkten niedriger als bei denen, die keine deutlichen Veränderungen erwarten (3,7 Punkte), sinkt bei denjenigen, die optimistisch in die Zukunft blicken, aber wieder leicht auf 3,5 Punkte ab.
Die bisher berichteten Ergebnisse beruhen auf Mittelwertvergleichen für einzelne Gruppen von Befragten und lassen – insbesondere bei den zum Teil nur sehr geringen Unterschieden zwischen den Gruppen – keine Rückschlüsse zu, ob diese Unterschiede tatsächlich substanziell sind. Um dies beurteilen zu können, sind multivariate Regressionsanalysen notwendig, die erstens erlauben, die Effekte von Ländlichkeit und Zukunftsaussichten gleichzeitig zu betrachten und zudem die Möglichkeit bieten, die Kontrollvariablen Alter, Geschlecht und Einkommen einzubeziehen.
Untersuchen wir also, wie strukturelle geografische Faktoren und individuelle Zukunftseinschätzungen gemeinsam auf Vertrauen in die Landesregierung, die Demokratiezufriedenheit und die Unterstützung der repräsentativen Demokratie wirken. In Abbildung 3 sind die Regressionskoeffizienten für die jeweiligen Zusammenhänge abgetragen. Es bestätigt sich, dass Ländlichkeit auf das Vertrauen der Befragten in die Landesregierung (Diamant in der oberen Hälfte von Abbildung 3) einen positiven Effekt hat. Für die Demokratiezufriedenheit (Kreis) und die prinzipielle Unterstützung der repräsentativen Demokratie (Quadrat) finden wir hingegen keine Effekte, die Koeffizienten sind statistisch nicht signifikant.[22] Für den Grad der Ländlichkeit des Wohnumfeldes der Befragten finden wir demnach entweder keine Effekte auf die Unterstützung des politischen Systems – oder wir finden Effekte, die unseren oben formulierten Annahmen widersprechen. Das Vertrauen in die Landesregierung ist in ländlichen Regionen entgegen unserer Erwartung nicht niedriger als in der Stadt, sondern im Gegenteil sogar etwas höher. Statistisch liegt das Vertrauen in die Landesregierung in den ländlichsten erforschten Gemeinden (Lüchow, Luckau und Wustrow im Wendland) mit 3,0 Punkten um 0,5 Punkte höher als im urbanen Hannover (2,5 Punkte). Unsere Annahme, dass Menschen in ländlichen Regionen das politische System in geringerem Maße unterstützen als jene in urbanen Zentren, lässt sich nicht bestätigen.
Auch für die von den Befragten artikulierten Zukunftsaussichten (untere Hälfte von Abbildung 3) bestätigen sich die oben bereits berichteten Effekte, stimmen aber im Gegensatz zur Ländlichkeit in weiten Teilen mit unseren Erwartungen überein: Je optimistischer (pessimistischer) die Menschen in die Zukunft blicken, desto mehr (weniger) Vertrauen setzen sie in die Landesregierung und desto höher (geringer) ist ihre Demokratiezufriedenheit. Rechnerisch vertrauen Menschen, die die eigene Zukunft besser einschätzen als die heutige Lage (3,1 Punkte), der Landesregierung um 0,6 Punkte mehr als diejenigen, die für ihre Zukunft Schlechtes erwarten (2,5 Punkte). In absoluten Werten exakt genauso stark ist die Steigerung des Werts der Demokratiezufriedenheit um ebenfalls 0,6 Punkte. Da die Demokratiezufriedenheit insgesamt aber auf einem niedrigeren Niveau liegt als das Vertrauen in die Landesregierung, fällt die Steigerung von 2,0 Punkten bei den Pessimisten auf 2,6 Punkte bei den Optimisten relativ gesehen etwas stärker aus. Dies lässt sich an dem etwas höheren Wert des Regressionskoeffizienten (Kreis in der unteren Hälfte von Abbildung 3) ablesen. Für die Grundwerte der repräsentativen Demokratie hingegen übersetzt sich das oben beschriebene Zick-Zack-Muster von aufsteigender und wieder absinkender Unterstützung demokratischer Prinzipien in einen statistisch nicht signifikanten Effekt der individuellen Zukunftsaussichten (Dreieck in der unteren Hälfte von Abbildung 3). Unsere zweite Hypothese wird demnach zumindest in Teilen durch die Daten gestützt.
Zusammengenommen sind das für die niedersächsische Landesregierung gute Nachrichten. Sie profitiert von positiven Zukunftsaussichten der Befragten und erfährt gerade in ländlichen Gegenden besondere Unterstützung. Darüber hinaus haben positive Zukunftsaussichten einen ebenfalls förderlichen Effekt auf die Demokratiezufriedenheit der Befragten. Dass wir keine Effekte von Ländlichkeit und Zukunftsaussichten auf die prinzipielle Unterstützung der repräsentativen Demokratie finden, ist ebenfalls eine gute Nachricht. Diese langfristig stabile Einstellung gegenüber demokratischen Grundwerten scheint immun zu sein gegenüber individuell wahrgenommenen negativen Zukunftsperspektiven und dem oft diskutierten Ressentiment der Landbevölkerung gegenüber der Demokratie und ihren als urban und abgehoben wahrgenommenen Eliten. Negativ zu vermerken ist allerdings, dass die spezifische und eher kurzfristige Unterstützung des politischen Systems, die sich in Demokratiezufriedenheit und Vertrauen in die Landesregierung äußert, leidet, wenn die Menschen pessimistisch in die Zukunft blicken. Und dabei ist es egal, ob diese Menschen, die immerhin rund 20 Prozent unserer Befragten ausmachen, in urbanen oder ländlichen Räumen leben.
Systemunterstützung in Stadt und Land: Licht und Schatten
In diesem Beitrag haben wir die Unterstützung des politischen Systems in Niedersachsen untersucht und gefragt, ob es hier Unterschiede zwischen Stadt und Land gibt. Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die Feststellung, dass in vielen modernen westlichen Demokratien rechte, rechtsextreme und populistische Parteien in abgehängten ländlichen Regionen höheren Zuspruch erhalten als in urbanen Ballungsräumen. Dies, so die Literatur, übersetzt sich oftmals auch in eine geringere Systemunterstützung auf dem Land als in der Stadt. Diese Differenz hat ihre Ursache in einem kulturell begründeten Gefühl des Abgehängtseins und in der empfundenen Benachteiligung durch kosmopolitisch-linksliberale urbane Eliten.
Mit Hilfe von Daten des NDM 2021 und des Thünen-Instituts haben wir empirisch untersucht, ob ein ländlich geprägtes Wohnumfeld und der Blick auf die eigenen Zukunftsaussichten einen Effekt auf die Unterstützung des politischen Systems haben. In Hinsicht auf die eingangs formulierte Fragestellung lässt sich festhalten, dass sowohl strukturelle geografische als auch individuelle Faktoren für die Unterstützung des politischen Systems eine Rolle spielen. Entgegen unserer Erwartung finden wir jedoch keinen negativen Effekt von ländlichem Wohnumfeld auf die Unterstützung des politischen Systems. Im Gegenteil: Die Ergebnisse sind insbesondere für die niedersächsische Landesregierung, die insgesamt hohe Vertrauenswerte erreicht, auf den ersten Blick erfreulich. Sie genießt in ländlichen Gebieten sogar einen höheren Rückhalt als in den urbanen Räumen des Landes. In einem stark ländlich geprägten Bundesland wie Niedersachsen ist dies eine gute Nachricht für die Landesregierung. Ob diese Befunde auch für die erst nach der Feldphase unserer Umfrage im Frühjahr 2021 gebildete rot-grüne Landesregierung gelten, wird der NDM 2023 zeigen.
Auch die Muster, die wir bei der prinzipiellen Unterstützung der Demokratie beobachten, entsprechen nicht den angenommenen Mustern. Wir finden weder Effekte des strukturellen Faktors Ländlichkeit noch der individuellen Einschätzung der Befragten zu ihren Zukunftsperspektiven. Die in anderen Studien oft vorgetragenen Befunde zur Abwendung der Menschen in ländlichen Regionen von den wertebasierten Grundsätzen des politischen Systems und seinen Institutionen lassen sich in Niedersachsen demnach nicht nachweisen.
Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Es zeigt sich nämlich, dass die Zufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie zumindest im Fall der individuell wahrgenommenen Zukunftsperspektiven dem angenommenen Muster folgt: Menschen, die ihre Zukunftsaussichten schlechter beurteilen als ihre heute Situation, sind im Mittel »eher unzufrieden« mit dem Zustand der Demokratie – egal ob sie auf dem Land oder in der Stadt wohnen. Da diese Menschen – spiegelbildlich zu denjenigen, die positiv in die Zukunft blicken – auch geringeres Vertrauen in die Landesregierung setzen, deutet sich hier möglicherweise ein Problem an, zumal die Gruppe der Zukunfts-Pessimisten rund ein Fünftel der Befragten im NDM 2021 ausmacht. Der Mangel an spezifischer Unterstützung des politischen Systems, der sich in geringer Demokratiezufriedenheit und fehlendem Vertrauen in die Landesregierung ausdrückt, ist – so der Konsens in der politikwissenschaftlichen Literatur – die Folge einer wahrgenommenen geringen Leistungsfähigkeit des politischen Systems und mangelhafter Politikergebnisse. Da sie kurzfristiger Natur und stark performanzorientiert sind, können diese negativen Bewertungen prinzipiell durch bessere Leistungen des politischen Systems aufgefangen werden. Gelingt dies aber nicht, so warnte bereits David Easton[23], können die negativen spezifischen in negative diffuse Einstellungen gegenüber dem System umschlagen. Dann würden auch grundlegende Prinzipien der repräsentativen Demokratie in Frage gestellt.
Literatur::
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[1] Lipset, Seymour M. und Rokkan, Stein: Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives, New York 1967.
[2] Gimpel, James G. et al.: The Urban–Rural Gulf in American Political Behavior, in: Political Behavior, Jg. 42 (2020), H. 4, S. 1343–1368, https://doi.org/10.1007/s11109-020-09601-w.
[3] Haffert, Lukas: Stadt, Land, Frust. Eine politische Vermessung, München 2022; Hensel, Alexander: Krisenprotest und neue Polarisierung. Zum Wahlerfolg der AfD bei der niedersächsischen Landtagswahl 2022, in: Demokratie-Dialog, H. 12/2023, S. 56–65, https://doi.org/10.17875/gup2023-2372.
[4] Gimpel et al.: The Urban–Rural Gulf.
[5] Rodríguez-Pose, Andrés: The revenge of the places that don’t matter (and what to do about it), in: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society, Jg. 11 (2018), H. 1, S. 189–209, https://doi.org/10.1093/cjres/rsx024; Rodríguez-Pose, Andrés: The Rise of Populism and the Revenge of the Places That Don’t Matter, in: LSE Public Policy Review, Jg. 1 (2020), H. 1, S. 1–9, https://doi.org/10.31389/lseppr.4.
[6] Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.
[7] Lago, Ignacio: Rural decline and satisfaction with democracy, in Acta Politica, Jg. 57 (2022), S. 753–771, https://doi.org/10.1057/s41269-021-00221-8.
[8] Mitsch, Frieder/Lee, Neil/Ralph Morrow, Elizabeth: Faith no more? The divergence of political trust between urban and rural Europe, in: Political Geography, Jg. 89 (2021), S. 102426, https://doi.org/10.1016/j.polgeo.2021.102426.
[9] Margalit, Yotam: Economic Insecurity and the Causes of Populism, Reconsidered, in: Journal of Economic Perspectives, Jg. 33 (2019), H. 4, S. 152–170, https://doi.org/10.1257/jep.33.4.152.
[10] Eribon, Eric: Rückkehr nach Reims, Berlin 2016.
[11] Walsh, Katherine Cramer: Putting Inequality in Its Place: Rural Consciousness and the Power of Perspective, in: American Political Science Review, Jg. 106 (2012), H. 3, S. 517–532, https://doi.org/10.1017/S0003055412000305.
[12] Kerker, Nina et al.: Deutungsmuster, Mentalitäten und kollektive Identitäten im ländlichen Raum Niedersachsens. 2. Qualitative Vertiefungsstudie des Niedersächsischen Demokratie-Monitors (NDM), Göttingen 2023, https://doi.org/10.17875/gup2023-2408.
[13] Kerker et al.: Deutungsmuster, Mentalitäten und kollektive Identitäten, S. 94–95.
[14] Kerker et al.: Deutungsmuster, Mentalitäten und kollektive Identitäten, S. 54.
[15] Schenke, Julian et al.: Niedersächsischer Demokratie-Monitor 2021, Göttingen 2021, https://doi.org/10.17875/gup2021-1817.
[16] Norris, Pippa: Democratic Deficit: Critical Citizens Revisited, Cambridge 2011; Easton, David: A Systems Analysis of Political Life, New York 1965; Easton, David: A Re-assessment of the Concept of Political Support, in: British Journal of Political Science, Jg. 5 (1975), H. 4, S. 435–457.
[17] Die Frageformulierung lautet: »Wie sehr vertrauen Sie der Landesregierung?«. Antwortmöglichkeiten: 0 – vertraue überhaupt nicht; 1 – vertraue eher nicht; 2 – teils/teils; 3 – vertraue eher; 4 – vertraue stark.
[18] Die zwei Fragen zielen auf die Zustimmung zu den folgenden Aussagen: »Eine funktionierende Demokratie ist ohne Opposition nicht denkbar« und »Parteien sind für die Demokratie in Deutschland notwendig«. Antwortmöglichkeiten: 0 – stimme überhaupt nicht zu; 1 – stimme eher nicht zu; 2 – teils/teils; 3 – stimme eher zu; 4 – stimme voll und ganz zu. Der Index »Unterstützung der repräsentativen Demokratie« summiert die Werte für beide Fragen und teilt die Summe durch 2, der Index reicht daher von 0 (keine Unterstützung) bis 4 (volle Unterstützung).
[19] Die Frageformulierung lautet: »Wie zufrieden sind Sie allgemein mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland?«. Antwortmöglichkeiten: 0 – sehr unzufrieden; 1 – eher unzufrieden; 2 – teils/teils; 3 – eher zufrieden; 4 – sehr zufrieden.
[20] Küpper, Patrick: Abgrenzung und Typisierung ländlicher Räume, Braunschweig 2016, https://doi.org/10.3220/WP1481532921000. Der Ländlichkeits-Index berücksichtigt die Siedlungsdichte, den Anteil der land- und forstwirtschaftlichen Flächen, den Anteil der Ein- und Zweifamilienhäuser, das regionale Bevölkerungspotenzial sowie die Erreichbarkeit großer Zentren. Daten sind verfügbar unter https://karten.landatlas.de/ [eingesehen am 27.01.2023]. Die Zuordnung der Befragten zu einzelnen Gemeinden erfolgt über die Postleitzahl des Wohnortes, die die Befragten im NDM angegeben haben. Die dafür notwendigen Daten wurden von POST DIREKT zur Verfügung gestellt.
[21] Die Frageformulierung lautet: »Wie sehen Sie Ihre eigene Zukunft im Vergleich zu heute?«. Antwortmöglichkeiten: 0 – schlechter; 1 – gleich; 2 – besser.
[22] In Abbildung 3 schneiden die Striche (Konfidenzintervalle) rechts und links der Marker, die den Regressionskoeffizienten darstellen, die gestrichelt dargestellte Null-Linie. Wir können daher nicht davon ausgehen, dass der Effekt mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von weniger als 5 Prozent tatsächlich unterschiedlich von Null ist.
[23] Easton: A Systems Analysis.