Die Landtagswahl in Niedersachsen 2022 ging wohl landestypisch aus: Nicht spektakulär, aber vielfältig.[1] Das hiesige Parteiensystem bleibt insgesamt auch nach dem 9. Oktober 2022 stabil. Trotz einiger Verluste sind CDU und SPD für sich und vor allem zusammen genommen immer noch so stark wie in kaum einem anderen Bundesland.[2] Die Ergebnisse der kleineren Parteien wachsen, trotz einiger Zugewinne, dagegen weiterhin nicht in den Himmel. Soweit, so bekannt.

Und doch irritieren einige Details des Wahlausgangs: Dies gilt zuvorderst für das Ergebnis der AfD, die mit 11 Prozent der Zweitstimmen gegenüber der Landtagswahl 2017 starke Zuwächse (+ 4,8 Prozent) verzeichnete (s. Abbildung 1).

Grafik: Endgültige Zweitstimmenanteile bei den Landtagswahlen in Niedersachsen 2017 und 2022 (in Prozent)

Abbildung 1: Endgültige Zweitstimmenanteile bei den Landtagswahlen in Niedersachsen 2017 und 2022 (in Prozent) Quelle: Landesamt für Statistik Niedersachsen, entnommen: https://wahlen.statistik.niedersachsen.de/LW2022/LW/000.pdf [zuletzt eingesehen am 18.02.2023], eigene Darstellung.
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Dies überrascht: Denn einerseits gelingt der AfD erstmals ein herausragender Wahlerfolg in Niedersachsen, das bislang zu ihrer elektoralen Peripherie zählte.[3] Noch während der Corona-Pandemie zeigte die hiesige Bevölkerung zwar ausgeprägte rechte Ordnungsvorstellungen, aber nur niedrige rechtsradikale Affinitäten.[4] Doch nun gelang es der AfD erstmals seit neun Landtagswahlen, ausgerechnet hier wieder Gewinne zu erzielen. Und das, obwohl das AfD-Ergebnis ihrer zuvor völlig desolaten Performanz im Land widerspricht.[5] Denn ihr Landesverband agierte über Jahre hinweg hoch chaotisch und zerstritten, im Landtag verlor die Partei 2020 nach heftigen Konflikten und Austritten sogar ihren Fraktionsstatus.[6] Wie das erstaunliche AfD-Ergebnis dennoch zustande kam, wird im Folgenden untersucht.

Entwicklungen der Parteien in Niedersachsen

Das Parteiensystem in Niedersachsen nahm aufgrund seiner spezifischen regionalen Traditionen und Konfliktstrukturen erst relativ spät die für Westdeutschland typische Form an.[7] Erst ab Ende der 1950er Jahre gewann die CDU die Dominanz im bürgerlichen Lager und konnte neben der in Niedersachsen besonders erfolgreichen SPD zur Volkspartei aufsteigen.[8] Während die kleinen Parteien vergleichsweise schwach blieben, entwickelte sich fortan ein polarisierter Wettbewerb zwischen den beiden starken Volksparteien, die sich in ihren abwechselnden Hochphasen erfolgreich WählerInnen abspenstig machten.[9] Infolgedessen wechselte seither – mit Ausnahme der aus den vorgezogenen Neuwahlen von 2017 hervorgegangenen Großen Koalition – die Regierungsmacht regelmäßig zwischen dem jeweils erstarkten linken bzw. rechten Lager hin und her.[10]

Doch auch das niedersächsische Parteiensystem erlebt einen Wandel: Wenn auch zaghafter als anderswo, verloren die Volksparteien ab den 1990er Jahren hier ebenso und schrittweise an Rückhalt.[11] Während die SPD nach ihrem dramatischen Einbruch von 2003 – vor allem dank der Popularität ihres seit 2013 amtierenden Ministerpräsidenten Stephan Weil – insgesamt erfolgreich gegen ihren Abstieg anmobilisieren konnte, verlor die CDU in den letzten 20 Jahren sukzessive an WählerInnen (s. Abbildung 2). Die Schrumpfung der CDU und die Stagnation der SPD beflügelten die Entwicklung der kleineren Parteien allerdings kaum: Deren WählerInnenschaft wuchs zwar kontinuierlich an; weil Grüne und FDP aber mehrere elektorale Einbrüche erlebten und der Sprung in den Landtag den Linken nur 2008 und der AfD erst 2017 gelang, blieb ihre politische Bedeutung begrenzt.

Grafik: Entwicklung der absoluten Zweitstimmenergebnisse bei den niedersächsischen Landtagswahlen 2003–2022

Abbildung 2: Entwicklung der absoluten Zweitstimmenergebnisse bei den niedersächsischen Landtagswahlen 2003–2022. Quelle: Landeswahlleiterin, entnommen: endgültige Endergebnisse 2003–2022, eigene Darstellung.
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Die Landtagswahl 2022 hat den Wandel des niedersächsischen Parteiensystems nun merklich beschleunigt. Bei einer leicht gesunkenen Wahlbeteiligung von 60,3 Prozent (gegenüber 2017: -2,8 Prozent) stehen hohe Gewinne der einen eklatanten Verlusten der anderen Parteien gegenüber: So büßten CDU und FPD im Vergleich zu 2017 27 bzw. sogar fast 70 Prozent ihrer WählerInnenschaft ein und erhielten zusammen mit der SPD insgesamt 600.000 Stimmen.[12] Diesen Verlusten stehen starke Gewinne von Grünen und AfD gegenüber, die mit 193.000 bzw. 161.000 zusätzlich gewonnenen WählerInnen ihr Elektorat um 37 bzw. 41 Prozent vergrößern konnten.

Profil: Wer wählte AfD?

Den Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse des AfD-Erfolges bildet die politische Herkunft der insgesamt fast 400.000 aktuellen AfD-WählerInnen in Niedersachsen: Die Strömungsanalyse von Infratest-Dimap zeigt, dass der AfD-Erfolg auf zwei Säulen beruht: Einerseits votierten rund 70 Prozent der AfD-WählerInnen von 2017 bei der Landtagswahl 2022 wieder für die Partei, während sie kaum Verluste verzeichnete.[13] Damit besitzt die AfD bei dieser Landtagswahl den mit Abstand höchsten StammwählerInnen-Anteil unter den vormaligen Parlamentsparteien. Andererseits erzielte sie massive Zugewinne: Fast 60 Prozent ihres Elektorats von 2022 besteht aus NeuwählerInnen. Von diesen rund 225.000 Personen haben zuvor die meisten ihr Kreuz bei der CDU, der FDP oder zu kleineren Teilen bei der SPD oder bei anderen Parteien gemacht – oder schlicht nicht gewählt (s. Abbildung 3).

Grafik: Verteilung Parteipolitische Herkunft der AfD-WählerInnen von 2022 (in Prozent)

Abbildung 3: Parteipolitische Herkunft der AfD-WählerInnen von 2022 (in Prozent). Quelle: Infratest-Dimap, entnommen: Otto/Vernohr 2022, eigene Darstellung.
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Ein genaueres Bild der AfD-WählerInnen ergibt sich aus der Analyse der Altersstruktur (s. Abbildung 4).[14] Bei der Landtagswahl 2022 zeigt sich eine Art Wandel im Wartestand, der von den Jüngeren ausgeht, aber bislang von den Älteren noch größtenteils ausgebremst wird. So votierten die ab 60-Jährigen, die allein rund 40 Prozent der Wahlberechtigten im Land stellen,[15] weiterhin stark überdurchschnittlich für die CDU und SPD, aber kaum für kleinere Parteien.[16] Anders die jüngeren Kohorten: Das Gros der unter 45-Jährigen bescherte CDU und SPD eklatante Verluste, während die Grünen hier stark gewannen, so dass sie bei den bis 34-Jährigen schon gleichauf mit der SPD liegen. Allerdings schneidet auch die AfD in den jungen Altersgruppen neuerdings überdurchschnittlich ab. Die eigentliche Wählerbasis der AfD findet sich jedoch in den mittleren Kohorten (35-59 Jahre). Insbesondere unter den – meist mitten im beruflichen und familiären Leben stehenden – 35 bis 44-Jährigen, unter denen SPD und CDU zuletzt starke Einbußen hinnehmen mussten, erzielte die AfD den Spitzenwert von 17 Prozent (+10 Prozent) und wetteifert so mit den Grünen um den Platz der drittstärksten Kraft.

Grafik: Darstellung Wahlverhalten nach Altersgruppen: Ergebnisse und Differenz zur Wahl 2017 (in Klammern) in Prozent

Abbildung 4: Wahlverhalten nach Altersgruppen: Ergebnisse und Differenz zur Wahl 2017 (in Klammern) in Prozent. Quelle: Infratest-Dimap, entnommen: Hirndorf/Neu, Tabellenanhang, eigene Darstellung.
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Ein Blick auf die Berufsstruktur zeigt, dass wohl besonders solche Gruppen zur AfD übergelaufen sind, die von ökonomischen Krisendynamiken stark getroffen wurden:[17] Unter Selbstständigen, die sich von CDU (-7 Prozent) und SPD (-8 Prozent) abgewandt haben, gewinnt die AfD leicht überdurchschnittlich (+6 Prozent) und liegt hier mit 13 Prozent sogar gleichauf mit der FDP.[18] Massiv hat die AfD unter ArbeiterInnen (+12 Prozent) hinzugewonnen, bei denen FDP (−4 Prozent) und SPD (−13 Prozent) teils massive Einbrüche verzeichneten. Unter ArbeiterInnen, deren parteipolitische Loyalitäten in Niedersachsen seit den 1970er Jahren bereits mehrmals zwischen den Volksparteien wechselten,[19] reicht der AfD-Stimmenanteil mit 24 Prozent zwar noch nicht an die SPD (28 Prozent), wohl aber an die CDU (25 Prozent) heran.

Hochburgen: Wo wurde AfD gewählt?

Hinweise auf die Hintergründe des AfD-Erfolges liefert die regionalstrukturelle Analyse. Auch wenn die AfD, anders als etwa im Südwesten oder Osten der Republik,[20] in Niedersachsen erneut keine Direktmandate erringen konnte, hat sich die Partei in der Fläche durchaus konsolidiert. In immerhin 40 von den 87 Wahlkreisen rückte die AfD 2022 zur drittstärksten Kraft auf, was den Grünen nur in 36 Wahlkreisen gelang.[21] Während die Grünen vor allem in Großstädten und den sie umgebenden Regionen reüssierten, ist die AfD in und um Klein- und Mittelstädte und in ländlichen Regionen besonders erfolgreich.[22]

Interessant ist der Blick in die traditionellen Hochburgen der niedersächsischen Volksparteien, die von hohem Niveau aus deutlich abschmelzen. Obwohl SPD und CDU in ihren Stammgebieten im Nordwesten und Südosten des Landes noch immer die höchsten Stimmanteile erzielen, verlieren sie dort zugleich die meisten WählerInnen.[23] Dies allein muss nicht überraschen, waren die Hochburgen der Volksparteien doch immer schon hart umkämpft.[24] Neu hingegen ist, dass WählerInnen weniger zwischen CDU und SPD mäandern, sondern in Richtung AfD davonströmen. Sie erzielt ihre höchsten Stimmenanteile als auch -zugewinne vor allem dort, wo CDU und SPD ihre höchsten Ergebnisse bzw. stärksten Verluste erlitten haben.[25]

Grafik: Niedersachsen-Karte mit den Zweitstimmenanteilen der AfD (Wahlkreise

Abbildung 5: Zweitstimmen AfD (Wahlkreise), Quelle: Landesamt für Statistik Niedersachsen, URL: https://wahlen.statistik.niedersachsen.de/LW2022/reports/Sonstiges/032.pdf [zuletzt abgerufen am 09.03.2023].
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Aus diesem Humus der erodierenden Volksparteien erwachsen zwei Hochburgen der AfD (s. Abbildung 5): Die erste AfD-Hochburg zeigte sich schon 2017.[26] Sie reicht von den ländlich-protestantisch geprägten Regionen nördlich von Hannover nach Osten und in den Süden des Landes hinunter. Im industriell geprägten Südosten, zwischen Gifhorn, Helmstedt, Wolfenbüttel und Salzgitter, erzielte die AfD 2022 Rekordergebnisse zwischen 14 und 18,4 Prozent. Diese neuindustriellen Regionen waren in den 1950er Jahren zunächst Hochburgen des niedersächsischen Nachkriegsrechtsradikalismus und konnten erst später von der Sozialdemokratie erobert werden.[27] Spätestens mit den asylpolitischen Konflikten der Jahre 2015/16 ließ ihre politisch-kulturelle Deutungskraft hier jedoch vielerorts spürbar nach, was den Boden für den Aufstieg der AfD bereitete.[28]

Die zweite und neue AfD-Hochburg findet sich im Westen Niedersachsens, wo sie bei den Landtagswahlen 2017 noch unterdurchschnittlich abschnitt.[29] Hier gilt es, zwei Gebiete mit recht unterschiedlichen politisch-kulturellen Traditionen zu unterscheiden:[30] Im ländlich-katholischen Südwesten, von Meppen bis Cloppenburg, der traditionell als elektorale Festung der konservativen CDU gilt, erzielte die AfD 2022 zwar unterdurchschnittliche Ergebnisse, aber hohe Zugewinne (7,4–9,2 Prozent), was auch auf den Krisen- und Transformationsdruck in der von Fleischindustrie und saturierten ländlich-konservativen Lebensweisen dominierten Region verweisen mag.[31] Im protestantisch-maritim geprägten Nordwesten, von Wittmund bis Papenburg, der in den 1950er Jahren einen Hort des Nachkriegsrechtsradikalismus in Niedersachsen bildete, konnte die AfD 2022 überdurchschnittliche Gewinne als auch Ergebnisse erzielen (13,5–15,6 Prozent).

Motive: Warum wurde AfD gewählt?

Warum sich so viele WählerInnen für die AfD entschieden haben, lässt sich anhand der in den Wahltagsumfragen erhobenen Einstellungen zumindest grob nachvollziehen.[32] Es werden verschiedene, ineinandergreifende Motivlagen, wie es für die WählerInnenmobilisierung der AfD durchaus typisch ist, ersichtlich.[33] Interessant ist dabei, dass sich hier fast immer eine äußerst starke wie unversöhnliche Frontstellung zwischen den WählerInnen der AfD und den Grünen,[34] aber vielfach auch zwischen den WählerInnen der AfD und denen aller anderen Parteien, zeigt.

Erstens weisen die AfD-WählerInnen eine weit überdurchschnittlich ausgeprägte politische Entfremdung auf. 52 Prozent von ihnen geben an, ihre Wahlentscheidung aus Enttäuschung über die anderen Parteien getroffen zu haben (alle Befragten: 30 Prozent); 90 Prozent beschreiben die AfD als einziges Mittel, um ihren Protest über die vorherrschende Politik auszudrücken, 83 Prozent sind mit der Demokratie in Deutschland insgesamt unzufrieden (alle: 39 Prozent). Die Zufriedenheit mit der Arbeit der vorherigen Landesregierung ist mit 6 Prozent unter AfD-WählerInnen besonders niedrig (alle: 56 Prozent). Insgesamt weisen diese Ergebnisse auf eine Protestwahl der Unzufriedenen hin.

Verknüpft ist die politische Entfremdung, zweitens, mit starken ökonomischen Abstiegsängsten. Deren Sprengkraft hatte in Niedersachsen abgenommen,[35] wurde aber offenbar durch den Ukraine-Krieg, die befürchtete Energiekrise und steigende Inflation neu befeuert. Fast 80 Prozent der AfD-WählerInnen beurteilen die allgemeine wirtschaftliche Lage als schlecht (alle: 54 Prozent), ein Drittel schätzt auch die eigene wirtschaftliche Lage negativ ein (alle: 17 Prozent). Die übergroße Mehrheit der AfD-WählerInnen rechnet kriegs- und inflationsbedingt mit Einkommens- und Wohlstandsverlusten (97 Prozent), sorgt sich davor, ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können (AfD: 84 Prozent, alle 60 Prozent) oder fürchtet einen Zusammenbruch der Energieversorgung im Winter (AfD: 81 Prozent, alle: 52 Prozent).

Diese Unzufriedenheiten und Krisenängste führen aber nicht zufällig zur AfD-Wahl. Deutlich sind, drittens, klare kulturelle und politische Affinitäten zu autoritären und nationalistischen Positionen, die im Zuge der krisenbedingten Polarisierung von den etablierten Parteien nicht mehr oder nur noch eingeschränkt vertreten werden. Die größte Einigkeit herrscht beim vormaligen Kernthema der AfD: 99 Prozent ihrer WählerInnen finden es gut, dass die Partei den Zuzug von AusländerInnen und Flüchtlingen stärker begrenzen will (alle: 33 Prozent). Hinzu kommen oppositionelle Haltungen zu aktuellen Konfliktfragen: So unterstützen 84 Prozent der AfD-WählerInnen den Einsatz der Partei gegen Corona-Beschränkungen, 72 Prozent sprechen sich für eine Aufhebung der Russland-Sanktionen aus.

Krieg, Krise, Protest – und neue Polarisierung

Insgesamt lässt sich der überraschende AfD-Erfolg bei der niedersächsischen Landtagswahl 2022 folgendermaßen erklären: Aufbauend auf ihrer relativ breiten und treuen StammwählerInnenschaft gewinnt die AfD 2022 elektoral massiv hinzu. In der aufgewühlten Melange aus Ukraine-Krieg, drohender Energiekrise und steigender Inflation kann sie die schon länger ansteigende Anzahl der parteipolitisch unbehausten WählerInnen in Niedersachen für sich gewinnen, indem sie deren anschwellenden Unmut über multiple Krisen und ihre Affinitäten zu alternativen Lösungsstrategien adressiert.

Abermals konnte die AfD also als Partei des Krisenprotests reüssieren und das latente rechtspopulistische Potenzial in Niedersachsen überraschend weit ausschöpfen.[36] Zugleich brach sie weit in die StammwählerInnenschaft der Volksparteien und deren regionale Hochburgen im Südosten und Nordwesten des Landes ein. Dies konnte auch deshalb gelingen, weil CDU und SPD in Niedersachsen stets weit über ihre tradierten KernwählerInnenschaften hinaus mobilisiert hatten.[37] Die AfD konnte in diesem Humus volksparteilicher Erosion zwar erst relativ spät Wurzeln schlagen, doch nun wächst sie – auch nach dem Zerfall der innerparteilichen Strömung der »Bürgerlichen« um Jörg Meuthen[38] – gerade hier beachtlich.

Darüber hinaus gilt: Der Wandel des niedersächsischen Parteiensystems, der sich lange eher still vollzog, erfährt mit der Landtagswahl 2022 einen kräftigen Schub. Weil von den Verlusten der etablierten Kräfte vor allem die Grünen und die AfD profitierten, zeichnet sich nun auch in Niedersachsen eine neue Polarisierung ab. Neben dem weiterhin dominanten Gegenüber von SPD- und CDU- geführten Lagern gewinnt der Gegensatz zwischen autoritär-nationalistischen Positionen der AfD und libertär-universalistischen der Grünen auch auf Ebene der Wahlergebnisse nun strukturbildende Kraft.[39]

Verschiedene Ergebnisse der niedersächsischen Landtagswahl 2022 deuten darauf hin, dass sich dieser Wandel auch nach dem Ende der akuten Krisen fortsetzen könnte. Demografisch kündigt sich mittelfristig eine massive Veränderung des Wahlverhaltens zuungunsten der Volksparteien und zugunsten von Grünen, AfD und FDP an. Inhaltlich deuten viele Befunde der Wahltagsbefragungen schon jetzt auf eine ausgeprägte Polarisierung zwischen den WählerInnen der AfD und denen von Grünen, SPD und CDU hin, die sich vermutlich nur teilweise wieder aufheben lässt. Jedenfalls: Auf die parteipolitische Erdverwachsenheit der Niedersachsen ist spätestens seit der Landtagswahl 2022 nun wirklich kein Verlass mehr.

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Literatur::
Bingener, Reinhard: Prägung schmilzt, in: FAZ, 11.10.2022, S. 3.

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Pennekamp, Johannes: Wähler, die viel zu verlieren haben, in: FAZ, 22.07.2022, S. 3.

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Rippl, Susanne/Seipel, Christian: Modernisierungsverlierer, Cultural-Backlash, Postdemokratie. Was erklärt rechtspopulistische Orientierungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 70 (2018), H. 2, S. 237–254.

Steffen, Tilman: Die Populisten sind zurück – vorerst, in: Zeit-Online, 09.10.2022, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-10/afd-niedersachsen-landtagswahl-erfolg [eingesehen am 12.10.2022].

[1]Vgl. Landesamt für Statistik Niedersachsen: Endgültiges amtliches Ergebnis der Landtagswahl am 9. Oktober 2022, URL: https://wahlen.statistik.niedersachsen.de/LW2022/ [eingesehen am 11.11.2022]. Zur Wahlanalyse vgl. Hirndorf, Dominik/ Neu, Viola: Landtagswahl in Niedersachsen am 9. Oktober 2022, Monitor Wahl- und Sozialforschung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin Oktober 2022, URL: https://www.kas.de/de/monitor-wahl-und-sozialforschung/detail/-/content/wahlanalyse-der-landtagswahl-in-niedersachsen-am-9-oktober-2022 sowie Franzmann,Simon T.: Niedersachsen hat gewählt. Kurzanalyse der Niedersächsischen Landtagswahl 2022, Friedrich-Ebert-Stiftung, Hannover 2022, URL: https://library.fes.de/pdf-files/bueros/hannover/19876.pdf [beides eingesehen am 26.02.2023].

[2]Die gemeinsamen Stimmenanteile von SPD und CDU liegen in Niedersachsen aktuell bei 61,5 Prozent (2017: 70,5 %). Höhere Werte finden sich nur in Rheinland-Pfalz (63,4 %) und Nordrhein-Westfahlen (62,4 %).

[3]Vgl. Finkbeiner, Florian/Schröder, Niklas: Die AfD und ihre Wähler in Niedersachsen. Eine Fallanalyse zum Sozialprofil der Wählerschaft und ihrer politischen Einstellungen am Beispiel von Niedersachsen, Göttingen 2020, S. 44.

[4]Vgl. Franzmann, Simon T./Helmer, Joschua: Wo sind
all die Rechten in Niedersachsen hin?, in: Demokratie-Dialog H. 11/2022, S. 82–94, hier S. 86–87.

[5]Vgl. Finkbeiner/Schröder, S. 13–15 sowie: Meyer, Holger/Müller-Rommel, Ferdinand: Die niedersächsische Landtagswahl vom 15. Oktober 2017: »Vernunftheirat« führt zu erster Großer Koalition nach 50 Jahren, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 49 (2017), H. 1, S. 3–22, hier S. 12–13.

[6]Vgl. Steffen, Tilman: Die Populisten sind zurück – vorerst, in: Zeit-Online, 09.10.2022, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-10/afd-niedersachsen-landtagswahl-erfolg [eingesehen am 12.10.2022].

[7]Vgl. Koß, Michael/Spier, Tim: Das Parteiensystem Niedersachsens, in: Jun, Uwe/Haas, Melanie/Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 291–314, hier S. 293–296.

[8]Vgl. Klecha, Stephan: Wahlen und Wahlverhalten in Niedersachsen, in: Nentwig, Teresa/Werwath, Christian (Hrsg.): Politik und Regieren in Niedersachen, Wiesbaden 2016, S. 79–104, hier S. 90–91.

[9]Vgl. Koß/Spier, S. 306 sowie 312.

[10]Vgl. Klecha, S. 104.

[11]Vgl. Klecha, S. 100–101.

[12]Zur WählerInnenstromanalyse von Infratest-Dimap vgl. hier und folgend: Otto, Ferdinand/Venohr, Sascha: Wahl in Niedersachsen, in: Zeit-Online, 10.10.22, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-10/wahl-niedersachsen-landtag-waehlerwanderung [eingesehen am 26.02.2023].

[13]Von den AfD-WählerInnen von 2017 wählten 2022 jeweils 4,1 % CDU bzw. andere Parteien, 10,2 % wählten nicht. Die restlichen Abströme verteilen sich auf Verstorbene (8,2 %) und Fortgezogene (6,1 %).

[14]Zur Analyse der Sozialstruktur von Infratest-Dimap
vgl. hier und folgend: Hirndorf, Dominik/Neu, Viola: Tabellenanhang zur Landtagswahl am 9. Oktober 2022, Monitor Wahl- und Sozialforschung, Konrad-Adenauer-Stiftung 2022, URL: https://www.kas.de/de/monitor-wahl-und-sozialforschung/detail/-/content/wahlanalyse-der-landtagswahl-in-niedersachsen-am-9-oktober-2022 [eingesehen am 26.02.2023].

[15]Vgl. Meyer/Müller-Rommel, S. 16.

[16]Dies dürfte entscheidend zum Scheitern der FDP beigetragen haben, die nur in dieser Altersgruppe unterhalb der Sperrklausel lag.

[17]Vgl. etwa Deckers, Daniel: Die Ampel auf Bewährung, in: FAZ, 11.10.2022, S. 10.

[18]Laut Forschungsgruppe Wahlen konnte die AfD auch unter Landwirten stark zulegen (+9 %), während FDP (-9 %) und CDU (-7 %) hier überdurchschnittlich stark verloren, vgl. Hirndorf/Neu: Tabellenanhang, S. 10.

[19]Vgl. Micus, Matthias: Die SPD in Niedersachsen. Rote Bastion auf tönernden Füßen, in: Nentwig/Werwath, S. 107–133, hier S. 113.

[20]Vgl. Hensel, Alexander: Kritik, Kontrolle, Alternative? Die AfD als parlamentarische Opposition in den Landtagen von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, in: Bröchler, Stephan et al. (Hrsg.): Kritik, Kontrolle, Alternative. Was leistet die parlamentarische Opposition?, Wiesbaden 2020, S. 275–300, hier S. 279–281.

[21]Allerdings erzielten die Grünen in zwei Wahlkreisen die meisten Stimmen und wurden in neun Wahlkreisen zweitstärkste Kraft, vgl. Landesamt für Statistik, endgültiges Ergebnis.

[22]Vgl. Franzmann, S. 5–7.

[23]Zur starken Überschneidung der jeweils 25 stimmstärksten Wahlkreise von SPD und CDU und deren jeweils höchsten 25 Stimmverlusten vgl. Landesamt für Statistik, endgültiges Ergebnis.

[24]Vgl. Klecha, S. 90–93.

[25]Vgl. Landesamt für Statistik, endgültiges Ergebnis.

[26]Vgl. Finkbeiner/Schröder, S. 44–46.

[27]Vgl. Klecha, S. 81–86.

[28]Vgl. Finkbeiner et al.: Rechtsradikalismus in sozialdemokratischen Kerngebieten, Göttingen 2021, S. 81–82.

[29]Vgl. Finkbeiner/Schröder, S. 44–45.

[30]Vgl. folgend Finkbeiner, Florian/Trittel, Katharina: Traditionslinien des Rechtsradikalismus in der politischen Kultur Niedersachsens, Göttingen 2019, S. 20 und S. 28–31.

[31]Vgl. Bingener, Reinhard: Prägung schmilzt, in: FAZ, 11.10.2022, S. 3 sowie: Pennekamp, Johannes: Wähler, die viel zu verlieren haben, in: FAZ, 22.07.2022, S. 3.

[32]Zu den folgenden Daten von Infratest-Dimap vgl. hier und folgend: Niedersachsen: Landtagswahl 2022. Umfragen, in: tagesschau.de, 10.10.2022, URL: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2022-10-09-LT-DENI/l [eingesehen am 14.10.2022].

[33]Vgl. etwa Pickel, Susanne: Die Wahl der AfD. Frustration, Deprivation, Angst oder Wertekonflikt?, in: Korte, Karl-Rudolf/Schoofs, Jan: Die Bundestagswahl 2017, Wiesbaden 2019, S. 145–175 sowie: Rippl, Susanne/Seipel, Christian: Modernisierungsverlierer, Cultural-Backlash, Postdemokratie. Was erklärt rechtspopulistische Orientierungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 70 (2018), H. 2, S. 237–254.

[34]Vgl. Hirndorf/Neu: Landtagswahl, S. 6.

[35]Vgl. Franzmann/Helmer, S. 91.

[36]Dieses wurde auf Basis der Daten des Niedersächsischen
Demokratie-Monitors 2021 bei 13,2 Prozent
bestimmt, vgl. Franzmann/Helmer, S. 86–87.

[37]Vgl. Micus, S. 110–112.

[38]Vgl. Hensel, Alexander: Die AfD zwischen Gärung und Klärung. Zur Entwicklung von Strömungen und Strategien nach dem Rückzug Jörg Meuthens, in: Demokratie-Dialog H. 11/2022, S. 72–81.

[39]Zur Einstellungsebene vgl. bereits: Franzmann/Helmer, S. 91.