„Konservativer“ Etiketten-SchwindelDie Usurpation des Konservatismus am Beispiel der AfD
Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet seit Sommer 2020 offiziell die AfD. Genauer gesagt führt die Behörde erstmals in ihrem Jahresbericht die AfD-Jugendorganisation »Junge Alternative für Deutschland« und den sogenannten »Flügel« als Verdachtsfall auf.[1] Diese Einstufung scheint im Sinne des Grundsatzes einer »wehrhaften Demokratie« längst überfällig gewesen zu sein. Dass eine Behörde, die sich dem Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gegen »rechtsextremistische« Bedrohungen verpflichtet fühlt, überhaupt damit gerungen hat, einen politischen Zusammenschluss wie den von Björn Höcke und Andreas Kalbitz als solche einzustufen, zeigt schon für sich betrachtet, wo der sprichwörtliche Hund begraben liegt. Schließlich hat sich offenkundig spätestens seit dem Aufkommen von Pegida die Wahrnehmung des Rechtsradikalismus in der Gesellschaft verändert. Denn jahrelang musste man sich kaum damit beschäftigen, konnte man sich darauf kaprizieren, das Problem des Rechtsradikalismus allein auf die NPD und das Springerstiefel-Klischee zu reduzieren und damit erfolgreich zu externalisieren.[2] Genau diese Sichtweise rächt sich nun und wird zum Stolperstein des deutschen (Rest-)Bürgertums. Denn mit dem Auftauchen der AfD auf der politischen Bühne ist der offene Deutungsstreit darüber ausgebrochen, wo eigentlich die Grenzen verlaufen zwischen Konservatismus und Rechtsradikalismus.
Die Einstufung des »Flügels« führt zu ganz eigenen neuen Problemen, schließlich weist dieser keinen offiziellen Organisationscharakter auf und hat sich formal auch selbst aufgelöst, sodass eine Beobachtung streng genommen kaum möglich ist, weil die Grenze zwischen »Flügel«-Gruppierung und Gesamtpartei ordnungspolitisch nur vage zu ziehen ist.[3] Dennoch bewirkt allein schon dieser Schritt des Verfassungsschutzes einen unmittelbaren Effekt: So bieten beispielsweise in Brandenburg inzwischen immer mehr AfD-Mitglieder Informationen über Rechtsextremisten den Nachrichtendiensten an, um sich selbst und offenbar auch die eigene Partei reinzuwaschen.[4] Wie ist aber diese Einstufung aus Sicht der Parteien- und Kulturforschung einzuordnen? Um den Sachverhalt zu klären, wird die Partei nachfolgend politisch-programmatisch analysiert. Dabei wird die These vertreten, dass die AfD keine bürgerlich-konservative Partei ist, sehr wohl aber konservative Wählergruppen anspricht. Dieses schiefe Verhältnis deutet auf einen strukturellen Wandel des Konservatismus hin, der überhaupt erst die Bedingung dafür ist, dass sich die AfD als konservative Partei inszenieren kann.[5]
Zur politisch-programmatischen Einordnung
Eine Einordnung der AfD in die vertrauten Schubladen der politischen Lager ist in der Forschung weiterhin umstritten.[6] Das hängt wohl (auch) damit zusammen, dass eine solche Kategorisierung, die eine Partei gleichsam mit einem Stempel versieht, einen (vermeintlichen) Ist-Zustand perpetuiert, der die dynamischen Elemente in der Entwicklung des »gärigen Haufens« (Alexander Gauland) übersieht. Dieses Problem zeigt sich schon an der kurzen Entwicklungsgeschichte der AfD seit 2013, in der die Partei bereits einige Wandlungen durchlebt hat. Hinzu kommen die teilweise regional-kulturell bedingten Unterschiede zwischen den einzelnen Landesverbänden und vor allem der Umstand, dass die AfD keine politisch homogene Partei ist. Auch in dieser Partei versammeln sich ganz unterschiedliche Strömungen, die politisch zum Teil konträre Vorstellungen haben. So waren insbesondere zu Beginn der Parteientwicklung einige »marktliberale Positionen«[7] dominant. Diese wirtschaftsliberalen Elemente gibt es weiterhin in der AfD-Programmatik, auch wenn sie inzwischen – gerade seit der Abspaltung des wirtschaftsliberalen Flügels um Bernd Lucke nach 2015 – entweder überformt sind oder nur noch lose neben nationalliberalen und völkischen Positionen stehen.[8] Interessanterweise widersprechen sich diese Positionen teilweise auch in bestimmten Themenfeldern, wie in der weiterhin schwelenden Konfliktlinie bezüglich der politischen Ausrichtung in der Rentenfrage. Es gibt auf programmatischer Ebene aber durchaus auch konservative Elemente, etwa in der Familien- und Kinderpolitik.[9]
Doch gerade diese einzelnen Versatzstücke sind unübersehbar verbunden mit nationalkonservativen und geschichtsrevisionistischen Positionen, wie etwa schon das Bekenntnis zur deutschen »Kulturnation«[10] im Bundestagswahlprogramm 2017 zeigt. Die AfD nimmt den Begriff der »Kulturnation« (in Anlehnung an die begriffliche Unterscheidung des Historikers Friedrich Meinecke zur »Staatsnation«[11]) wörtlich: Demnach zeichne sich die deutsche Kultur primär durch die »über Jahrhunderte gewachsene deutsche Sprache«[12] aus. Hieran zeigt sich exemplarisch, wie die Partei in ihrem Programm unterschwellig völkische Konnotationen in den politischen Diskurs einfließen lässt, denn sie leitet aus diesem Bekenntnis zur »Kulturnation« eine sprachlich, kulturell und politisch homogene »deutsche Leitkultur«[13] ab. Und zugleich werden hier auch deutliche Bezugspunkte zu einem offenen Geschichtsrevisionismus als Relativierung der deutschen Geschichte offenbar: Paradigmatisch hat dies Alexander Gauland vorgeführt, als er in einem Interview mit der Zeit davon sprach, dass Hitler den Deutschen das Rückgrat gebrochen habe.[14] Damit spielte er auf den fehlenden Nationalstolz an, der sich seiner Ansicht nach nur unzureichend durch eine Abgrenzung vom Nationalsozialismus bilden könne. Zugleich deutete er hierbei an, dass »Auschwitz« nur als Last der Geschichte und Gegenwart empfunden werde – und deshalb wohl auch der Vergessenheit anheimfallen solle. Schließlich fügte Gauland später selbst hinzu, dass der Nationalsozialismus und Hitler nur ein »Vogelschiss«[15] in der deutschen Geschichte seien. Im Bundestagswahlprogramm der AfD von 2017 heißt es entsprechend: »Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiv identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.«[16] Nicht zuletzt wird an solchen Positionen ein mehr als nur latenter Antisemitismus erkennbar.[17] Die AfD macht auch kein Hehl daraus, was ihr zentrales politisches Ziel ist: In ihrem Bundestagswahlprogramm formuliert sie als ihr primäres Ziel den »Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit«[18]. Aus Sicht der Partei werde allerdings diese kulturelle Einheit durch die »Ideologie des Multikulturalismus« gefährdet, weil hierdurch die »deutsche kulturelle Identität«[19] bedroht sei. Die Partei inszeniert sich also als Phalanx zur Verteidigung dieser sogenannten »deutschen Identität«. In dieser politischen Vorstellungswelt müsse das kulturelle Gebilde Deutschlands nicht einfach nur bewahrt, sondern vielmehr wiederhergestellt werden – zurück zu einem vermeintlich vormaligen Zustand vor dem »links-rot-grün verseuchte[n] 68er-Deutschland«[20], wie es Jörg Meuthen nannte. Bereits hier schließt sich der Kreis zu den angedeuteten Ambivalenzen der konservativen Selbstlegitimation, da sich an solchen Positionen die bürgerlich-konservativen Lippenbekenntnisse letztlich als reaktionäres Gebaren herausstellen.
Doch diese politisch-programmatische Ambiguität hat Methode: Denn wie das ursprünglich interne Strategiepapier der AfD zeigt, versucht die Partei gezielt, eine solche politische Spannung aufrechtzuerhalten. Darin heißt es, dass die Partei ihr »Potenzial« erst dann voll ausschöpfen und erweitern könne, wenn sie sich einerseits in ihren politischen Kernkompetenzen profiliere, andererseits aber auch so flexibel agiere, dass sie unterschiedliche (teils divergierende) Zielgruppen anspreche. [21] Damit ist schon angedeutet, dass sich die Partei wahlstrategische Vorteile von dieser bewusst-ambivalenten Positionierung verspricht. Und vor diesem Hintergrund zeigt sich zugleich, dass die durchaus vorhandenen konservativen Elemente und Versatzstücke in der Programmatik in Wahrheit instrumentell eingebunden und überformt sind. Denn Parteifunktionäre wie Alexander Gauland nutzen aus taktischen Gründen den Deckmantel des Konservativen, um an das bürgerliche Lager anschlussfähig zu bleiben und um national-chauvinistischen Inhalt zu bedecken.[22] Letztlich stellt sich bei näherer Betrachtung der AfD das selbst proklamierte Konservative als »konservativer« Etikettenschwindel heraus, denn wie nachfolgend noch gezeigt wird, ist es alles andere als klar, was dieses »Konservative« heute überhaupt noch sein soll.
Wenn man denn überhaupt die Partei politisch-programmatisch mit gewissen Schablonen-Begriffen einordnen möchte, dann spricht zumindest einiges dafür, die AfD tendenziell zwischen nationalkonservativ, deutschnational und rechtsradikal einzustufen.[23] Eine solche Trias lässt den Deutungsraum zumindest noch so weit geöffnet, dass damit das Moment der Kontingenz nicht von vornherein durch ein politisches Label aufgehoben wird. Außerdem bleibt hierdurch die Möglichkeit bestehen, den Blickwinkel der Parteienforschung weg von der politischen Programmatik auf die anderen Ebenen der Auseinandersetzung zu richten: Hierzu zählen vor allem die politischen Konflikte innerhalb der Partei (die Ebene der Parteiorganisation, -funktionäre und -mitglieder) und ihrer Wählerschaft. Dass die Partei schließlich auch durchaus konservative Wählergruppen anspricht, zeigt eine neue FoDEx-Studie am Beispiel der AfD in Niedersachsen.[24] Dieses Faktum alleine deutet schon darauf hin, dass nur mit einer Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz das Problem der gesellschaftlichen Basis für den neuen Rechtsradikalismus noch lange nicht behoben sein wird.
Inszenierung als konservative Avantgarde
Entscheidend ist daher wohl auch weniger die Etikettierung als solche, sondern vielmehr die mit diesem Label verbundene Wirkung. Es geht also darum, zu verstehen, wieso ein offensichtlich doch nicht ganz kleiner Teil der Gesellschaft zumindest indirekt anfällig ist für Versprechungen und Verheißungen nationalegozentrischer Barden, die es eben dabei noch erfolgreich schaffen, sich als Konservative zu verkaufen. Das bedeutet, entscheidend aus Sicht der Sozialforschung ist das Verständnis der gesellschaftlichen Dispositionen, oder wie es Theodor W. Adorno in seinem kürzlich erst veröffentlichen Vortrag über die »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« bemerkte: Im Vordergrund der Analysen über den Rechtsradikalismus muss die Analyse der potenziellen Empfänglichkeit gewisser Teile der Gesellschaft für rechtsradikale Versprechungen stehen.[25] An dieser Stelle drängt sich nun die Frage auf, warum bestimmte Wählerschichten, die sich selbst als konservativ ansehen, dennoch die AfD wählen. Und diese Frage leitet unmittelbar über zum Problemkomplex politischer Mentalitäten schlechthin[26]: Warum gelingt dieser Trick des falschen Etiketts überhaupt? Die Bedeutung der unterschiedlichen Dimensionen einer Einordnung erscheint gerade deshalb so wichtig, weil durch die bloße Kategorisierung der Partei in programmatischer Hinsicht für das Verständnis der politisch-kulturellen Umbrüche und den AfD-Wahlerfolg noch relativ wenig gewonnen ist. Denn auch wenn die AfD keine genuin konservative Partei ist[27], kann sie sehr wohl eine Partei mit konservativen Mitgliedern und vor allem mit bürgerlich-konservativen Wählern sein. Spätestens die Ereignisse rund um die Regierungsbildung in Thüringen zu Beginn des Jahres 2020, als ein FDP-Kandidat mit Stimmen von FDP, CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde und kurz darauf infolge einer bundesweiten Empörungswelle wieder zurücktrat, haben den »Burnout des bürgerlichen Lagers«[28], der sich schon seit Jahren abzeichnete, für jeden offensichtlich werden lassen. Die politisch-geistige Verwahrlosung und die mangelnde parteipolitische Repräsentation von bürgerlichen, konservativen, traditionalistischen und überhaupt kleinbürgerlichen[29] Kreisen der Gesellschaft – inklusive deren politischen Vorstellungswelten und Wahlmotiven – sind in den letzten Jahren viel zu wenig berücksichtigt worden. Es ist entscheidend, die Situation nachzuvollziehen, in der sich das restliche Bürgertum in Deutschland heutzutage befindet und die dafür gesorgt hat, dass diese gesellschaftlichen Kreise zumindest potenziell empfänglich sind für die Verheißungen der AfD.[30]
Die vermeintliche Zauberformel im politischen Betrieb lautet in diesem Fall zumeist: Die CDU müsse das Bürgerliche und das Konservative wieder zurückholen, um die AfD zu schwächen. Doch wie der Soziologe Andreas Reckwitz im Spiegel kürzlich erinnerte, entbrennt gerade ein »Kampf um das Bürgerliche«[31] innerhalb der ausdifferenzierten Mittelklasse zwischen einer alten und einer neuen: Die traditionelle Mittelklasse steht eigentlich den christdemokratischen Parteien nahe, radikalisiert sich – angefacht durch die AfD – derzeit aber politisch; und die neue Mittelklasse, die nichts mit der traditionellen Mittelklasse zu tun haben will, fühlt sich kulturell und habituell viel mehr bei den Grünen zuhause. Derartig populärwissenschaftliche Zeitdiagnosen suggerieren, dass Politik und Parteien wie etwa die CDU mit ein paar Handbewegungen und einer Brise politischer Folklore einfach das Bürgertum zurückgewinnen könnten. Doch die Auseinandersetzung um das politische Selbstverständnis, um Parteiprofil und Wählerklientel ist langwierig und komplex. Auf der einen Seite stimmt es natürlich, dass die CDU (nicht erst) seit der Merkel-Dämmerung darum streiten muss, wofür sie politisch eigentlich steht und die Wählerschaft dürstet es nach sinnhaften Leitsätzen und Verheißungen, um das politische Vakuum in der Parteiseele zu füllen. Zwar hat die Corona-Pandemie aufgrund ihrer ganz eigenen Krisenlogik dazu geführt, dass die CDU-Gemüter kurzfristig allein schon dadurch befriedigt sind, dass die Partei in Umfragen derzeit an der 40-Prozent-Marke kratzt. Aber es ist noch nicht lange her, dass genau diese Parteibasis gegen die gleiche Parteiführung protestierte und damals wie heute nach programmatischer Selbstvergewisserung verlangte. An diesem Punkt wird die Schieflage in der Zauberformel offensichtlich. Denn auf der anderen Seite wird die Partei das vermeintlich Konservative nicht zurückholen, indem sie beispielsweise Friedrich Merz an die Spitze holt. Dass personalisierte Hoffnungen auf einen Heilsbringer und politisch-programmatischen Hauruck selten erfüllt werden, mussten die Sozialdemokraten mit Martin Schulz erst 2017 wieder schmerzlich erfahren. Ein ganz ähnliches Schicksal könnte Merz (prinzipiell genauso gut aber auch Markus Söder, auch wenn dieser viel wendiger als Merz ist) erwarten.
Sinnkrise des Konservatismus
Noch gravierender als all dies aber erscheint es, dass es heutzutage alles andere als einfach ist, die Frage zu beantworten, was dieses Konservative überhaupt noch ist, das die Partei vermeintlich zurückholen müsse. Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach etwas Diffus-Konservativem einerseits und der programmatischen Chimäre eines politischen Konservatismus andererseits durchzieht die politische Auseinandersetzung der letzten Jahre.[32] Denn fraglos hat sich der politische Konservatismus spätestens seit den 1990er Jahren grundlegend gewandelt. Es gibt zwar weiterhin einzelne Axiome konservativer Politik wie etwa symbolträchtige Themen auf dem Gebiet der Familienpolitik, aber der Konservatismus ist heutzutage kaum mehr in der Lage, ein komplexes Deutungssystem zu sein. Der Konservatismus kann nicht mehr beanspruchen, als (Gesellschafts-)Theorie eine Ideenwelt darzustellen, die Theorie und Praxis, politische Vorstellungen und Alltagsleben sinnhaft und sinnstiftend verbinden könnte.[33] Vor diesem Hintergrund verweist die Forderung nach »mehr« Konservativem grundlegender auf die veränderten Koordinaten zur Konstituierung politischer Bewusstseinsformen und die Aporie solcher romantisch anmutenden Vorstöße, weil man nicht einfach zu einem früheren Zustand zurück kann. Die fortlaufende Ausdifferenzierung von Lebenswelten, Milieus und Parteiensystem tut ihr Übriges zur weiteren Erosion vormalig klassischer politischer Vorstellungswelten wie dem politischen Konservatismus, dem für die Legitimation als eigenständiges Deutungssystem heutzutage die gesellschaftliche Basis fehlt.[34] Der damit verbundene strukturelle Wandel des Konservatismus hat zu einer Schieflage im politischen Entsprechungsverhältnis geführt: Es gibt offensichtlich ein nicht zu unterschätzendes gesellschaftliches Bedürfnis nach Konservativem, wie es Soziologen an einzelnen lebensweltlichen Ausdrucksformen schon seit Jahren beobachten.[35] Doch dieses Bedürfnis findet kaum eine politische Entsprechung, weil das dafür notwendige Deutungssystem und ein sich daraus immer erst ableitbares politisches Programm fehlt. Dass regelmäßig im Feuilleton immer wieder die (gleiche) Frage diskutiert wird, »was heißt heute konservativ?«[36], ist nur der offensichtlichste Ausdruck für dieses Missverhältnis. Jedenfalls aber stellt dieser strukturelle Wandel des Konservatismus bei gleichzeitigem gesellschaftlichen Bedürfnis überhaupt erst die Bedingung dafür dar, dass sich die AfD als bürgerlich-konservative Partei inszenieren kann. Weil jeder für sich beanspruchen kann, konservativ zu sein, während die Suche nach dem Konservativen weiterhin läuft, erweitert sich der Handlungsspielraum für selbsternannte Konservative und erleichtert hierdurch das Manöver der konservativen Selbstlegitimation bis zur Usurpation des Konservativen. Aus diesem Grund wird gerade Alexander Gauland – dessen politisch-intellektuelle Biographie nicht nur für einen konservativen Abtrünnigen, sondern auch für den Zer- oder Verfall des politischen Konservatismus selbst steht – auch nicht müde, die AfD als eine bürgerlich-konservative Partei zu verkaufen.[37] Denn obwohl der politische Gegner die Berechtigung dieses Images zurückweist, verschafft diese konservative Selbstlegitimation der AfD Stimmen, verunsichert politische Kontrahenten und sorgt weiterhin für Rumoren bei christdemokratischen Landesverbänden, wie man es denn nun mit der AfD halten muss.
In diesem Zusammenhang sei wiederum auf Adorno verwiesen, der schon in seinem Vortrag über die »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« als entscheidende Abwehr gemahnt hat, dass Pathologisierungen und Moralisierungen kaum gegen das gesellschaftliche Phänomen des Rechtsradikalismus an sich helfen würden, sondern dass man »an die realen Interessen appellieren soll«[38], um die propagandistischen Mittel auch als solche zu entlarven, und »dadurch die Massen gegen diese Tricks zu impfen«[39]. Ganz in diesem Sinn ist dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie[40] als erster Schritt (auch) gegen die bisherige identitätspolitische Abwehr beizupflichten, wenn er in einem Brief an einen fiktiven abtrünnigen Konservativen mahnt, dass jenseits sicherheitspolitischer Ordnungsmaßnahmen vielmehr entscheidend sei, dass sich das restliche konservative Bürgertum selbst besinnen und erkennen sollte, was die AfD wirklich ist: »Konservativer« Etikettenschwindel.
[1] Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Verfassungsschutzbericht 2019, Berlin 2020, S. 83.
[2] Vgl. Finkbeiner, Florian/Trittel, Katharina/Geiges, Lars: Rechtsradikalismus in Niedersachsen. Akteure, Entwicklungen und lokaler Umgang, Bielefeld 2019, S. 293 f.
[3] Vgl. Thrun, Felix: Die Auflösung des »Flügels« in der AfD – Gewinn für die freiheitlich-demokratische Grundordnung?, in: verfassungsblog.de, 15.04.2020, URL: https://verfassungsblog.de/die-aufloesung-des-fluegels-in-der-afd-gewinn-fuer-die-freiheitlich-demokratische-grundordnung/ [eingesehen am 05.08.2020].
[4] Vgl. Fröhlich, Alexander: Immer mehr AfD–Mitglieder bieten Verfassungsschutz Spitzeldienste an, in: Tagesspiegel, 09.07.2020.
[5] Teile der nachfolgenden politisch–programmatischen Einordnung basieren auf einer größeren Untersuchung zur AfD in Niedersachsen, siehe hierzu Finkbeiner, Florian/Schröder, Niklas: Die AfD und ihre Wähler in Niedersachsen. Eine Fallanalyse zum Sozialprofil der Wählerschaft und ihrer politischen Einstellungen am Beispiel von Niedersachsen, FoDEx–Studie Rechtsradikalismus, Göttingen 2020.
[6] Vgl. Priester, Karin: Die Alternative für Deutschland, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 67 (2019), H. 3, S. 443–453.
[7] Niedermayer, Oskar/Hofrichter, Jürgen: Die Wählerschaft der AfD: Wer ist sie, woher kommt sie und wie weit rechts steht sie?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 47 (2016), H. 2, S. 267–284, hier S. 270.
[8] Vgl. Wildt, Michael: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017.
[9] Vgl. Alternative für Deutschland: Programm für Deutschland. Wahlprogramm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum Deutschen Bundestag am 24. September 2017, beschlossen auf dem Bundesparteitag in Köln am 22./23. April 2017, S. 37 ff.
[10] Ebd., S. 47.
[11] Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat, Hrsg. von Hans Herzfeld, München 1969, S. 11.
[12] Alternative für Deutschland: Programm für Deutschland, S. 47.
[13] Ebd.
[14] Vgl. Ulrich, Bernd/Geis, Matthias: »Hitler hat den Deutschen das Rückgrat gebrochen“, Interview mit Alexander Gauland, in: Die Zeit, 14.04.2016.
[15] Kaube, Jürgen: Gaulands Geschichtsverständnis: Erfolgshistory, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.06.2018.
[16] Alternative für Deutschland: Programm für Deutschland, S. 48.
[17] Vgl. Grimm, Marc/Kahmann, Bodo: AfD und Judenbild. Eine Partei im Spannungsfeld von Antisemitismus, Schuldabwehr und instrumenteller Israelsolidarität, in: Grigat, Stephan (Hrsg.): AfD & FPÖ: Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder, Baden–Baden 2017, S. 41–59.
[18] Alternative für Deutschland: Programm für Deutschland, S. 47.
[19] Ebd.
[20] Lucke, Albrecht von: Gegen ’68: Grün–Schwarz und der Kulturkampf der AfD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2016, S. 5–8, hier S. 5.
[21] Vgl. Alternative für Deutschland: »Demokratie wieder herstellen – Dem Volk die Staatsgewalt zurückgeben – AfD–Manifest 2017 – Die Strategie der AfD für das Wahljahr 2017«, v. 22.12.2016.
[22] Vgl. Finkbeiner, Florian: Nationale Hoffnung und konservative Enttäuschung. Zum Wandel des konservativen Nationenverständnisses nach der deutschen Vereinigung, Bielefeld 2020.
[23] Vgl. Pfahl–Traughber, Armin: Die AfD und der Rechtsextremismus. Eine Analyse aus politikwissenschaftlicher Perspektive, Wiesbaden 2019; Niedermayer/Hofrichter: Die Wählerschaft der AfD: Wer ist sie, woher kommt sie und wie weit rechts steht sie?.
[24] Siehe hierzu ausführlich Finkbeiner/Schröder: Die AfD und ihre Wähler in Niedersachsen.
[25] Vgl. Adorno, Theodor W.: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag, Berlin 2019.
[26] Siehe hierzu die grundlegenden Überlegungen zum Problemkomplex politischer Mentalitätstrends und der Frage, was Menschen politisch umtreibt, vgl. Schenke, Julian/Finkbeiner, Florian/Neumann, Amelie: Das Potenzial der Cleavage–Perspektive. Wahlverhalten als Oberflächenphänomen der politischen Kultur, in: Demokratie–Dialog 6 (2020), S. 2–11, bes. S. 5 f.
[27] Siehe zu dieser Einordnung etwa Caspari, Lisa: »Eine Neuwahl wäre für Deutschland wohl die beste Lösung«. Interview mit Andreas Rödder, in: Zeit Online, 10.02.2020, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/andreas-roedder-cdu-neuwahlen-bund-konservativismus-forscher [eingesehen am 05.08.2020].
[28] Walter, Franz: Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbildung, Frankfurt a. M. 2008, S. 138.
[29] Es fällt doch auf, dass das Phänomen des Kleinbürgertums heutzutage keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Obwohl diese Kategorie für das Verständnis der deutschen Mentalitätsgeschichte von entscheidender Bedeutung ist, dominiert heute nur noch der pejorative Charakter. Zur Bedeutung des kleinbürgerlichen Lebensstils vgl. weiterhin Franke, Berthold: Die Kleinbürger. Begriff, Ideologie, Politik, Frankfurt a. M. 1988.
[30] Vgl. Dieckmann, Cornelius: »Die Grenzen zum Terror sind dabei fließend«. Interview mit Claus Leggewie, in: Süddeutsche Zeitung, 13.02.2020.
[31] Reckwitz, Andreas: Kampf um das Bürgerliche, in: Der Spiegel 8/2020, S. 116–119.
[32] Siehe dazu bereits Lenk, Kurt: Deutscher Konservatismus, Frankfurt a. M. 1989.
[33] Vgl. Finkbeiner: Nationale Hoffnung und konservative Enttäuschung.
[34] Vgl. ebd.
[35] Vgl. beispielsweise die kürzlich erschiene SINUS-Jugendstudie, Calmbach, Marc u. a.: Wie ticken Jugendliche? 2020. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Bonn 2020.
[36] Vgl. beispielsweise Bahr, Petra: Was ist heute noch konservativ?, in: Die Zeit, 14.02.2020; Höffe, Otfried: Was heisst heute konservativ?, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.05.2018; Heit, Tatjana: Interview mit Andreas Rödder: »Ein echter Konservativer weiß, dass alles immer schlechter wird«, in: FAZ, 04.05.2018.
[37] Vgl. Bender, Justus: Interview mit Alexander Gauland: »Ich kann ja nichts dafür, wenn einige Leute spinnen«, in: FAZ, 08.09.2019.
[38] Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, S. 51.
[39] Ebd., S. 54.
[40] Vgl. Leggewie, Claus: Verderber Deutschlands, in: Die Zeit, 25.03.2020.