Einleitung

Zwischen Celler Bahnhof und Innenstadt rast an einem Dienstagmorgen im Herbst 2017 eine Kolonne aus Polizeiwagen mit hoher Geschwindigkeit und Blaulicht die Straße entlang. Durch den pittoresken Celler Schlosspark patrouillieren Polizisten. Vor dem nahegelegenen Gebäude des Oberlandesgerichtes in der Kanzleistraße ist faktisch eine Hochsicherheitszone eingerichtet. Autofahrer, die kurz halten wollen, werden von Beamten angewiesen, weiterzufahren. Die Stimmung ist angespannt. Jeder, der das Gebäude betreten will, muss ausgiebige Kontrollen, die man sonst vor allem von Flughäfen kennt, über sich und sein Gepäck ergehen lassen. Der Grund dafür, dass die Allerstadt nun schon seit mehreren Monaten an jedem Dienstag und Mittwoch einer Festung gleicht, liegt allerdings schon mehr als ein Jahr zurück.

Am 8. November 2016 vermeldeten die überregionalen Medien einen Erfolg im Kampf der Sicherheitsbehörden gegen die dschihadistischen Strukturen in Deutschland: Mit der Festnahme des heute 34-jährigen Ahmad Abdulaziz Abdullah A., genannt ›Abu Walaa‹[1], im niedersächsischen Bad Salzdetfurth[2] hätten die Behörden den vermeintlich wichtigsten Mann des IS in Deutschland verhaftet[3] – so hatte es zumindest der ehemalige IS-Unterstützer und heute 24-jährige Syrien-Rückkehrer Anil O. gegenüber dem Recherche-Netzwerk von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung erklärt und sich den Sicherheitsbehörden als Kronzeuge zur Verfügung gestellt. Zeitgleich wurden der 52-jährige Hasan C., der 38-jährige Boban S., der 29-jährige Mahmoud O. und der 28-jährige Ahmed F.Y. festgenommen.

Schließlich begann am 26. September 2017 gegen alle fünf der Strafprozess vor dem Oberlandesgericht Celle aufgrund der Anklage der »Unterstützung der ausländischen terroristischen Vereinigung ›Islamischer Staat‹«[4]. Geleitet wird das bis 2019 angesetzte Verfahren von Richter Frank Rosenow, der seit dem von ihm 2013 bis 2014 geführten Strafverfahren gegen den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff eine gewisse Prominenz genießt. Konkret wird Abu Walaa vorgeworfen, »als Repräsentant des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Deutschland die zentrale Führungsposition übernommen«[5] und der Organisation Ausreisewillige vermittelt zu haben. Er soll vor allem von der DIK-Moschee in Hildesheim aus operiert haben, der er als Imam vorstand und die das Niedersächsische Innenministerium schließlich im März 2017 per Vereinsverbot schließen ließ.[6] Mahmoud O. und Ahmed F. Y. habe er die konkrete Durchführung von Ausreisevorbereitungen übertragen. Die beiden anderen Angeklagten hätten in Nordrhein-Westfalen Unterrichtsinhalte gelehrt, mit denen Sympathisanten und Ausreisewillige ideologisch auf eine spätere Tätigkeit für die Organisation vorbereitet worden seien.

In den Medien werden die Angeklagten zudem mit zahlreichen weiteren Straftaten in Verbindung gebracht, die jedoch nicht Gegenstand des Strafverfahrens sind: So soll Abu Walaa Anschlagsplanungen von Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 in Berlin zwölf Menschen tötete, autorisiert haben.[7] Auch der im Dezember 2017 festgenommene Dasbar W., welcher der Planung eines Anschlags auf den Karlsruher Weihnachtsmarkt verdächtigt wird, habe ein Seminar Abu Walaas besucht.[8] Hasan C. soll durch die Seminare im Hinterzimmer seines Duisburger Reisebüros Jugendliche radikalisiert haben, die am 16. April 2016 einen Terroranschlag auf einen Essener Sikh-Tempel begingen.[9]

Jedoch: Lässt sich auch gerichtsfest beweisen, dass die Angeklagten gemeinsam das zentrale deutsche IS-Netzwerk gebildet haben und Niedersachsen tatsächlich zu einem Zentrum des internationalen Terrorismus wurde?

Die Aussagen des Kronzeugen Anil O.

Die Angeklagten verfolgen den Prozess fast durchweg schweigend hinter einer Glasscheibe, die sie ebenso wie die Zuschauer vom Gerichtssaal abschirmt. Während Abu Walaa früher via YouTube und anderer sozialer Netzwerke die Öffentlichkeit suchte und mehr als 25.000 Menschen seinem Facebook-Account folgten, bleibt er während des Prozesses stumm.[10] Das Gericht ist daher vor allem auf Die Aussagen des Kronzeugen Anil O. angewiesen. Vom 8. November 2017 bis Anfang Februar 2018 wird er an fast jedem Prozesstag vernommen. Er selbst ist bereits 2017 vor dem OLG Düsseldorf wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden.[11] Nun lebt er zum Schutz vor seinen früheren Weggefährten im Zeugenschutzprogramm an einem unbekannten Ort. Damit er heute möglichst unerkannt leben kann, erscheint er im Gerichtssaal stets in Verkleidung und mit Perücke[12], was seinen Auftritten eine gewisse Skurrilität verleiht. Mit seiner gewählten Ausdrucksweise widerspricht O., der das Abitur 2014 mit der Note 1,0 abgelegt habe,[13] deutlich dem Klischee des Salafisten als ein in der Mehrheitsgesellschaft gescheiterter Bildungsverlierer. Gelegentlich greift er auf Fachtermini der Sicherheitsbehörden oder der Islamwissenschaft zurück – etwa, wenn der Ex-IS-Anhänger das Milieu, in dem er einst verkehrte, als ›neosalafistisch‹ beschreibt. Über weite Strecken gelingt ihm, nicht als verurteilter Straftäter, sondern als unverzichtbarer Experte wahrgenommen zu werden.

O. berichtet, wie er sich bereits im Alter von etwa 14 Jahren durch Kontakte zu Mitschülern der salafistischen Szene angenähert habe, obwohl er selbst in einem religionsfernen Elternhaus aufgewachsen sei. Schon über den Jahreswechsel 2013/14 sei er spontan mit einem Bekannten von der Türkei aus für etwa zehn Tage nach Syrien in das Gebiet um Aleppo gereist. Ursprünglich habe er nur Spenden an syrische Flüchtlinge in der Türkei im Grenzgebiet verteilen wollen, sich dann aber aus Neugier doch spontan in das damals von Milizen der Freien Syrischen Armee gehaltene Gebiet begeben. Den IS bzw. dessen Vorgängerorganisation habe er damals noch abgelehnt, da er ein Video von einer Massenexekution gesehen habe, bei dem Muslime wegen ihrer vermeintlich fehlerhaften Gebetspraxis getötet worden seien. Doch nach der Ausrufung des Kalifats im Juni 2014 durch den IS habe er sich zum Unterstützer der Organisation gewandelt, da er und seine ehemaligen Mitstreiter stets auf die Wiedererrichtung der islamischen Institution gehofft hätten. Dennoch studierte er im Herbst 2014 zunächst erst ein Semester Medizin in Aachen, anstatt sich dem IS anzuschließen.

Durch Schulfreunde sei er 2015 schließlich auch mit den Angeklagten Boban S. und Hasan C. in Kontakt gekommen. Während des Ramadan[14] hätten sie eigene Islamkurse angeboten, die auch Anil O. besucht habe. Insgesamt sei er etwa ein Dutzend Mal dort gewesen. Sowohl an der Veranstaltung von Boban S.[15] in der Dortmunder Medresse als auch an Hasan C.s Seminar im Hinterzimmer seines Duisburger Reisebüros habe man nur auf Empfehlung teilnehmen können, da dort in deutscher Sprache offen nach dem »IS-Curriculum« unterrichtet worden sei und dabei auch heikle Themen wie der Dschihad oder der Takfir (das »Für-Ungläubig-Erklären« von vermeintlich irregeleiteten Muslimen)[16] zur Sprache gekommen seien. Die Illegalität der Inhalte sei allen bewusst gewesen; so hätten die Teilnehmer aus Angst vor den Sicherheitsbehörden allenfalls ausgeschaltete Handys zum Unterricht mitbringen dürfen. Mindestens einmal sei auch ein Hinrichtungsvideo des IS vorgeführt worden.

Schließlich habe ihm Hasan C. eröffnet, dass er ihn als »Delegierten«[17] des Ruhrgebiet-Netzwerkes zu einer zehntägigen Zusammenkunft mit Abu Walaa in der Hildesheimer DIK-Moschee entsenden wolle. Dabei handelte es sich um einen I‹tikaf (arab. für ›Absonderung‹ oder ›Verweilen‹), bei dem fromme Muslime geloben, das Ende des Ramadan gemeinschaftlich in der Moschee zu verbringen und die Zeit für Gebete und die Koran-Rezitation zu nutzen. Kurz vor seiner Abreise nach Hildesheim habe ihm die Polizei in Wuppertal ein Ausreiseverbot ausgehändigt; O. verletzte sich bei dem SEK-Einsatz – so heftig, dass er die Polizei bis heute der Folter bezichtigt.

Als er schließlich verspätet doch noch in Hildesheim eingetroffen sei, habe er dort eine unglaubliche Atmosphäre vorgefunden. Menschen aus ganz Europa und verschiedener Ethnizitäten hätten sich dort versammelt – gemäß dem proklamierten Ideal des IS, Grenzen von Sprache und Abstammung zu überwinden. Schon kurz nach seiner Ankunft habe ihn Mahmoud O. zu einem Terroranschlag in Deutschland »eingeladen« – er könne mit einem Fahrzeug in eine Gruppe von Polizisten hineinfahren, ohne selbst dabei sterben zu müssen. Anil O. erklärt allerdings, die Idee umgehend abgelehnt zu haben, da er schnellstmöglich in das Gebiet des IS habe ausreisen wollen. Bei mehreren persönlichen Unterredungen mit Abu Walaa, bei dem er die Grüße seiner Lehrer überbracht habe, habe dieser ihm zugesichert, seine Ausreisepläne zu unterstützen. Nach Abschluss des I‹tikaf sei er mindestens noch einmal nach Hildesheim gefahren und habe dort von Ahmed F. Y. die Telefonnummern von Kontaktmännern erhalten, die ihm bei der Einreise ins IS-Gebiet von der Türkei aus helfen würden. Auf Anraten der Angeklagten habe er zudem zahlreiche Mobiltelefone und Tablets auf Rechnung gekauft, jedoch ohne sie zu bezahlen. Diese Geräte habe er den Angeklagten übergeben und im Gegenzug Geld für seine Ausreise erhalten – hier decken sich seine Aussagen weitestgehend mit den protokollierten Ergebnissen der verdeckten Observation der Übergabe.

Über seine Ausreise zusammen mit Frau und Kind und die Zeit in Syrien berichtet Anil O. ausführlich. Nach einem Aufenthalt in einem ›Safe House‹ in der Türkei sei er von einem Schleuser an die Grenze gefahren worden – die letzten Meter hätten er und seine Familie durch einen Olivenhain und über NATO-Stacheldraht zurücklegen müssen. Von Anfang an habe er deutlich gemacht, dass er als medizinischer Helfer und nicht als Kämpfer tätig werden wolle, was auch akzeptiert worden sei. Gegenüber IS-Verantwortlichen habe er erklärt, dass er von Abu Walaa geschickt worden sei – sein Name sei beim IS in Syrien bekannt gewesen und habe bewirkt, dass man ihm Vertrauen entgegengebrachte. Doch schon im Aufnahmezentrum hinter der Grenze sei ihm die Grausamkeit des IS aufgestoßen, der selbst Bedürftigen medizinische Hilfe verweigert habe. Nur wenige Wochen habe er mit seiner Familie in einer vom IS gestellten Wohnung in Rakka gelebt und medizinische Tätigkeiten ausgeübt. Doch als ihm eine etwa zehnjährige Jesidin als Sex-Sklavin angeboten worden sei, habe ihn dies angewidert, er habe mit dem IS gebrochen und mit seiner Familie fliehen wollen.

Doch die erste Flucht scheiterte, woraufhin er etwa siebzig Tage zunächst in einem Gefängnis, dann in einer Art psychiatrischen Anstalt des IS zugebracht habe, weil man ihm Spionage vorgeworfen habe. Zunächst sei er gefoltert worden, später habe man ihm zwangsweise Psychopharmaka verabreicht, bis er auf Martin Lemke, den sachsen-anhaltischen IS-Geheimdienstler[18], gestoßen sei, der ihm mitgeteilt habe, dass sich Abu Walaa für ihn eingesetzt habe, sodass er freikommen könne – bei einem erneuten Fluchtversuch müsse er aber mit seiner Hinrichtung rechnen. Nach seiner Freilassung aus der Haft und weiteren Fluchtversuchen sei der Familie im Januar 2016 schließlich die Rückkehr in die Türkei gelungen. Dort wurde O. verhaftet, kam nach einigen Wochen zwar frei, musste jedoch aufgrund eines schwebenden Strafverfahrens im Land verbleiben, sodass seine Familie zunächst ohne ihn nach Deutschland zurückkehrte. Bereits aus der Türkei habe er den Kontakt zu deutschen Journalisten und Behörden gesucht, um den IS, den er mittlerweile verabscheue, zu bekämpfen und andere junge Menschen von einer Ausreise abzuhalten. Nachdem die Türkei die Ausreisesperre aufgehoben hatte, kehrte er im September 2016 umgehend nach Deutschland zurück, wo er in Untersuchungshaft genommen wurde.

Wie glaubwürdig ist Anil O.?

Trotz der wochenlangen Vernehmung verwickelt sich O. vor Gericht in keine substanziellen Widersprüche bei seinen die Angeklagten betreffenden Aussagen. Allerdings beruft er sich bei Nachfragen zu Details immer wieder auf Erinnerungslücken und gelegentlich auch auf sein Zeugnisverweigerungsrecht. Die Fronten im Gerichtssaal muten auf den ersten Blick paradox an: Die Bundesanwaltschaft, die früher selbst gegen Anil O. ermittelte, stützt ihre Anklage gegen Abu Walaa und sein mutmaßliches Netzwerk maßgeblich auf O.s Aussagen und erklärt wiederholt, dass sie seine Schilderungen insgesamt für sehr glaubwürdig erachte. Die Verteidiger der Angeklagten wiederum versuchen, seine Glaubwürdigkeit zu diskreditieren und so ihre Mandaten zu entlasten: Akribisch versuchen sie, Belastendes gegen O. zusammenzutragen, sodass ein unbedarfter Zuschauer sie für Staatsanwälte halten könnte. Während der wochenlangen Vernehmung gelingt der Verteidigung schließlich auch, das Bild, das O. von seiner Biografie zeichnet, zu korrigieren, indem sie ihn mit Aufnahmen von abgehörten Telefonaten konfrontiert. Diese belegen, dass er sich auch nach seiner Rückkehr aus Syrien beleidigend über Behördenvertreter äußerte (so nannte er den Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen einen »Hurensohn«) und erneut versuchte, ein Tablet zu erwerben, ohne es zu bezahlen. Das Bild des reuigen Ex-Kriminellen bekommt dadurch Risse – es erscheint plausibel, dass O. in erster Linie mit den Behörden kooperiert, um einer Haftstrafe zu entgehen.

Auch lässt die Verteidigung ein auf O.s Handy sichergestelltes Video von 2014 vorführen, auf dem sein mit einem Kampfanzug bekleideter Begleiter auf seiner ersten Syrien-Reise Muslime in Deutschland auffordert, ebenfalls nach Syrien zu reisen, um sich dort für die Scharia einzusetzen. O. feuert ihn in dem Film aus dem Hintergrund an, sodass die Behauptung, die humanitäre Hilfe habe im Mittelpunkt der Reise gestanden, unglaubwürdig wirkt. Auch konnten die Anwälte Chats präsentieren, in denen sich O. mit einem Mitstreiter schon vor dem Aufenthalt in Hildesheim über betrügerische Handy-Geschäfte austauscht. Angesichts seiner seit Jahren bestehenden radikalen Haltung und der relativ kurzen persönlichen Bekanntschaft mit den Angeklagten erscheint durchaus plausibel, dass O. auch ohne ihre ideologische Indoktrination und logistische Unterstützung ins IS-Gebiet ausgereist wäre.

Auch sind die Angaben, die O. zu seinem Aufenthalt beim IS macht, nicht überprüfbar. Kein für die deutsche Justiz greifbarer Zeuge kann seine Gefangenschaft bezeugen. Laut dem Gedächtnisprotokoll eines Polizeibeamten erzählte O. auch von einem Aufenthalt in Mossul – vor Gericht erklärt O., er könne sich nicht vorstellen, Derartiges behauptet zu haben. Die Verteidigung hält O. außerdem Dokumente vor, wonach er gegenüber Dritten über Gespräche mit seinem Anwalt über eine »Menükarte« berichtet habe. In dieser soll er aufgelistet haben, welche Aussagen er den deutschen Sicherheitsbehörden anbieten könne. O. lehnt allerdings ab, seinen Anwalt von der Schweigepflicht zu entbinden, sodass das Gericht die Inhalte des Dokuments nicht in Erfahrung bringen kann. Gegen Ende der Vernehmung wird O. sogar mit dem Nachweis konfrontiert, in der Türkei 2017 wegen Terrorismus in Abwesenheit zu mehr als sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden zu sein. Die Behauptung O.s, trotz des Kontaktes mit seinem türkischen Anwalt von Deutschland aus nichts von der Verurteilung gewusst zu haben, erscheint äußerst unglaubwürdig.

Fazit

Trotz der Glaubwürdigkeitsdefizite des Kronzeugen erscheint es durchaus sehr plausibel, dass die Angeklagten die Ausreise in den IS ideologisch und logistisch unterstützt haben. Der Nachweis, dass das Netzwerk um Abu Walaa zentral für den IS in Deutschland war, ist aber dadurch noch nicht erbracht worden. Auch lassen sich aus O.s Aussage nur begrenzt Rückschlüsse auf das Gemeindeleben der mittlerweile verbotenen Hildesheimer DIK-Moschee ziehen, da er nach eigenen Angaben selbst nur eine äußerst kurze Zeit dort verbracht habe. Inwieweit die Aussagebereitschaft O.s zu seinem eigenen milden Urteil beigetragen hat, lässt sich nicht feststellen, doch offenbart der Fall die Janusköpfigkeit der Kronzeugenregelung. Auch bleibt unklar, welche Rolle ›Murat‹ spielte, ein Bekannter Anil O.s, der ihn 2015 sogar beim Hildesheimer I‹tikaf besuchte, nach den Ausreiseplänen befragt und selbst behauptet habe, nach Syrien emigrieren zu wollen. Wie heute bekannt ist, handelte es sich bei dem Mann um die »VP-01« (Vertrauensperson) des LKA Nordrhein-Westfalen, dem in den Medien vorgeworfen wird, Anis Amri zu einem Terroranschlag ermuntert zu haben.[19] Da das LKA Nordrhein-Westfalen das Ansinnen des Senates, die Person vor Gericht zu vernehmen, aus Sicherheitsgründen abgelehnt hat, wird seine Rolle bei den Geschehnissen um die Ausreise O.s wohl vorerst im Dunklen bleiben.

Dennoch ist der Prozess auch jenseits der eigentlichen Gerichtsverhandlung von Erkenntniswert für die Erforschung des Milieus des radikalen Islam. Einer der regelmäßigen Zuschauer des Prozesses ist Bernhard Falk, ein ehemaliger verurteilter Linksterrorist und zum Islam konvertierter Aktivist[20], der auf seinem Facebook-Blog »Falk Nachrichten«[21] und auf YouTube über zahlreiche Prozesse gegen Angeklagte aus dem dschihadistischen Spektrum berichtet und diese auch bei der Wahl ihrer Anwälte berät – wobei er nach eigenen Angaben zu diesem Zweck auch mit mehreren der Celler Angeklagten in Kontakt gestanden habe. Er selbst befürworte nach eigenen Angaben auch einen ›islamischen Staat‹, lehne aber den IS ab.[22] Doch auch offene Sympathisanten des IS wie Sabri Ben Abda tauchen im Zuschauerraum des Gerichtes auf.[23] Der Prozess soll daher auch in den kommenden Monaten weiterhin beobachtet werden, um so weitere Erkenntnisse über das Milieu des radikalen Islam zu gewinnen.

[1] Im Arabischen ist es üblich, einem Menschen nach der Geburt seines oder ihres ersten Kindes eine ›Kunya‹ – eine Art Spitznamen – zu geben und nach dem ältesten Kind zu benennen, bspw. »Abu Muhammad« (Vater von Muhammad) oder Umm Muhammad (Mutter von Muhammad). Auch der Angeklagte erklärte vor Gericht, dass sich sein Name auf Seine Tochter Walaa beziehe. Der Name ›Abu Walaa‹ hat jedoch eine doppelte Bedeutung; wörtlich bedeutet er ›Vater der Loyalität‹. Der Namensträger stellt damit mutmaßlich auf das Prinzip al-walāʾ wa-l-barāʾ (›Loyalität und Lossagung‹) ab, demzufolge wahre Muslime gegenüber anderen wahren Muslimen und den von ihnen gebildeten Institutionen Loyalität schuldig sind, sich aber von allen anderen Menschen und Einrichtungen lossagen müssen – auch vermeintlichen falschen Muslimen. Während dieses Prinzip von sunnitischen Gelehrten der islamischen Frühzeit als unislamische Neuerung (›bid’a’) verdammt wurde, ist es hingegen im heutigen salafistischen Spektrum vorherrschend. Manche Interpreten beziehen das Prinzip auch auf die Politik und halten die Lossagung von nicht-islamischen Herrschern für notwendig, wobei dschihadistische Interpreten wie Abū Muḥammad ʿĀṣim ibn Muḥammad al-Maqdisī eine gewaltsame Form der Lossagung befürworten. Auch wenn die Wahl des Namens ‹Abu Walaa’ somit nicht notwendigerweise eine Befürwortung des gewaltsamen Dschihads bedeutet, spricht sie doch für eine radikale Ablehnung der nicht-islamischen Umwelt und eine Hinwendung zum als wahrhaft islamisch verstandenen Milieu. Siehe Wagemakers, Joas: The transformation of a radical concept: al-wala’ wa-l-bara’ in the ideology of Abu Muhammad al-Maqdisi, in Global Salafism: Islam’s new religious movement, London 2013, S. 81–106.

[2] Randermann, Heiko und Morchner, Tobias: IS-Prediger Abu Walaa aus Hildesheim soll in Celle vor Gericht, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 13.07.2017, URL: http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/IS-Prediger-Abu-Walaa-aus-Hildesheim-soll-in-Celle-vor-Gericht [eingesehen am 29.01.2018.

[3] Heil, Georg; Kabisch, Volkmar und Mascolo, Georg: Das ist der Schlimmste, in: sueddeutsche.de, 08.11.2016, URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/islamisten-in-deutschland-das-ist-der-schlimmste-1.3239861 [eingesehen am 29.01.2018].

[4] Verfahren gegen Ahmad Abdulaziz Abdullah A. (›Abu Walaa‹) u.a., Oberlandesgericht Celle, 07.09.2017, URL: https://www.oberlandesgericht-celle.niedersachsen.de/aktuelles/presseinformationen/eroeffnung-des-verfahrens-akkreditierung-und-verhandlungsbeginn—157435.html [eingesehen am 29.01.2018].

[5] Verfahren gegen Ahmad Abdulaziz Abdullah A. (›Abu Walaa‹) u.a.

[6] Islamkreis Hildesheim war Rekrutierungsort für den IS, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 14.03.2017, http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/Deutschsprachiger-Islamkreis-Hildesheim-verboten, abgerufen am 29.01.2018.

[7] Anschlag am Breitscheidplatz. Anis Amri soll direkt von Abu Walaa angeworben worden sein, in: Die Zeit, 11.12.2017, URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-12/anschlag-breitscheidplatz-anis-amri-einzeltaeter-is-abu-walaa [eingesehen am 29.01.2018].

[8] Karlsruhe. Terrorverdächtiger hatte laut Bericht Kontakt zu Abu Walaa, in: Die Zeit, 16.01.2018, URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-01/karlsruhe-terrorverdacht-abu-walaa-dasbar-w [eingesehen am 29.01.2018].

[9] Heil, Georg: The Berlin Attack and the «Abu Walaa” Islamic State Recruitment Network, in: CTC Sentinel, Jg. 10 (2017), H. 2, S. 1–11, hier S. 7.

[10] Ebd., S. 6. Die meisten von ihm verwalteten Accounts und eingestellten Inhalte sind mittlerweile gelöscht. Im Netz findet sich allerdings noch ein Youtube-Statement zu einer Razzia gegen die Hildesheimer DIK-Moschee im Sommer 2016, URL: https://www.youtube.com/watch?v=89GDNyaV9E8. In dem Video, in dem er – wie in all seinen Aufnahmen – nie sein Gesicht zeigt, beschwert er sich über den bekannten Salafisten Pierre Vogel. Er bringe ihn ständig mit dem ›IS‹ in Verbindung und habe so dazu beigetragen, dass die Moschee in den Fokus der Polizei geraten sei. Allerdings widerspricht Abu Walaa in dem Video auch nicht der Behauptung, dass er mit der Organisation in Verbindung stehe. Außerdem erklärt er, dass die von ihm geführte Gebetsstätte »eine von den wenigsten Moscheen, die nach Koran und Sunna geführt wird«, sei (8:59 ff.). Er streitet somit implizit ab, dass viele andere Moscheen und deren Anhänger auch dem Koran und der Sunna, der mündlichen Überlieferung vom Propheten, folgen. Da beide Quellen jedoch gemeinhin als für den Islam verbindlich gelten, stellt der Vorwurf der bewussten Abweichung von den Quellen auch den islamischen Glauben des Betroffenen infrage. Abu Walaa steht somit in einer Tradition des »Takfir«, in der nominelle Muslime für ungläubig erklärt werden. Diese Tradition geht auf radikale Gruppen in Ägypten der 1970er Jahre zurück. Siehe Ibrahim, Saadeddin: Sozialprofil und Ideologie militanter muslimischer Gruppen in Ägypten, in: Schölch, Alexander/Mejcher, Helmut: Die ägyptische Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Hamburg 1992, S. 171–90.

[11] Schnelles Urteil im Prozess gegen IS-Aussteiger, in: wdr.de, 16.05.2017, URL: https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/bewaehrungsstrafe-is-aussteiger-100.html [eingesehen am 30.01.2018].

[12] Die Angaben zu den Aussagen von Anil O. beruhen auf 13 Gedächtnisprotokollen des Autors, der von Oktober bis Januar dieses Jahres die Verhandlungen aus dem Zuschauerraum beobachtete (am 17.10., 07.11., 08.11., 14.11., 15.11., 05.12., 06.12., 12.12., 13.12., 19.12., 20.12., 10.01., 16.01., 17.01. und den 23.01.2018. Aufgrund der Sicherheitsbestimmungen in dem Prozess war die Mitnahme von Schreibwerkzeug nicht möglich.

[13] Dschihadisten-Prozess in Düsseldorf. Mutmaßlicher IS-Terrorist kann auf Bewährungsstrafe hoffen, in: Spiegel Online, 24.04.2017, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/islamischer-staat-mutmasslicher-terrorist-gesteht-vor-gericht-a-1144636.html. [eingesehen am 31.01.2018].

[14] Der Ramadan dauerte im Jahr 2015 vom 17. Juni bis zum 16. Juli.

[15] Nach Auskunft von Anil O. war Boban S. noch radikaler als Hasan C. und beurteilte bspw. das Aufstehen vor Beginn einer Gerichtsverhandlung als ›Kufr‹ (Unglaube). Auf der Webseite der von ihm geleiteten Medresse findet sich bis heute ein Schaubild, welches IS und Saudi-Arabien vergleicht und dabei trotz zahlreicher Ähnlichkeiten feststellt, dass Ersterer nicht mit den USA verbündet sei, kein »Zins-Bankensystem« habe und auch außerhalb der UNO stehe. Offenkundig soll das Schaubild zum Ausdruck bringen, dass dem IS anders als Saudi-Arabien islamische Legitimität zukomme. Siehe URL: https://madrasatun.wordpress.com/category/analysen/ [eingesehen am 31.01.2018.

[16] Siehe Fußnote 10.

[17] Den Ausführungen von O. zufolge handelte es sich dabei um eine symbolische Delegation, um die Verbundenheit des Ruhrgebiet-Netzwerks mit Abu Walaa zum Ausdruck zu bringen. Konkrete Aufgaben hatte er demnach nicht.

[18] Fuchs, Christian; Musharbash, Yassin und Stark, Holger: ›Islamischer Staat‹. Vom Schweißer zum Schlächter, in: Die Zeit, 18.12.2017, URL: http://www.zeit.de/2017/52/islamischer-staat-sachsen-anhalt-konvertierung-radikalisierung/komplettansicht. [eingesehen am 31.01.2018].

[19] Landeskriminalamt. V-Mann soll Islamisten zu Anschlägen angestachelt haben, in: Die Zeit, 19.10.2017, URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-10/anis-amri-v-mann-weihnachtsmarkt-attentaeter-nordrhein-westfalen-terror [eingesehen am 31.01.2018].

[20] Hackensberger, Alfred: Bernhard Falk. Vom Linksterroristen zum Al-Qaida-Anhänger, in: Die Welt, 25.05.2015, URL: https://www.welt.de/politik/ausland/article141454678/Vom-Linksterroristen-zum-deutschen-Gesicht-al-Qaidas.html. [eingesehen am 31.01.2018].

[21] URL: https://www.facebook.com/Falk-Nachrichten-1949997798546553/

[22] URL: http://falk-site.de/wir-brauchen-einen-islamischen-staat-aber-nicht-isis/, Video vom 20.09.2014 [eingesehen am 31.01.2018].

[23] In einem persönlichen Gespräch des Autoren mit Ben Abda am 16. Januar 2018 erklärte dieser, dass sich Muslime um ein Leben nach der Scharia bemühen müssten und sich viele Menschen, die diesem Gebot nicht nachkämen, zu Unrecht als Muslime bezeichnen würden. Einzig in den Gebieten des IS sei versucht worden, ein Leben nach der Scharia zu etablieren. Dazu gehöre auch das Gebot, Homosexuelle durch einen Sturz von hohen Gebäuden zu töten. Auch die Verbrennung des jordanischen Piloten Moaz Kasasbeh bei lebendigem Leib sieht Ben Abda als islamisch gerechtfertigt an. Siehe Rößler, Hans-Christian: Terrorismus: IS verbrennt jordanischen Piloten offenbar bei lebendigem Leib, in: faz.nez, 03.02.2015, URL: http://www.faz.net/1.3407317 [eingesehen am 31.01.2018].