Hoch die internationale Solidarität?
1968 erschüttert die Welt. Nicht nur innenpolitisch schien die politische Situation angespannt – ob Osterunruhen, das Attentat auf Rudi Dutschke oder Kaufhausbrandstiftungen: Lange schwelende Konflikte brechen mit ungeahnter Härte auf. Zugleich ereignen sich auch im internationalen Rahmen politische Beben. Der »Prager Frühling« findet durch den Einmarsch von sowjetischen Truppen ein jähes Ende und der Vietnamkrieg eskaliert zusehends. Diese Entwicklungen waren es nun, die zu einem veränderten Selbstverständnis der radikalen Linken führten. Der Internationalismus wurde zum entscheidenden Bezugspunkt. Doch wie kam es dazu?
Die politischen und kulturellen Prozesse im Zusammenhang mit »68« beeinflussten die politische Wahrnehmung diverser Themenkomplexe. Einer, der noch über Jahrzehnte hinaus die Diskussionen der radikalen Linken bestimmte, war deren Verhältnis zum Imperialismus und die damit einhergehende »Entdeckung« der sogenannten Dritten Welt. Ob 68 in diesem Kontext schließlich als »Mythos, Chiffre oder Zäsur«[1] interpretiert wird, hängt freilich von der politischen Couleur der jeweiligen BeobachterInnen ab – nichtsdestoweniger ist 68 jedoch auch fünfzig Jahre später noch immer ein Faszinosum. Zeit also, um zu rekonstruieren, wie die Grundlagen eines modernen internationalistischen Bewusstseins innerhalb der radikalen Linken gelegt wurden.
Natürlich ist das vermeintliche Schicksalsjahr nicht in einen politisch-kulturell luftleeren Raum hineingewachsen, vielmehr kulminierten unterschiedliche nationale wie internationale Entwicklungen, innenpolitische Prozesse und Proteste des Jahrzehnts, welche die Bewegungen, die oftmals verallgemeinernd als »68er« bezeichnet werden, zu einem »sozio-politischen Amalgam«[2] werden ließen. Tatsächlich waren die 1960er Jahre Teil eines Entwicklungsprozesses, der durch eine stete Radikalisierung entscheidender AkteurInnen innerhalb der bestehenden Systemopposition geprägt war, was gegen die Imagination eines einheitlichen Protestdatums spricht.[3] Ob nun der Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze oder die Studierendenrevolte, deren prominenteste Wortführer[4] sich als Avantgarde der revolutionären Massen sahen: Die politische Situation in der BRD war gekennzeichnet durch die Konfrontation rivalisierender politischer Lager – die Stimmung war explosiv. Vermeintliche gesamtgesellschaftliche Konsense, wie etwa die USA-Bindung der jungen Bundesrepublik, die sich im durch die Machtblöcke geteilten Berlin wie unter einem Brennglas zeigte und hier eine gewisse »Frontstadtatmosphäre«[5] kreierte, die – ausbleibende – Vergangenheitsbewältigung oder die Rolle gesellschaftlicher Opposition wurden hinterfragt und verschärften den Konflikt, der seitens der Studierenden zusehends unter dem Gesichtspunkt neomarxistischer Prämissen geführt wurde.[6] Sie versuchten also, eine Re-Aktualisierung marxistischer Theorie unter Zuhilfenahme einer subjektivistischen Perspektive vorzunehmen, welche die orthodoxe Annahme widerlegt, wonach der Kapitalismus naturgesetzlich an seinen inneren Widersprüchen zerbreche. Diese Politisierung der Studierenden und anderer politischer Minderheiten kollidierte hingegen mit einer weitgehenden Entpolitisierung anderer Teile der Gesellschaft. Die sich endgültig entfaltende Konsumgesellschaft ließ die Politik als eine auf Sachzwänge reduzierte Verwaltungssphäre erscheinen, die in der ersten Großen Koalition (1966 bis 1969) aus CDU und SPD zu ihrer vollen Blüte kam. Auch vor dem Hintergrund dieses wahrgenommenen Demokratiedefizits sind die Entwicklungen der Protestbewegungen dieser Jahre zu interpretieren.[7]
Die studentische Linke
Der radikale Teil der deutschen Studierenden, die sich in den 1960er Jahren im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) organisierten, bildete gemeinsam mit anderen sozialen Bewegungen, wie etwa der Anti-Notstandsgesetz- oder der Ostermarsch-Bewegung, die im Entstehen begriffene »Neue Linke«. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sie den Sozialismus als wissenschaftliches Erkenntnis- und praktisches Analyseinstrument von den real existierenden gesellschaftlichen Bedingungen entkoppelte.[8] Dies war durch Gegenwartsanalysen notwendig geworden, die nahelegten, dass im Deutschland der 1960er Jahre zwar nach wie vor eine Klassengesellschaft existiere, ohne dass hieraus jedoch zugleich ein Klassenbewusstsein resultiere.[9]
Innerhalb dieser Bewegung blieben die Studierenden – wie gesamtgesellschaftlich auch – zunächst isoliert und mussten ihre Beziehung zu den übrigen Bewegungen, als deren ideologische Speerspitze sie sich doch sahen, erst konstruieren. Die Herausforderung bestand darin, die übrigen Ein-Punkt-Bewegungen ideologisch zu einen und dabei auf die Notwendigkeit hinzuweisen, das herrschende System in seiner Totalität zu bekämpfen.[10] So bestimmte der Marx’sche Theorieapparat zwar nach wie vor das Denken; die abgeleiteten Analysen und praktischen Implikationen blieben jedoch inkonsistent. Dies drückte sich insbesondere im Verhältnis der Studierenden zur ArbeiterInnenklasse aus, die sie zwar weiterhin als revolutionäres Subjekt identifizierten, sich in ihrem Avantgardeverständnis aber gleichzeitig von ihr abgrenzten. So konnten die Studierenden laut dem Politikwissenschaftler Johannes Agnoli niemals zu einem gleichberechtigten Teil der Klassenbewegung werden. Durch die abstrakte Theoriebildung entfernten sie sich von der sozialen Realität derjenigen, mit denen sie ursprünglich revolutionär tätig werden wollten.[11] Auch in ihrer inhaltlichen Stoßrichtung war der Fokus der Studierenden eher gegen die kulturellen Ausdrucksformen der kapitalistischen Gesellschaft gerichtet und orientierte sich weniger an der Lebensrealität der ArbeiterInnen. Dies hinderte sie daran »die soziale Realität in ihrer konkreten Totalität zu sehen, die bestimmt ist von dem objektiven Prozeß, der ihre materielle Basis darstellt: den Verwertungsprozeß des Kapitals«[12].
Die Krise des Sowjet-Sozialismus
Mit dieser Neukonstituierung der radikalen linken Bewegungen ging eine gewisse Krise des globalen, an der Sowjetunion orientierten Sozialismus voraus. Tatsächlich erschien es noch in den 1950er Jahren wohlwollenden BetrachterInnen möglich, dass sich – angesichts des wirtschaftlichen Aufstiegs der UdSSR – der Sozialismus als das leistungsfähigere Ordnungssystem herausstellen würde. Um ihre positive Entwicklung zu konsolidieren, setzte die Sowjetunion deswegen auf eine Politik der Befriedung gegenüber dem kapitalistisch dominierten und an den USA orientierten Teil der Erde – mit erschütternden Konsequenzen für den sozialistischen Block, in welchem sich fortan deutliche Risse zeigen sollten.
Die lauteste Kritik kam dabei aus China von seinem Führer Mao Zedong, der darin eine Abkehr von den Interessen der sogenannten Dritten Welt, gar einen »Verrat an der Weltrevolution« sah.[13] Laut Maos Drei-Welten-Theorie kämpften der US-Imperialismus und die sowjetischen »Sozialimperialisten«[14] um die globale hegemoniale Vorherrschaft. Europa sei, als Zweite Welt, den beiden Supermächten unterworfen; Aufgabe der Entwicklungsländer in der Dritten Welt sei es, ein Bündnis mit der Zweiten Welt gegen die Supermächte zu schmieden.[15] Folgerichtig waren es nun auch vornehmlich die Bewegungen aus dieser Dritten Welt, die sich vom Sowjet-Kommunismus abwandten, den sie als einen Kommunismus der Weißen und als »verbürokratisiert, arrogant und großmachtchauvinistisch«[16] charakterisierten. Die Lehren Maos ermöglichten diesen Gruppen, den Kampf gegen den Imperialismus mit aller erforderlicher Radikalität theoretisch zu legitimieren.[17] Mao insistierte, an Lenin anknüpfend, darauf, dass Kapitalismus und imperialistische Weltordnung bekämpft werden müssten, da diese andernfalls die subalternen Ländern in ihrer unverschuldeten Abhängigkeit beließen.[18]
In Europa wurde der Maoismus im Zuge der Studierendenrevolte erst um 1968 populär, als auch die Studierenden begannen, vom Vorbild der Sowjetunion abzurücken, deren Revolutionsverständnis zu einem »bloßen Ritual degeneriert war«[19] und die durch ihr außenpolitisches Handeln, etwa in der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings, deutlich an Glaubwürdigkeit verloren hatte. Gebunden an das neue Interesse der westlichen Linken an China waren also einerseits Enttäuschungen, andererseits aber auch die Hoffnung, dass eine alternative Entwicklung des Sozialismus weiterhin möglich bleibe.[20] Die Theorie Maos wurde fortan als anti-stalinistische Position gelesen, ließ Mao doch die Möglichkeit des Widerspruchs der Massen gegen ParteifunktionärInnen zu. Jedoch: diese Möglichkeit blieb an gewisse Bedingungen geknüpft; Kritik durfte etwa nur aus dem Volk kommen – wer definierte, wer zum Volk gehörte und wer nicht, blieb jedoch unklar:[21] »Man sollte das Recht auf Kritik bei Mao daher nicht mit dem Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung verwechseln.«[22] Der Maoismus, so der Sinologe Felix Wemheuer, könne also – trotz der weiterhin ungeklärten Fragen danach, wie sich die Massen selbst repräsentieren könnten und wie eine revolutionäre Bewegung praktisch zu organisieren sei – eine Antwort auf die Krise des Leninismus geben. Damit war er »der letzte ernstzunehmende Versuch, ihn zu retten«[23].
Der Chinese Rudi Dutschke
Innerhalb dieser Neuen Linken waren es vornehmlich die Studierenden, die zu den TrägerInnen eines neuen Internationalismus wurden. Diese veränderte theoretische Interpretationsfolie spiegelte sich sowohl in der rezipierten Literatur als auch in der politischen Themensetzung der Studierenden wider. Und dies umso stärker, da sich Rudi Dutschke, einer ihrer populärsten Vertreter, selbst als »Chinese«[24] bezeichnete, der die von der russischen Zentrallinie geforderte Implementierung des globalen Status quo nicht akzeptieren wollte. Globale Ereignisse ließen den Themenbereich »Antiimperialismus« innerhalb der Studierendenschaft zudem zyklisch virulent werden und stellten so die Gelegenheitsfenster bereit, die – unter anderem – von Dutschke genutzt werden konnten.
Der Protest gegen den Vietnamkrieg war zwar das berühmteste und wohl auch folgenreichste Ereignis, jedoch keinesfalls das erste seiner Art. Bereits 1960 gab es innerhalb des SDS Stimmen, die auf koloniale Prozesse und Befreiungskämpfe sowie auf die Notwendigkeit solidarischer Proteste in den europäischen und US-amerikanischen Metropolen hinwiesen.[25] Auch der Algerienkrieg von 1954 bis 1962 lenkte die Aufmerksamkeit auf das internationale Spannungsverhältnis zwischen Nord und Süd.[26] Jedoch dauerte es einige weitere Jahre, bis 1964, bis dieser Appell auch spürbare Konsequenzen hatte. Als der damalige kongolesische Ministerpräsident Moïse Tschombé Berlin besuchte, kam es während der gesamten Besuchsdauer zu wütenden Protesten seitens der Studierenden, da ihm die Ermordung des ersten Ministerpräsidenten der Republik Kongo, Patrice Lumumba, vorgeworfen wurde. Zeitgenössische BeobachterInnen waren von der Entschlossenheit und der Intensität der Proteste gleichermaßen überrascht; mit ihnen war der Umgang mit Ländern, Herrschenden und der Bevölkerung der sogenannten Dritten Welt endgültig ein Teil der politischen Agenda.[27] Die Dritte Welt wurde zu einer »Projektionsbühne«[28] des internationalen Befreiungskampfes.
Wenige Jahre später, am 2. Juni 1967, war es abermals der Staatsbesuch eines umstrittenen Würdenträgers, der zu einer bedeutenden Wegmarke der Radikalisierung der protestierenden Studierenden wurde. Der Besuch des iranischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi geriet zu einem Fanal, als vor der Deutschen Oper, in der sich der Schah zu diesem Zeitpunkt aufhielt, eine Demonstration durch die Polizei und sogenannte Jubelperser, die ungehindert mit Schlagwerkzeugen auf die Protestierenden einprügeln konnten, angegriffen wurde. Im weiteren Verlauf erschoss in einem Hinterhof ein Polizeibeamter den Berliner Studenten Benno Ohnesorg von hinten.[29]
Dutschke, als einer der wichtigsten Wortführer, Theoretiker und Galionsfigur der Studierenden, verstand es, die Stichwortgeber der internationalen, antikolonialen Befreiungsbewegungen aus der sogenannten Dritten Welt – wie etwa Frantz Fanon, Régis Debray, Ernesto »Che« Guevara oder Mao Zedong – mit Klassikern der Marx’schen Ideologie in Verbindung zu bringen. Unter Zuhilfenahme Herbert Marcuses, dessen theoretisches Wirken wegweisend für die damalige Gegenwartsanalyse innerhalb der westlichen Metropolen wurde, konnte ein theoretisches Konglomerat geschaffen werden, das geeignet war, »den Widerspruch zwischen einem hermetisch geschlossenen Verblendungszusammenhang, wie er von den Situationisten behauptet wurde, und dem Beharren auf einem revolutionären Hoffnungsschimmer durch Einführung des Faktors ›Dritte Welt‹ aufzulösen«[30]. Die Studierenden sahen sich also mit dem Grundproblem der Marx’schen Philosophie, dem Verhältnis von revolutionärer Theorie und Praxis, konfrontiert, die sie beide zu vereinen suchten, indem die soziale Praxis die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durchdringen sollte, um so die (globalen) Missstände aufzudecken. Das Klassenbewusstsein, so Dutschke, könne mithin nur in der kämpferischen Auseinandersetzung gebildet werden, seine Herstellung müsse unter den gegebenen Umständen Ziel und nicht Ausgangspunkt des revolutionären Prozesses sein; die gesellschaftliche Erkenntnis werde so zu gesellschaftlicher Veränderung führen, Theorie werde Praxis.[31] Das autonome Subjekt sollte die Selbstbefreiung durch Selbstreflexion und Aktion erreichen, der Vietnamkrieg war hierfür die geeignete Handlungsfolie.[32] Vietnam wurde damit mehr und mehr zum »Kairos« der antiimperialistischen Strömungen, der dort geführte Krieg zu einer »schicksalhaften Entscheidungsschlacht«,[33] in der sich auch die eigene Zukunft entscheiden sollte, was – diese Argumentationskette zu ihrem Ende denkend – dazu führte, dass die eigentlichen Nicht-KombattantInnen in den westlichen Metropolen zu Kämpfenden werden mussten. Das ostasiatische Land sollte, so die Hoffnung, zu einem ersten Dominostein werden, der eine Kette von Befreiungsbewegungen in Gang setzen würde, die bis in die westliche Hemisphäre ausstrahlen sollte.[34]
Von den »Verdammten dieser Erde« zur kämpfenden Guerilla
Die Entdeckung der Dritten Welt und ihres mutmaßlich revolutionären Potenzials ging, wie bereits angedeutet, auf Frantz Fanon und dessen Hauptwerk »Die Verdammten dieser Erde« zurück. Hier entdecke die Dritte Welt, so Jean-Paul Sartre, ihre Stimme und schaffe dadurch neue Menschen, die endlich zu den Handlungssubjekten ihrer Geschichte würden. Dieser Selbstwerdungsprozess verlaufe jedoch notwendigerweise gewaltsam, da das historische System der Unterdrückung und Kolonialisierung einzig und allein durch Gewaltausübung beseitigt werden könne.[35] Folgerichtig ist die Dekolonisation bei Fanon gleichsam ein Prozess der Menschwerdung, ein Akt der Befreiung der Kolonisierten, die ihre Fesseln abwerfen.[36] Weil das Denken der Kolonisierten durch die Herrschenden präformiert werde, umfasse der Prozess der Befreiung mehr als lediglich die Neuordnung der ökonomischen Abhängigkeiten; durch den Kampf werde den Ausgebeuteten gewahr, dass bspw. die Vokabeln »Menschenwürde« oder »Individualismus« internalisierte Herrschaftsmomente darstellten und sie neue Formen der Solidarität untereinander bräuchten.[37] Fanon, der selbst u.a. Psychiater gewesen ist, beschreibt diesbezüglich die Rolle der Gewalt auch auf individueller Ebene als die eines kathartischen Erlebnisses, das geeignet sei, die historischen individuellen wie kollektiven Unterdrückungserfahrungen zu heilen.[38]
Diese doch eher abstrakten Überlegungen Fanons wurden von Che Guevara, der selbst eher als Berufsrevolutionär und Praktiker bekannt wurde, um konkrete Handlungsanweisungen ergänzt. Die Schriften Guevaras bezüglich dessen Kernkompetenz, des PartisanInnenkampfes, wurden ebenfalls durch die westdeutschen Studierenden rezipiert und an die Verhältnisse in den Metropolregionen angepasst. Guevara und seine Fokustheorie waren überaus kompatibel mit den voluntaristischen Zügen der 68er-Studierenden, da die Theorie besagt, dass es eine Gruppe von Kämpfenden, die »Guerilleros«, geben müsse, welche die Revolution in die Bevölkerung hineintragen: »Nicht immer muß man warten, bis alle Bedingungen für eine Revolution gegeben sind, der aufständische Fokus kann solche Bedingungen selbst schaffen.«[39] Der Kampf werde wieder zum konstituierenden Element der Widerstandsbewegung, als »Hebamme der neuen Gesellschaften« sei er dennoch auf gewisse Faktoren angewiesen, die zu seiner Anwendung befähigen, das »Bewußtsein von der Notwendigkeit einer Änderung und [die] Gewißheit von der Möglichkeit dieser revolutionären Änderung«.[40] Das Bewusstsein des Guerilleros wird also zur zentralen Entscheidungsinstanz innerhalb des revolutionären Prozesses, er wird somit zum »Freiheitskämpfer par excellence, der Auserwählte des Volkes, seine Avantgarde im Befreiungskampf«[41]. Die antiautoritären Studierenden verstanden sich demzufolge als »revolutionärer Fokus«.
Das Prinzip der politischen Avantgarde und des kämpferischen Fokus wurde ebenfalls durch den Philosophen und Kampfgefährten von Che Guevara, Régis Debray, propagiert. Debray zufolge war die historische Epoche durch das Aufbrechen des totalen Klassenkampfes gekennzeichnet, der eine aktive, kämpferische Haltung, etwa einen »bewaffneten Spontaneismus«[42], erfordere. Diese Grundeinstellung müsse über Prinzipien der Selbstverteidigung hinausgehen: Hierfür dürfe sich die Guerilla, als Avantgarde der revolutionären Massen, nicht hinter rein defensiven Aufgaben verschanzen, sondern müsse als bedeutendster Fokus der kämpferischen nationalen Strömungen agieren.[43] Debray – und hierin zeigt sich nochmals exemplarisch die Abkehr vom orthodoxen Marxismus der neuen Linken und ihrer VordenkerInnen – verweist mit besonderer Emphase darauf, dass es die Guerilla als Avantgarde und gerade nicht die Partei als Massenorganisation sei, welche Theorie und Praxis einen und so zur neuen Speerspitze der revolutionären Tätigkeit werden könne:[44] »Allein der bewaffnete Kampf der Massen gegen den Imperialismus kann langfristig eine Avantgarde schaffen, die fähig ist, die Völker zum Sozialismus zu führen […].«[45]
Dutschke konstatiert nun, dass die Implementierung dieser Fokustheorie den bisherigen Grundannahmen der stalinistischen Theorie über den Aufbau des Sozialismus in einem Land sowie den »revisionistischen« Sozialismustheorien, die hierauf aufbauen und von einer möglichen Koexistenz von Sozialismus und Kapitalismus ausgehen, diametral entgegenstehe. Diese Denkformen forderten einen »Sozialismus ohne revolutionäre Prinzipien«[46], gingen also von einer historischen Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens im orthodoxen Marx’schen Sinne aus, die nun von revolutionär-subversiven Theorie- und Handlungsmustern abgelöst werde. Dieser vielfach – auch als »linker Faschismus«[47] – kritisierte Voluntarismus der Antiautoritären lässt sich in der »mechanischen Übertragung methodologischer Prinzipien […] auf die Metropolenrealität«[48] begründen.
Zum Problem einer internationalistischen Perspektive
Infolge dieser theoretischen Stoßrichtung des antiautoritären Flügels innerhalb des SDS vertieften sich die ideologischen Spaltungslinien innerhalb der radikalen Linken – was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass die Bewegungen im Kontext von 1968 in unterschiedliche, ideologisch divergente Organisationen zerfielen. Hieran wird, wie der Politologe Detlev Claussen konstatiert, das grundsätzliche Problem deutlich, das der Internationalismus für sozialistische und kommunistische Gruppierungen darstellt. Waren die Erste und Zweite Internationale[49] noch geprägt durch einen nationalstaatlichen Fokus, wurden ab der Dritten Internationalen die Inhalte und Ziele der kommunistischen Parteien verstärkt an das nationalstaatliche Interesse der Sowjetunion gekoppelt, was aufgrund der ungleichzeitigen Emanzipationsbewegungen und unterschiedlichen historischen Gegebenheiten in der täglichen politischen Praxis, aber auch in der langfristigen strategischen Ausrichtung, zu erheblichen Problemen führte.[50]
Claussen zufolge lag hierin einer der entscheidenden Irrtümer der antiimperialistischen Gruppen in den Metropolen: Die Erwartung, dass die Befreiungsbewegungen mehr seien als eben nur Befreiungsbewegungen, sondern vielmehr Motoren einer herrschaftsfreien Welt, musste enttäuscht werden.[51] Um nun diese Bewegungen aus der internationalen Isolation zu befreien und sich selbst in diese Traditionslinie zu stellen, begannen die AntiimperialistInnen, sich als ProletarierInnen oder Stadtguerilleros zu »kostümieren«[52]. Eine im Wortlaut ähnlich klingende Bewertung nimmt der Aktivist, Zeitzeuge und ehemalige Vizekanzler Joschka Fischer vor. Demnach sei der Antiimperialismus stets von egoistischen Motiven geprägt gewesen, die Kämpfenden der Dritten Welt müssten in das eigene Weltbild passen und sich für die antiimperialistischen Kämpfe einspannen lassen:[53] »Erst in diesem Zusammenhang einer utopischen Sicht der fernen Wirklichkeit als Wirklichkeit werdende Utopie begann dann die bei uns so stark ausgeprägte moralische Saite zu schwingen.«[54] So kam es zuweilen zu einem Missverhältnis zwischen dem projizierten politischen Anspruch an die Befreiungsbewegungen und ihrem politischen Wirken, weswegen die »Revolution« der 68er eher als kulturelle denn als politische Revolution zu bezeichnen sei.[55]
Abschließend lässt sich festhalten, dass es sich bei der »Entdeckung« der Dritten Welt keineswegs um einen Prozess handelte, der vornehmlich in den Industriestaaten einsetzte. Diese koloniale Perspektive verkennt, dass hier zweierlei Entwicklungen einsetzen. Wie etwa Fanon emphatisch betonte, fand einerseits in den kolonialen Staaten ein Prozess der Selbstwerdung statt; die bislang unterdrückten Völker wollten eben nicht entdeckt werden, sondern ihren Platz in der globalen Weltordnung als Subjekte ihrer eigenen Geschichte einnehmen. Diese individualpsychologische Parallelität zwischen den Kolonialisierten und den vielfach isolierten Studierenden in Deutschland führte nun andererseits zu einem folgenreichen Missverständnis in der Rezeption der Theorien. Durch die bedingungslose Identifikation mit den Befreiungsbewegungen – oder solchen, die dafür gehalten wurden – gelang es unter Verkennung der objektiven Gegebenheiten, die entsprechenden Theorien als Surrogat für die eigene, fehlende revolutionäre Perspektive nach Europa zu importieren.
[1] Kraushaar, Wolfgang: 1968 als Mythos, Chiffre, Zäsur, Hamburg 2000.
[2] Lorenz, Robert/Walter, Franz: 1968 Kulminationspunkt und politische Eruption, in: Dies. (Hg.): 1964 – das Jahr, mit dem »68« begann, Bielefeld 2014, S. 343–372, hier S. 347.
[3] Vgl. Greven, Michael Th.: Systemopposition. Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre, Opladen/Berlin 2011, S. 13–18.
[4] Denn es waren in der Frühphase vornehmlich Männer, die diese Rolle übernahmen.
[5] Fichter, Tilman: Lönnendonker, Siegward: Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung, Berlin 1977, S. 86.
[6] Vgl. Lorenz/Walter, S. 348.
[7] Vgl. Kießling, Simon: Die antiautoritäre Revolte der 68er. Postindustrielle Konsumgesellschaft und säkulare Religionsgeschichte der Moderne, Köln 2006, S. 98–101.
[8] Vgl. Richter, Pavel A.: Die Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland 1966 bis 1968, in: Gilcher-Holtey, Ingrid (Hg.): 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Bielefeld 1997, S. 35–55, hier S. 41.
[9] Vgl. ebd., S. 42.
[10] Vgl. Greven, S. 241.
[11] Vgl. Agnoli, Johannes: 1968 und die Folgen, Freiburg 1998, S. 104.
[12] Ebd, S. 105.
[13] Vgl. Böke, Henning: Maoismus. China und die Linke – Bilanz und Perspektive, Stuttgart 2007, S. 87.
[14] Ebd., S. 99.
[15] Vgl. ebd., S. 99.
[16] Ebd., S. 90.
[17] Vgl. ebd., S. 90.
[18] Vgl. ebd., S. 140.
[19] Ebd., S. 124.
[20] Vgl. ebd., S. 138.
[21] Vgl. Wemheuer, Felix: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Maoismus. Ideengeschichte und revolutionärer Geist, Wien 2008, S. 7–32, hier S. 15.
[22] Ebd., S. 16.
[23] Ebd., S. 27.
[24] Vgl. Juchler, Ingo: Die Studentenbewegungen in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland der sechziger Jahre. Eine Untersuchung hinsichtlich ihrer Beeinflussung durch Befreiungsbewegungen und -theorien aus der Dritten Welt, Berlin 1996, S. 75.
[25] Vgl. Greven, S. 239.
[26] Vgl. Mausbach, Wilfried: Von der »zweiten Front« in die friedliche Etappe? Internationale Solidaritätsbewegungen in der Bundesrepublik 1968–1983, in: Reichardt, Sven/Siegfried, Detlef (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, S. 423–444, hier S. 426.
[27] Vgl. Kraushaar, Wolfgang: Die blinden Flecken der 68er-Bewegung, Stuttgart 2018, S. 51–57.
[28] Ebd., S. 68.
[29] Vgl. Richter, S. 35.
[30] Mausbach, S. 427.
[31] Vgl. Dutschke, Rudi: Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt, in: Bergmann, Uwe et al. (Hg.): Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 33–57, hier S. 39–40.
[32] Vgl. Kießling, S. 120–121.
[33] Mausbach, S. 432.
[34] Vgl. Marcuse, Herbert: Die innere Logik der amerikanischen Politik in Vietnam, in: Ders.: Nachgelassene Schriften. Band 4: Die Studentenbewegung und ihre Folgen. Herausgegeben mit einem Vorwort von Peter-Erwin Jansen. Einleitung von Wolfgang Kraushaar, Springe 2004, S. 48–52, hier S. 50.
[35] Siehe Sartre, Jean-Paul: Vorwort, in: Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt am Main 1966, S. 7–25, hier S. 9–21.
[36] Siehe Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt a.M. 1966, S. 27.
[37] Vgl. ebd., S. 36.
[38] Vgl. ebd., S. 85.
[39] Guevara, Ernesto Che: Guerillakrieg. Eine Methode, in: Ders.: Guerilla – Theorie und Methode. Sämtliche Schriften zur Guerillamethode, zur revolutionären Strategie und zur Figur des Guerilleros. Herausgegeben von Horst Kurnitzky, Berlin 1968, S. 124–142, hier S. 124.
[40] Ebd., S. 130.
[41] Guevara, Ernesto Che: Was ist ein »Guerillero«?, in: Ders.: Guerilla – Theorie und Methode. Sämtliche Schriften zur Guerillamethode, zur revolutionären Strategie und zur Figur des Guerilleros. Herausgegeben von Horst Kurnitzky, Berlin 1968, S. 16–19, hier S. 16.
[42] Debray, Régis: Revolution in der Revolution? Bewaffneter Kampf und politischer Kampf in Lateinamerika, München 1967, S. 25.
[43] Vgl. ebd., S. 47.
[44] Vgl. ebd., S. 113.
[45] Ebd., S. 135.
[46] Dutschke, Rudi et al.: Vorwort, in: Debray, Régis et al. (Hg.) Der lange Marsch. Wege der Revolution in Lateinamerika, München 1968, S. 5–24, hier S. 11.
[47] Redebeitrag von Jürgen Habermas, in: Kongress Hochschule und Demokratie 1967 Hannover (Hg.): Bedingungen und Organisation des Widerstandes. Der Kongreß in Hannover. Protokolle, Flugblätter, Resolutionen, Berlin 1967, S. 101.
[48] Juchler, Rebellische Subjektivität und Internationalismus, S. 19.
[49] Die Internationale bezeichnet einen Zusammenschluss von Arbeiterorganisationen, die getreu dem Motto »Proletarier aller Länder, vereinigt euch« zur internationalen Vernetzung dienen sollte. Die Erste Internationale wurde 1864 gegründet und wurde 1876 nach andauernden Konflikten zwischen KommunistInnen und AnarchistInnen aufgelöst. In der Zweiten Internationalen, gegründet 1889 und aufgelöst 1914, waren die AnarchistInnen nicht mehr zugelassen.
[50] Vgl. Claussen, Detlev: »Wenn wir uns wie ein Frosch aufblasen …« Marxismus-Leninismus als Sackgasse des Internationalismus?, in: Michel, Karl Markus/Wieser, Harald (Hg.): Kursbuch 57. Der Mythos des Internationalismus, Berlin 1979, S. 165–172, hier S. 167.
[51] Vgl. Claussen, 1979, S. 169.
[52] Ebd., S. 172.
[53] Vgl. Fischer, Joschka: Von grüner Kraft und Herrlichkeit, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 16.
[54] Ebd., S. 17.
[55] Vgl. ebd., S. 20.