Der Mediziner Ferdinand Sauerbruch ist einer der bekanntesten Chirurgen des 20. Jahrhunderts. Über seine Rolle während des Nationalsozialismus – er war der erste Träger des Deutschen Nationalpreises für Kunst und Wissenschaft (eine Ehrung, die Hitler als »Alternative« zum Nobelpreis ins Leben gerufen hatte) und als Leiter der Fachsparte Medizin bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Bewilligung von Menschenversuchen in Konzentrationslagern verantwortlich – haben Wissenschaftler intensiv diskutiert.[1] Seine fingierte (weil nicht selbst geschriebene) Autobiografie »Das war mein Leben«[2] erzielte Anfang der 1950er Jahre Millionen-Auflagen und stand in jedem gut sortierten bildungsbürgerlichen Bücherschrank. 2019 nun legt der Historiker und Romanautor Christian Hardinghaus eine Monografie vor, »Ferdinand Sauerbruch und die Charité. Operationen gegen Hitler«, deren Klappentext die »Rehabilitierung« Sauerbruchs verspricht und die auf der Spiegel-Bestsellerliste für Sachbücher landete.[3]

2019, ein Jahr, in dem – vor allem, aber nicht nur – der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Rechtsradikalen das Selbstverständnis der Bundesrepublik als antifaschistischer Staat, das sich wesentlich auf historische Forschung zur nationalsozialistischen Vergangenheit gründet, erschüttert. Es ist ebendieses Selbstverständnis, das nicht nur durch Bücher wie das von Hardinghaus wieder tagespolitische Aktualität gewinnt, sondern auch besonders dann öffentlich virulent wird, wenn bezüglich prominenter Personen über Fragen nach Täterschaft, Mitwisserschaft, Duldung des NS-Regimes oder einer möglichen widerständigen Rolle in ebenjenem kontrovers diskutiert wird.

Was liegt zwischen damals und heute?

Dass die Figur Sauerbruch auch heute noch die deutsche Seele bewegt, zeigen Versuche weiterer Autoren, sich dem Starchirurgen eher literarisch zu nähern, wie das von Helmut Lethen komponierte fiktive Gespräch Sauerbruchs mit Gustaf Gründgens, Wilhelm Furtwängler und Carl Schmitt, »Die Staatsräte«[4]. Auch der Prolog von Hardinghaus’ Buch (ebenso wie die Leseprobe eines Romans vom selben Autor zum selben Thema am Ende des Buches) lassen zunächst eine eher experimentelle Herangehensweise – was gerade bei Themen, über die schon viel geschrieben wurde, überhaupt kein Manko sein muss – vermuten. Weitere Aufmerksamkeit erhielt das Buch durch die (ebenfalls fiktive, aber an die historischen Begebenheiten – allerdings im weitesten Sinne – angelehnte) ARD-Fernsehserie »Charité«, deren dritte Staffel gerade in Vorbereitung ist. Beides – Hardinghaus’ Buch und die Fernsehserie – wurden medial breit rezipiert, das Skript der Serie und die Deutung Sauerbruchs durch Hardinghaus schlagen ähnliche Töne an.[5] Hardinghaus möchte mit bisher »nicht beachteten« Quellen »das verzerrte Bild« des Arztes »gänzlich neu beleuchten«, um am Ende zu belegen, »wie aktiv« Sauerbruch gegen die Nationalsozialisten agierte.[6] Im Gegensatz dazu zeichnen Studien über zahlreiche Persönlichkeiten, die im nationalsozialistischen Regime ein hohes Amt bekleidet oder eine wichtige Funktion ausgefüllt haben, oftmals ein ambivalentes Bild: Der Einteilung in Schwarz oder Weiß begegnet die heutige Geschichtswissenschaft zu Recht skeptisch – offenbart doch nahezu jede Person Mehrdeutigkeiten, Schattierungen und vor allem Widersprüchlichkeiten.

Dass der Neuheitsgehalt von Hardinghaus’ Buch de facto begrenzt ist, darauf haben bereits andere Rezensenten hingewiesen. Die Ankündigung, erstmals eine umfassende und mit neuen Fakten aufwartende Biografie von Sauerbruch vorzulegen, überrascht auch den Medizinhistoriker Udo Schagen, der in seiner Rezension anmerkt: »Kein anderer deutscher Mediziner ist mit Leben und Werk so gut erforscht wie Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875–1951). Von 1927 bis 1949 war er Ordinarius der Berliner Medizinischen Fakultät und Direktor der Chirurgischen Klinik der Charité. Seine Beliebtheit bei Patienten, sein charismatischer Vortrag, seine ärztlichen und wissenschaftlichen Verdienste und auch seine politische Nähe zum Nationalsozialismus waren nicht nur Gegenstand ungezählter Nachrufe und Zeitzeugenberichte, sondern auch wissenschaftshistorischer Monographien und Aufsätze.«[7]

Ebenso erstaunlich ist die Chuzpe von Hardinghaus, »ein für alle Mal« (S. 22) zu klären, welche Rolle Sauerbruch in der Zeit des Nationalsozialismus wirklich spielte. Eine solche Anspruchshaltung übersieht die Grundvoraussetzung von Historikern (und Geschichte an sich), dass insbesondere die Rolle von Personen niemals abschließend zu klären ist – besteht doch immer die Möglichkeit, dass neue Quellen, die neue Deutungen oder Akzentuierungen einer Biografie zulassen oder sogar zwingend erforderlich machen, erschlossen werden (wie auch Hardinghaus das für seine Arbeit proklamiert). Ebenso sind biografische Deutungen auch immer vom Zeitkontext und dem Interpretierenden abhängig, wie die Biografieforschung längst schlüssig nachgewiesen hat.[8]

Vernachlässigte Göttinger Perspektive: Exponent deutscher Verdrängungskultur

Schagen hat ebenfalls bereits relevante Kritik an den Auslassungen des Buches bezüglich Sauerbruchs Wirken im Nationalsozialismus geäußert.[9] Doch gibt es, legt man den Fokus auf Göttingen, noch einen Punkt zu ergänzen: Die Rolle, die der Chirurg 1947/48 im sogenannten Dokumentenstreit spielte – einer Kontroverse, die in der Göttinger Universitätszeitung anlässlich des Nürnberger Ärzteprozesses geführt wurde. In dem dortigen Schlagabtausch zwischen den Medizinern Hermann Rein, Wolfgang Heubner, Georg Büchner und Ferdinand Sauerbruch mit dem Prozessbeobachter Alexander Mitscherlich, der später gemeinsam mit seiner Frau das bekannte Buch »Die Unfähigkeit zu trauern«[10] verfasste, wurde anlässlich der Anklage gegen 23 größtenteils namhafte Mediziner vor einem amerikanischen Militärgericht erbittert über Schuld und die Reinheit der Wissenschaft gestritten.[11] Sauerbruch und seinen Mitstreitern war im Gegensatz zu Mitscherlich daran gelegen, eine ganze Tätergruppe (und sich selbst) von jeglicher Verantwortung reinzuwaschen und die Schuld u.a. an Menschenversuchen in Konzentrationslagern in strategisch-apologetischer Absicht lediglich einer kleinen Gruppe sadistischer Medizinverbrecher aus den Reihen der SS zuzuschieben.

»Nicht die Verbrechen Einzelner, sondern die Erkenntnis, ›dass ein Kollektiv die Menschenverachtung gelehrt und die nationalsozialistische Ideologie nur zu ihrer Legitimation benutzt hatte‹, beschreibt [hingegen] Mitscherlichs Perspektive, die exemplifiziert am Schicksal der Angeklagten den Blick auf eine mögliche zeitgenössische Mithaftung richten wollte. Doch genau gegen eine solche wehrte sich der Ärztestand mit Vehemenz, Geschlossenheit und strategischem Kalkül, angeführt durch seine hochrangigen Vertreter Franz Büchner, Wolfgang Heubner, Ferdinand Sauerbruch und Hermann Rein«[12], deren Agieren durch ihr Selbst- und Wissenschaftsverständnis grundiert wurde.

Dabei hatte Sauerbruch selbst eine Rolle in dem militärisch-wissenschaftlichen Komplex, der Menschenversuche in Konzentrationslagern während des Nationalsozialismus ermöglichte, gespielt. Nicht nur gehörte er dem wissenschaftlichen Senat des Heeressanitätswesens an,[13] sondern ebenso mussten »alle Forschungsanträge zur Medizin und zur Rassenhygiene, auch die zu Menschenversuchen in Konzentrationslagern, […] über den Tisch von Sauerbruch als Fachspartenleiter Medizin im Reichsforschungsrat gehen; er war für ihre Bewilligung verantwortlich. Dies verschweigt Hardinghaus zwar nicht, aber er diskutiert drei geförderte Versuchsreihen […] nur, um zu dem Schluss zu kommen, dass aus den Anträgen nicht hervorgegangen sei, dass die beantragten ›Versuche mit menschlichem Leid verbunden‹ gewesen seien«[14], wie Schagen richtig feststellt.

Sauerbruchs Mitwisserschaft und exponierte Stellung im militärisch-wissenschaftlichen Netzwerk wurden nicht nur bereits im Hinblick auf seine retrospektive Beurteilung wissenschaftlich breit diskutiert[15], sondern auch von den Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozess, die gemeinsam mit Sauerbruch auf Tagungen über kriegswichtige Forschungen verhandelt hatten, besonders hervorgehoben.[16]

Sauerbruchs Verteidigung im Dokumentenstreit führte vielmehr an, dass er »schon aus Gründen des militärischen Taktes an den Maßnahmen der SS-Ärzte keine Kritik« hätte üben können. Man habe zwar in Gesprächen am Rande betont, dass die Versuche grausam und unnötig seien; doch, wie sein Kontrahent Mitscherlich insistiert, »keiner der Kollegen habe hingegen eine moralische Verpflichtung betont, einschreitend Stellung zu beziehen«[17]. Dies zu tun, sah er aber gerade die Koryphäen des Faches in der Pflicht, wenn er spitz betont: »Er und sein Mitherausgeber [der Dokumentation zum Ärzteprozess »Das Diktat der Menschenverachtung, Fred Mielke, Anm. d. Verf.] hätten in der Tat nicht die Ehre gehabt, wie Prof. Sauerbruch zu den Staatsräten Hitlers zu zählen oder, wie Prof. Heubner 1943, zu einer Sitzung eingeladen zu werden, bei der über Versuche an 75 ›rechtskräftig zum Tode verurteilten Menschen‹ berichtet wurde.«[18] Mitscherlich erinnert sich insbesondere an die Attacken von Sauerbruch: »Es war kein Geringerer als der Berliner Chirurgie-Ordinarius Sauerbruch, der mich als unbotmäßigen Privatdozenten scharf attackierte […]. Er und andere […] unterstellten mir, ich hätte Tatsachen verfälscht. […] Meine medizinischen Kollegen haben mich damals nicht nur als Vaterlandsverräter beschimpft, sondern auch verschiedentlich versucht, mich beruflich zu diffamieren und zu schädigen. Das Verhalten der Kapazitäten grenzte an Rufmord.«[19]

Eine Verständigung war aussichtslos, die Fronten restlos verhärtet. Mitscherlich beklagte:

»Zur Verteidigung und zur ›Rettung ihrer formalen Ehre‹ hätten ›namhafteste Vertreter der deutschen Medizin‹ […] eine Phalanx gebildet. Sie partizipierten in einem nahen funktionellen Zusammenhang zu Ereignissen mit Humanversuchen im Nationalsozialismus und würden mit keinem Wort Einsicht verraten. Kein Bedauern und auch kein Abwenden mit Schrecken könne man bei diesen Medizinern konstatieren. Stattdessen stehe Reins, Heubners und Sauerbruchs eigenes persönliches Ansehen im Zentrum ihrer Verlautbarungen, in denen die veröffentlichte Dokumentation das ›Eigentlich Ehrenrührige‹ und nicht die inhaltlich dargelegten Sachverhalte seien.«[20]

Sauerbruch warf in diesem Konflikt sein Renommee in die Waagschale, Mitscherlich ließ Sauerbruch als Opportunisten dastehen, der eingebettet in militärische Hierarchien und abhängig von politischem Zuspruch geschwiegen hätte, um sich selbst nicht zu gefährden.[21] Seine These stützend, dass die westdeutsche Gesellschaft nach 1945 »keinem differenzierten Schulderlebnis« Raum gegeben habe, sah Mitscherlich »in Rein, Büchner, Heubner und Sauerbruch […] Exponenten einer Verdrängungskultur, in der niemand Bereitschaft zeigte, eigenes Versagen, direkte oder indirekte Schuld, einzugestehen«.[22] Doch: Darüber lesen wir nichts in Hardinghaus’ neuem Buch.

Halbgott in Weiß als Retter in der »Wolfszeit«

Dieses beginnt bezeichnenderweise – und ziemlich klischeehaft – mit einem vorangestellten Zitat aus den Erinnerungen einer Widerstandskämpferin, flankiert von der Aussage eines Kollegen auf dem Klappentext, Sauerbruch habe Juden geholfen. So schreit uns das Buch förmlich entgegen, wie wir es lesen sollen, bevor wir es gelesen haben. Es folgt ein Prolog, wie Sauerbruch dem deutschen (desertierten) Wehrmachtssoldaten Schwerdtfeger hilft, der sich nach dem Krieg, während der von dem Journalisten Harald Jähner mit dem treffenden Begriff »Wolfszeit«[23] charakterisierten Dekade, aus Dankbarkeit bereit erklärt, Sauerbruch in seinem Entnazifizierungsverfahren zu entlasten. In diesem auch eher belletristisch anmutenden Prolog tritt Sauerbruch uns das erste Mal entgegen: als patriarchaler Übervater, als ein Arzt, der Unmenschliches auch im Angesicht der totalen Niederlage leistet, als ein Mann, der die Kontrolle behält und sich des orientierungslosen, gebeutelten, taumelnden Deutschen annimmt, ihm Halt und Schutz gibt und ihm eine Rückkehr in sein wie durch ein Wunder unversehrtes Zuhause ermöglicht.

Opferbereitschaft für sein Volk: Das war für Sauerbruch in seinem Selbstverständnis als Arzt immer zentral gewesen. So schrieb er während des Zweiten Weltkrieges eine Denkschrift mit dem Titel »Der Arzt im Kriege« und wies, wie viele seiner Kollegen, auf die Wesensverwandtschaft zwischen Arzt und Soldat hin, sodass der Dienst als Arzt für die Wehrmacht als »großes ärztlich-soldatisches Erlebnis«[24] überhöht wird, der für »Wehrmacht und Volk« eine herausragende Bedeutung besitze. Vor allem Ärzte hätten die Möglichkeit, in Kriegszeiten ihrem Volk in besonderer Weise zu dienen: »Die Selbstverständlichkeit mit der das alles geschieht ist gewiss ein eindrucksvolles Symbol ärztlicher Haltung im Ganzen.« Viele Ärzte waren der Meinung, dass sie ihr Arzttum nirgends so zur Geltung bringen könnten wie in der Wehrmacht.[25] Der Arzt, der sich mit seinen Fähigkeiten für das große Ganze einsetzt, ist ein wirkmächtiger Topos, auch im Hinblick auf die Vorbildfunktion im »Lebenskampf des Volkes« – denn er symbolisiert eine Einheit von »Arzttum, Soldatentum, Führertum«[26]. Und auch Sauerbruch betont: »Das Sanitätswesen der Wehrmacht kommt naturgemäß erst zur vollen Auswirkung durch den Geist der Ärzte, der es beseelt […] durch den Einsatz der Besten unseres Standes.«[27]

»Juden geholfen«: Gültiges Argument bis heute?

Ein Argument verleiht Hardinghaus’ Buch eine besondere Schlagkraft. Es wird uns gleich auf dem Buchrücken farblich abgesetzt präsentiert: Sauerbruch habe, so bezeugt ein Kollege, Juden behandelt und ihnen zur Flucht verholfen. Ebenso wird ein anderer Kollege, der jüdische Mediziner Rudolf Nissen, als Gewährsmann angeführt, um Sauerbruchs Integrität zu bezeugen. Nissen erzählt, wie Schagen bereits in seiner Rezension gebündelt hat, voller Bewunderung über Sauerbruch, über dessen Charisma, seine Strahlkraft, seine Leistungen als Chirurg.

»Aber Nissen berichtet auch von Sauerbruchs morbid nationalistischer Überheblichkeit und den gravierenden politischen Vorwürfen seiner Nähe zu Nationalsozialisten am Beispiel der Mitunterzeichnung des ›Bekenntnis[ses] der Professoren […] zu Adolf Hitler‹ im November 1933. Noch kritischer kommentiert Nissen, dass keiner der mit Sauerbruch Anwesenden bei einem Vortrag über Versuche an KZ-Insassen protestiert habe. Es sei möglich, ›daß die amoralische und sadistische ›Führerschicht‹ Experimente befürwortete, um dem ›im Existenzkampf stehenden Heere zu helfen‹. Es sei aber ›undenkbar, daß nicht jeder Mensch die Mißhandlung eines Wehrlosen, seine grausame Tötung und Verstümmelung als das empfindet, was es ist: als ein Verbrechen‹«[28].

Der Kniff, jüdische Kollegen die eigene moralische Sauberkeit bezeugen zu lassen, kam vielfach auch in Entnazifizierungsverfahren zum Tragen. Die Tatsache, dass dies oftmals auch von Erfolg gekrönt war, bedeutet jedoch ebenso wenig wie die Tatsache, dass Sauerbruch jüdische Patienten behandelte, automatisch, dass er und andere, die sich dieses »Arguments« bedienten, grundsätzlich Gegner des Nationalsozialismus und der nationalsozialistischen Weltanschauung waren. Vielmehr nimmt Hardinghaus eine rhetorische Volte, welche die Betroffenen zur eigenen Entlastung anführten – der Kontakt zu oder gar die Hilfe für Juden –, für bare Münze. Auch geht der Autor der Selbstdeutung Sauerbruchs auf den Leim, wenn er in einem Interview mit dem Stern ausführt:

»Sauerbruch war ein Pragmatiker, er dachte zwar national-patriotisch, er war konservativ, aber er fühlte sich keineswegs als Nazi. Und er lehnte den Antisemitismus strikt ab. Anders als 45 Prozent der Ärzte damals war er auch nicht Mitglied der NSDAP.«[29] Hardinghaus übersieht indes, dass das irrelevant dafür ist, ob Menschen wie Sauerbruch den Nationalsozialismus nicht doch durch ihre Forschung, ihre Stellung im militärisch-wissenschaftlichen Komplex und ihr beschriebenes Selbstverständnis stabilisierten, was auf etliche Mediziner und Wissenschaftler zutrifft, die in den Reihen der Wehrmacht aktiv waren.

Sauerbruch als Säulenheiliger durch die Jahrzehnte

Den argumentativen Kern der Rahmendebatte, wer Kontakt zu Juden hatte, könne per se kein Nazi sein, hat bereits der Journalist Jan Feddersen in der taz unter der polemischen Überschrift »Alle waren unwissend oder dagegen« identifiziert und ebenso die Aktualität dieser rhetorischen Figur angedeutet,[30] die strukturell ähnlich angelegt ist, wie das heute oftmals von Rassisten vorgebrachte Argument, dass man ja auch beim »Dönermann an der Ecke« esse, also nichts »gegen Ausländer« haben könne.

All das wirft die Frage auf, warum Sauerbruch heute noch als Säulenheiliger verehrt wird und warum man Bücher wie das von Hardinghaus und die Fernsehserie begeistert feiert? Natürlich, Geschichten von »Helden in weißen Kitteln« lassen sich großartig erzählen: »Von Albert Schweitzer bis Ferdinand Sauerbruch pflegte und pflegt die deutsche Medizingeschichte die Illusion großer Männer als Mediziner mit einer Hingabe, die im Vergleich zu anderen historischen Disziplinen ihresgleichen sucht.«[31] Doch warum konnte insbesondere Sauerbruch zur Projektionsfläche und zum Helden des deutschen Bildungsbürgertums werden, den man auch nach dem Zivilisationsbruch weiter verehren durfte, der zum Kanon der spießigen Bürgerlichkeit der 1950er Jahre gehörte und dem heute eine Fernsehserie gewidmet wird? Reicht die Erklärung von Feddersen, »das deutsche Publikum liebt Nazigeschichten und nicht minder Krankenhausstorys, […] Nazi plus Krankenhaus – das macht Quote«[32]?

In der »Schmonzette für die Gemütshaushalte der Deutschen« sieht Feddersen weiterhin aktuelle Anknüpfungsmöglichkeiten für Agitatoren wie AfD-Chef Alexander Gauland, der »seine ›Vogelschiss‹-Metapher für die NS-Vergangenheit als nur zwölfjährige Anomalie der deutschen Geschichte [an dieses Publikum, Anm. d. Verf.] adressiert: Alle waren irgendwie dagegen, viel mehr waren Widerstandskämpfer*innen, wenn auch nicht immer ersichtlich. Denn die Verhältnisse, die waren ja riskant für die Aufrechten, nicht wahr? […] Trostloserweise wird diese Sicht […] später in einer TV-Serie beglaubigt: Es gab so viele Gute damals, jetzt können wir es erkennen – und geheilt sein.«[33]

Der schon bei Gauland mitschwingende Ruf nach einer Beendigung der deutschen Schuld wurde bereits noch drastischer 2015 bei Pegida in Dresden geäußert, als Tatjana Festerling, die sogar für das Amt der Oberbürgermeisterin von Dresden kandidierte, am 9. November, in vollem Bewusstsein der historischen Konnotationen dieses Datums, vor der Dresdner Semperoper den »deutschen Schuldkomplex« offiziell für beendet erklärte. Sie stilisierte das Bedürfnis, »loszulassen«, als ein vorrangiges der heutigen Gesellschaft; ihre Ausführungen gipfelten in der rhetorischen Frage an ihre Mitstreiter: »Seid ihr bereit loszulassen?« Aus tausend Kehlen brüllte es: »Ja!«[34] Denn: Trotz

»traumatischer Spuren […] lassen wir die Vergangenheit jetzt los und deswegen ist jetzt Schluss mit der künstlichen Naziparanoia. […] Ihr könnt euch ab sofort eure Hitlerei an den Hut stecken. […] Und wenn ihr eure Hitlerfantasien und Naziobsession nicht in den Griff bekommt, dann macht Therapie! Aber lasst uns mit eurem Schuldkult, mit der Vergangenheit, für die keiner von uns hier die Verantwortung trägt, endlich in Ruhe!«[35]

Deutsche Ängste

Die Einleitung von Hardinghaus’ Buch ist – auf vermutlich ungewollte Weise – insofern eine Parabel auf die deutsche Geschichte, für deren einen entscheidenden Aspekt Sauerbruch hier steht: In den Trümmern Berlins im Mai 1945 half, wer konnte, in allererster Linie den Deutschen – und sich selbst. Indes: Den gleichen Zweck erfüllte Sauerbruchs Lebensgeschichte in der Nachkriegszeit und Hardinghaus’ Buch heute: Sie ermöglichen, genau wie Sauerbruch im Prolog dem Soldaten Schwerdtfeger, den Deutschen die Rückkehr in ihre heile Villa in Lichterfelde, entlastet und beschützt durch eine Projektionsfigur wie Ferdinand Sauerbruch. Denn dem Chirurgen gelingt es, dem im Prolog vorgestellten Soldaten Schwerdtfeger seine Ängste zu nehmen. Deutsche Ängste nach der Niederlage, denn Schwerdtfeger ist ein typischer Deutscher. Wie tief die Ängste der Deutschen nach 1945 den weiteren Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte grundiert haben, hat der Historiker Frank Biess in seinem Buch »Republik der Angst« deutlich gemacht. Er sieht die »langfristigen Nachwirkungen von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust [als] Grundbedingungen der bundesdeutschen Angstgeschichte.«[36] Die »existenzielle Unsicherheit und massive Furcht« seien »grundlegende Erfahrungen vieler Deutscher in der frühen Nachkriegszeit« gewesen.[37]

Zudem wurden auf einmal sie selbst durch die Entnazifizierung, die von den Deutschen ganz überwiegend abgelehnt wurde, an den Pranger gestellt. »Noch Jahrzehnte später wirkten die ›soziale Schande‹ der Entnazifizierung und der damit verbundene symbolische und materielle Verlust nach.«[38] Und mehr noch:

»Die spezifische Verunsicherung der männlich-bürgerlichen Mittelschicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit speiste einen weit verbreiteten kulturellen Pessimismus, der sich in einem öffentlichen Diskurs über existenzielle Angst manifestierte. Nachkriegskommentatoren […] diagnostizierten eine besondere Form der deutschen Angst als ein Phänomen der Nachkriegszeit oder gar als eine ›Weltangst der Moderne‹. Dieser Diskurs hatte eine zutiefst apologetische Dimension«[39],

welche die Voraussetzung dafür bildete, weitermachen zu können. All das gilt auch für den Soldaten in Hardinghaus’ Prolog, denn:

»Schwerdtfeger ist bald wieder auf den Beinen und gesund. Auch er muss sich nach den Kriegswirren neu orientieren, wieder Fuß fassen. Er findet zurück in seine Arbeit […], versucht wie so viele, den Krieg und das Grauen zu vergessen« (S. 16).

Dabei hilft ihm – und Millionen anderen Deutschen – Ferdinand Sauerbruch.

Ein Arzt, der die typischen deutschen Ängste auffängt und – wie seine Verehrung bis heute zeigt – dem es gelingt, die Kontrolle über seine eigene Biografie zu behalten und sie mithilfe von Büchern wie dem von Hardinghaus als eine im doppelten Sinne deutsche Biografie erscheinen zu lassen: Hardinghaus erzählt Sauerbruchs Leben als widerständige Geschichte von einem, der als Ausnahmewissenschaftler sich selbst und seinem Ethos treu blieb und sich deshalb über die als Unrecht wahrgenommene Entnazifizierung durch die Sieger empörte; Sauerbruchs Autobiografie hingegen wird von einem erzählt, der von den Nationalsozialisten profitierte, unter ihnen Karriere machte und bestrebt war, seinen Namen stets rein zu halten, wenn es um die Verhandlung der deutschen Schuld, insbesondere der seines eigenen Berufsstandes, ging. Und über allem schwebt der Arzt-Vater, der Halbgott in Weiß, Sinnbild für den deutschen Umgang mit der eigenen Vergangenheit.

Warum ist die so erzählte Geschichte von Ferdinand Sauerbruch heute noch dazu geeignet – auf zugegeben: deutlich subtilere Weise als bei Pegida – die deutsche Vergangenheit umzudeuten und so weitestgehend abzustreifen? Weil sie das Bedürfnis befriedigt, Ambivalenzen, welche die Forschung mühsam und durchaus nicht bruchlos über die Jahrzehnte herausgearbeitet hat, wieder einzuebnen. Heute reüssiert man nicht, wenn man aufzeigt, was sich jemand während des Nationalsozialismus hat zuschulden kommen lassen, sondern wenn man ankündigt, ihn reinwaschen zu können.

Sauerbruchs fingierte Lebensgeschichte im Bücherschrank des Bildungsbürgertums in den 1950er Jahren.

Seine Rehabilitierung als groß aufgemachte Ankündigung auf einem Klappentext 2019.

Fast siebzig Jahre trennen damals von heute. Doch sind es gleichfalls siebzig Jahre, die damals mit heute verbinden.

[1] Vgl. beispielhaft Schleiermacher, Sabine/Schagen, Udo (Hg.): Die Charité und das Dritte Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus, Paderborn 2008, S. 189–206 sowie Eckart, Wolfgang Uwe: Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Wien 2012. Dass die Diskussion um Sauerbruchs Rolle bis heute geführt wird, zeigt auch eine Diskussionsveranstaltung im Oktober dieses Jahres: »Ferdinand Sauerbruch: ›Ich habe von Politik nie etwas verstanden‹. Warum streiten wir seit 50 Jahren um einen Repräsentanten der deutschen Ärzte?« in der Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité.

[2] Sauerbruch, Ferdinand: Das war mein Leben, München 1951.

[3] Hardinghaus, Christian: Ferdinand Sauerbruch und die Charité. Operationen gegen Hitler, Berlin u.a. 2019.

[4] Lethen, Helmut: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt, Berlin 2018.

[5] Vgl. Gunkel, Christoph: »Halt die Klappe. In der Klinik sind viele Nazis!«, in: Spiegel Online, 07.02.2019, [eingesehen am 12.08.2019].

[6] Ebd.

[7] Schagen, Udo: Rezension zu: Hardinghaus, Christian: Ferdinand Sauerbruch und die Charité. Operationen gegen Hitler. München 2019. ISBN 978-3-95890-236-7, in: H-Soz-Kult, 20.03.2019, [eingesehen am 27.08.2019].

[8] Vgl. etwa Karstens, Simon: Die Summe aller Wahrheiten und Lügen. Ein Erfahrungsbericht zur geschichtswissenschaftlichen Biographie, in: Bios, Jg. 24 (2011), H. 1, S. 78–97 oder Fetz, Bernhard: Biografisches Erzählen zwischen Wahrheit und Lüge, Inszenierung und Authentizität, in: Klein, Christian (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart, Weimar 2009, S. 54–61.

[9] Siehe Schagen.

[10] Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.

[11] Vgl. dazu ausführlich und mit Dokumenten Peter, Jürgen: Der Nürnberger Ärzteprozess im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Münster 1984.

[12] Trittel, Katharina: »Kein Ehrenmann alten Schlages«. Das »Diktat der Menschenverachtung« und der »Dokumentenstreit« in der Göttinger Universitätszeitung (1947/48), in: Walter, Franz/Nentwig, Teresa (Hg.): Das gekränkte Gänseliesel. 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen, Göttingen 2016, S. 99–116, hier S. 101.

[13] Vgl. Militärarchiv Freiburg (im Folgenden: MA Freiburg), RH 12-23/1143. Zusammensetzung des Wissenschaftlichen Senats.

[14] Schagen.

[15] Siehe Anm. 1. Insgesamt zur Mitwisserschaft innerhalb medizinischer Netzwerke im Nationalsozialismus vgl. Roth, Karl Heinz: Tödliche Höhen. Die Unterdruckkammer-Experimente im Konzentrationslager Dachau und ihre Bedeutung für die luftfahrtmedizinische Forschung des »Dritten Reiches«, in: Ebbinghaus, Angelika/Dörner, Klaus (Hg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001, S. 110–152.

[16] Zit. nach Ebbinghaus, Angelika: Strategien der Verteidigung, in: Dies./Dörner, Klaus (Hg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001, S. 405–439, hier S. 412.

[17] Vgl. eidesstattliche Erklärung von Prof. Lendle, Leipzig, zit. nach: Mitscherlich, Alexander: Absicht und Erfolg, in: Göttinger Universitätszeitung, H. 3/1948, S. 3–5 und Aussage von Mitscherlich, ebd.

[18] Zit. nach Peter, S. 238.

[19] Zit. nach Freimüller, Tobias: Mediziner: Operation Volkskörper, in: Frei, Norbert (Hg.): Karrieren im Zwielicht, Frankfurt a.M. 2002, S. 13–73, hier S. 27.

[20] Zit. nach Trittel, Kein Ehrenmann, S. 194. Die Kontroverse ist ebenfalls ausführlich beschrieben in Trittel, Katharina: Hermann Rein und die Flugmedizin. Erkenntnisstreben und Entgrenzung, Paderborn 2018.

[21] Vgl. Hoyer, Timo: Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich. Ein Porträt, Göttingen 2008, S. 407.

[22] Ebd., S. 407.

[23] Jähner, Harald: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955, Berlin 2019.

[24] Vgl. hier und im Folgenden MA Freiburg, RH 12-23 864. Der Arzt im Kriege. Eindrücke einer Frontreise von Sauerbruch.

[25] Siehe Neumann, Alexander: Arzttum ist immer Kämpfertum. Die Heeressanitätsinspektion und das Amt »Chef des Wehrmachtssanitätswesens« im Zweiten Weltkrieg (1939–1945), Düsseldorf 2005, S. 53 ff.

[26] Ebd., S. 56.

[27] MA Freiburg, RH 12-23 864. Der Arzt im Kriege. Eindrücke einer Frontreise von Sauerbruch.

[28] Schagen.

[29] Zit. nach Ewers, Christian: Nazi oder Menschenfreund? Ferdinand Sauerbruch und die düsteren Jahre der Charité, in: stern.de, 19.02.2019, [eingesehen am 19.08.2019].

[30] Feddersen, Jan: Alle waren unwissend oder dagegen, in: taz.de, 05.03.2019, [eingesehen am 19.08.2019].

[31] Gradmann, Christoph: Nur Helden in weißen Kitteln? Anmerkungen zur medizinhistorischen Biographik in Deutschland, in: Bödeker, Hans Erich (Hg.): Biographie schreiben, Göttingen 2003, S. 245–284, hier S. 245.

[32] Feddersen.

[33] Ebd. Zur (auch rhetorischen) Wirkweise von Gaulands Metapher vgl. zudem Detering, Heinrich: Was heißt hier »wir«? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten, Ditzingen 2019, S. 35 ff.

[34] Trittel, Katharina: »Ebenso typisch wie verlogen« – zum Tod von Hans Mommsen, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 19.11.2015, [eingesehen am 15.08.2019].

[35] Vgl. Festerlings Rede bei Pegida am 09.11.2015, [eingesehen am 15.08.2019].

[36] Biess, Frank: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek 2019, Kindle-Ausgabe Position 274. Ein differenziertes und nicht ausschließlich die Komponente der Angst in den Fokus rückendes Porträt der deutschen Nachkriegszeit bietet Jähner, Wolfszeit.

[37] Biess, Kindle-Position 572.

[38] Ebd., Kindle-Position 1292.

[39] Ebd., Kindle-Position 1330.