Paris, 6. Mai 2007: Seinen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen feierte Nicolas Sarkozy an diesem Abend im Gourmetrestaurant »Fouquet’s« auf den Champs-Élysées. Dabei waren viele Mitglieder der französischen Wirtschaftselite, darunter der reichste Franzose Bernard Arnault. Derselbe Schauplatz zwölf Jahre später: Am 16. März 2019 verwüsteten Demonstranten und (wenige) Demonstrantinnen im Rahmen der Gelbwesten-Proteste das Edelrestaurant – für sie ein verhasster Ort der Macht und des Geldes. Die Zerstörungen waren so schwer, dass es mehrere Monate geschlossen bleibt.[1]

Der Großteil der Frauen und Männer, die seit dem Beginn der Gelbwesten-Proteste am 17. November 2018 auf die Straße gingen, protestierte friedlich. Eine Minderheit wandte jedoch wiederholt teils massive Gewalt an – nicht nur gegen Dinge, wie Autos und Luxusboutiquen, sondern auch gegen Personen. So wurden bspw. Feuerwehrmänner, die einen brennenden Polizeiwagen löschten, mit Steinen beworfen. Ein Polizist wurde von einer aufgebrachten Menge zu Boden geschmissen; man riss seinen Helm vom Kopf, und vermutlich wäre Schlimmeres passiert, wenn ihm nicht gerade noch ein Demonstrant beim Aufstehen geholfen hätte. Um noch ein weiteres Beispiel zu nennen: Rund dreißig gilets jaunes drangen Anfang Januar 2019 in eine Polizeikaserne in Dijon ein und warfen dort mit Gegenständen auf die Polizisten. Einen traf eine Eisenstange – er verlor mehrere Zähne. Auch sechs seiner Kollegen wurden verletzt.

Bereits Anfang Dezember 2018 sprach der Pariser Polizeipräfekt von einem »noch nie erreichten Gewaltniveau, zumindest nicht in den letzten Jahrzehnten«[2] – und wurde Mitte März 2019 entlassen, weil er der Zerstörungen in der Pariser Innenstadt nicht Herr wurde. Insgesamt beliefen sich die von den Gelbwesten verursachten Schäden bis zu diesem Zeitpunkt auf zweihundert Millionen Euro.

Ursachen der Gewaltausbrüche

Dass es zu dieser »Ultragewalt«[3] kommen konnte, ist auf ein Ursachenbündel zurückzuführen. Zunächst spielte eine Rolle, dass die Gelbwesten-Proteste, die sich in erster Linie gegen Staatspräsident Emmanuel Macron und seine Politik gerichtet haben,[4] ohne Rahmen, ohne Struktur abliefen. Anders als die Gewerkschaften, die über meist sehr professionelle Ordnungsdienste verfügen, vorher eine Route des Demonstrationszuges festlegen und ihre Kundgebung vorschriftsmäßig bei der Polizei anmelden, sind die gilets jaunes allein den spontanen Absprachen gefolgt, die über die sozialen Netzwerke getroffen wurden, ohne Ankündigung ihrer Versammlungen bei den Behörden. Aufgrund dieser fehlenden organisationellen Eingebundenheit konnte sich die Bewegung nur schlecht gegen Randaliererinnen und Randalierer von außen schützen, für die weniger das Erreichen der politischen Ziele der Gelbwesten im Mittelpunkt stand als vielmehr die Gewaltausübung: Mögen sich auch manche der sogenannten casseurs (›Krawallmacher‹) den Forderungen der Protestbewegung verschrieben haben, so kamen sie doch vor allem zu den samstäglichen Kundgebungen, um ihre Zerstörungswut auszuleben.

In diesen Zusammenhang der »Deinstitutionalisierung der Bewegung«[5] lässt sich auch eine zweite Ursache für die Radikalisierung der Gelbwesten-Proteste einordnen: das Fehlen der Gewerkschaften als treibende Kräfte, als Instanzen, die über Wissen und Erfahrung verfügen, soziale Konflikte zu regulieren und zu lösen, indem sie gegenüber der Politik als Vermittlerinnen auftreten. Denn bei den gilets jaunes handelte es sich um die erste soziale Bewegung in Frankreich, bei der die Gewerkschaften überhaupt keine Rolle gespielt haben. Deren Führungen wurden zur Herrschaftselite gezählt und damit wie alle institutionalisierten Strukturen scharf kritisiert. Dass die Gewerkschaften in den vergangenen Jahren trotz mehrerer groß angelegter Streiks keine bedeutsamen Erfolge erzielt haben, hat wiederum den Rückgriff auf Gewalt befördert: Sie wurde als einziges Mittel angesehen, mit dem sich die Regierung noch zu einer Änderung ihrer Politik bewegen ließe. Der Politologe Jean-Marie Pernot brachte die Situation wie folgt auf den Punkt: »Wären die ›Gelbwesten‹ still in ihrer Ecke geblieben, so wie die Gewerkschaften, dann hätte die Regierung abgewartet, bis sich die Lage wieder beruhigt.«[6]

Daneben kann die »Radikalitätsdynamik«[7], von der der Politikwissenschaftler Xavier Crettiez sprach, mit der Verzweiflung vieler Menschen erklärt werden: Das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben, begünstigte die Anwendung von Gewalt und forcierte das »totale Engagement«[8], und zwar umso mehr, als die Überzeugung weitverbreitet war, dass sich die Parteien nicht dafür interessierten, die Situation der einfachen Bevölkerungsschichten auch wirklich zu verbessern. Ein Symbol für deren fehlende politische Repräsentanz war für die Protestierenden die Nationalversammlung, in die noch nie so viele Angehörige der wirtschaftlich gut situierten Schichten und der intellektuellen Berufe gewählt wurden wie bei den letzten Parlamentswahlen 2017.

In einer Zeit also, wo zahlreiche Franzosen keine offiziellen Wege der Vertretung ihrer Interessen mehr sehen, betrachten sie Gewalt zum einen als einziges Ausdrucksmittel in ihrer Reichweite und zum anderen als legitimes Instrument, nämlich als Antwort auf die Gewalt der Regierung. Der französische Soziologe und Intellektuelle Didier Eribon brachte diese Sichtweise wie folgt auf den Punkt: »Auf den Champs-Élysées wurde zum Beispiel eine Chanel-Boutique verwüstet, was einem natürlich sehr leidtun muss. Wenn man aber all die zerstörten Existenzen anschaut, die seit Jahren zu Opfern unserer Regierungen werden, dann erscheint mir diese Gewalt sehr viel gravierender als eingeschlagene Schaufensterscheiben. Die Leute haben genug von der sozialen, ökonomischen, politischen und repressiven Gewalt, unter der sie leiden. Deshalb setzten sie ein Stopp-Signal, einen Warnschuss.«[9]

Je länger die Gelbwesten-Proteste andauerten, desto mehr verbreitete sich Eribons Haltung unter den Demonstrierenden. Die sechzigjährige Isabelle bspw., die am 16. März 2019 in Paris auf die Straße ging, legitimierte Plünderungen und Brandstiftungen folgendermaßen: »Die Gewalt des Staates war zuerst da. Sie löst die Wut bei uns aus.«[10] Dieses große Verständnis für Gewaltausübung erklärt der bereits zitierte Politikwissenschaftler Crettiez auch mit der Tatsache, dass es sich um eine soziale Verzweiflung handele, die weiße, oft im Ländlichen lebende Menschen meist höheren Alters betreffe. »Solche Gewalt wäre deutlich weniger akzeptiert worden, wenn sie von jungen Männern mit Migrationshintergrund in den Problemvierteln begangen worden wäre.«[11]

Ein vierter wichtiger Grund, der die Gewaltexzesse bei den Gelbwesten-Protesten zu erklären hilft, ergibt sich aus den rechtsradikalen wie linksmilitanten Gruppen, die sich Samstag für Samstag unter die Demonstrantinnen und Demonstranten mischten. Die Anwendung von Gewalt erfolgte bei ihnen aus einer identitären Logik heraus: Sie richtete sich gegen die Symbole der Macht und des Einflusses, wie z.B. Banken, und schweißte auf diese Weise die militanten Demonstrierenden zusammen. Ein Teil von ihnen suchte zudem die direkte Konfrontation mit der Polizei, da dies für sie zu ihren »politischen Ausdrucksweisen«[12] gehöre, wie es der Soziologe Fabien Jobard formulierte.

Dass sich aber auch Bürgerinnen und Bürger ohne militanten Hintergrund und ohne Protesterfahrung an Übergriffen beteiligt haben, kann wiederum damit erklärt werden, dass die Straße »ein immenser Spielraum«[13] ist, wo der kollektive Widerstand gegen Wasserwerfer oder das Errichten von Barrikaden zu kräftigen Adrenalinstößen führen kann – dies umso mehr, als viele der Beteiligten aufgrund fehlender finanzieller Mittel kaum mehr Zugang zu Orten der Ablenkung und des Vergnügens, wie etwa Fußballstadien oder Konzerthallen, haben. Zum – gewiss gefährlichen, aber berauschenden – Spaß kam teilweise der Profit hinzu: Bei Plünderungen von Kiosken oder Luxusgeschäften waren alkoholische Getränke oder teure Turnschuhe das Ziel der Täter und (wenigen) Täterinnen.

Polizeigewalt als Reaktion

Auf die teilweise exzessive Gewalt der Demonstrierenden reagierte die Polizei auf unterschiedliche Weise. Zunächst wurde im Laufe der Gelbwesten-Proteste die Zahl der Polizistinnen und Polizisten erhöht. So waren am 1. Dezember 2018 in ganz Frankreich 65.000 Polizeikräfte präsent, eine Woche später bereits 89.000. Nachdem sie anfangs so weit wie möglich auf Distanz zu den Demonstrantinnen und Demonstranten gegangen waren, veranlasste der französische Innenminister Christophe Castaner Anfang Dezember 2018 ein offensiveres Vorgehen. Dieses zog die vermehrte Benutzung von Waffen mit Hartgummikugeln (sogenannte lanceurs de balles de défense, kurz LBD), Tränengasgranaten und anderer nicht-letaler, d. h. nicht-tödlicher Waffen, nach sich – und das, obwohl deren Gebrauch sehr umstritten ist. So hatte der Beauftragte für Bürgerrechte in seinem Bericht vom Dezember 2017 das Verbot von Hartgummiwerfern bei Einsätzen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung empfohlen: »Im Laufe einer Demonstration, wo sich die anvisierten Personen per definitionem im Allgemeinen in einer Gruppe befinden und mobil sind, wird der ins Visier genommene Punkt nicht notwendigerweise der Treffpunkt sein und die getroffene Person könnte nicht die beabsichtigte sein«[14], so seine Begründung. Zu einem Verbot kam es jedoch nicht.

Im Laufe der Gelbwesten-Proteste erlitten Demonstrantinnen und Demonstranten z. T. schwere Verletzungen, weil sie von nicht-letalen Waffen getroffen wurden, in den meisten Fällen als »bloße Beobachter«[15]. Nach den Zählungen des freien Journalisten David Dufresne verloren bis Mitte Mai 2019 fünf gilets jaunes eine Hand, 24 ein Auge; 286 erlitten schwere Kopfverletzungen – obwohl das Zielen in Richtung Kopf verboten ist. In Marseille starb gar eine achtzigjährige Frau, als sie ihre Fensterläden schließen wollte und dabei von einer Tränengasgranate getroffen wurde.

Diese Vorfälle hatten Konsequenzen. Zum einen erhöhte die Polizeigewalt zunächst noch einmal die Aggressivität einiger Gelbwesten bzw. der ultrarechten und linksradikalen Gruppen, die sich unter die Protestbewegung mischten. Zum anderen setzte eine Debatte über polizeiliche Gewalt ein: Ist es in Frankreich zu einer Banalisierung nicht-letaler Waffen gekommen? Sind die Polizistinnen und Polizisten sowohl psychologisch als auch technisch ausreichend für die Benutzung dieser Waffen ausgebildet?

Die nüchternen Zahlen gaben erste Antworten: Laut eines Polizeiberichts aus dem Sommer 2019 haben Polizistinnen und Polizisten im Jahr 2018 insgesamt 19.071 Patronen aus LBD abgegeben – ein Anstieg von über zweihundert Prozent gegenüber dem Vorjahr. Es waren die Gelbwesten-Proteste, die für diese immensen Steigerungen sorgten. So wurden allein zwischen dem 17. November 2018 und dem 26. Januar 2019 insgesamt 9.228 Schüsse mit LBD abgegeben, davon 1.065 durch die nationale Gendarmerie und 8.163 durch die Polizei.[16] Auch die Ausbildung scheint nicht auszureichen: Nicht einmal einen ganzen Tag üben angehende Polizistinnen und Polizisten mit Hartgummiwerfern, die erst seit dem Jahr 2000 allgemein eingeführt wurden, nachdem sie zunächst nur zur Ausrüstung von Eliteeinheiten gehört hatten.[17] Zudem visieren die Polizistinnen und Polizisten in der Ausbildung feste Ziele an, was mit der Realität kaum zu vergleichen ist: Bei Demonstrationen sind die Ziele in Bewegung. Diese Diskrepanz erklärt, weshalb die Projektile in vielen Fällen ungenau abgeschossen werden.

Innenminister Castaner beschränkte sich darauf, den völlig neuen Charakter der Demonstrationen zu betonen. Außerdem verwies er auf die Gebrauchsregeln für die nicht-letalen Waffen: Sie dürften u. a. nur verwendet werden, wenn Polizistinnen und Polizisten über kein anderes Mittel verfügten, um ihre Position zu verteidigen, oder wenn sie selbst Gewalt erführen. Unbeeindruckt zeigte sich Castaner, nachdem am 7. Dezember 2018 rund zweihundert Abgeordnete der linken Oppositionsparteien, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler etc. ein Verbot von Hartgummigeschossen bei Demonstrationen gefordert hatten. Die Polizei reagierte ähnlich: Man greife nicht leichtfertig zu LBD, deren Konsequenzen man kenne. Wenn man sie nutze, dann habe dies einen Grund. Kritische Stimmen blieben rar, wie etwa die des Gendarmerie-Generals Bertrand Cavallier, der von einem »missbräuchlichen und grenzüberschreitenden Gebrauch«[18] der Hartgummiwerfer sprach.

Vorherrschend ist auf staatlicher Seite dagegen die Nicht-Akzeptanz des Begriffes »Polizeigewalt«. Der Pariser Staatsanwalt und die Direktorin der Kontrollbehörde der nationalen Polizei lehnen ihn ab. Dies trifft auch auf Emmanuel Macron zu, der sich Anfang März 2019 während einer Veranstaltung, die im Rahmen der »Nationalen Debatte« stattfand, wie folgt äußerte: »Sprechen Sie nicht von ›Niederschlagung‹ oder von ›Polizeigewalt‹. Diese Worte sind in einem Rechtsstaat inakzeptabel.«[19] Innenminister Castaner rief ebenfalls mehrfach dazu auf, den Terminus »Polizeigewalt« nicht zu verwenden. Er selbst kenne »keinen Polizisten, keinen Gendarmen, der Gelbwesten attackiert hat«, so der frühere Sozialist Mitte Januar 2019; er kenne »nur Polizisten und Gendarmen, die Mittel zur Verteidigung benutzen – zur Verteidigung der Republik, der öffentlichen Ordnung.«[20]

Ganz in diesem Sinne ordnete Castaner Ende Januar 2019 an, dass die Sicherheitskräfte, die mit Hartgummigeschossen ausgestattet sind, auch eine Kamera tragen müssen. Sie diene »vor allem als Beweis – nicht der Art und Weise, wie die Polizisten zielen, sondern in erster Linie der Form, wie sie Opfer von Gewalt werden«, so der Berater des Generaldirektors der nationalen Polizei.[21] Der Politologe Sebastian Roché, der den LBD sehr kritisch gegenübersteht, sah in der ministeriellen Anordnung folglich auch kein Zurückweichen der Polizei: »Man sucht nach allen möglichen Lösungen, um bloß nicht an den allgemeinen Prinzipien der Aufrechterhaltung der Ordnung rütteln zu müssen. Um ein Problem mit einem Instrument zu regeln, wird einfach ein anderes übergestülpt, ohne die allgemeine Logik des Systems infrage zu stellen.«[22] Auch der Präsident der nationalen konsultativen Kommission für Menschenrechte, Jean-Marie Delarue, zeigte sich besorgt darüber, dass »die Regierungen immer ihrer Polizei recht geben«[23]. Dabei machten Polizisten, wie alle Menschen, auch Fehler.

Angesichts dieser Lage überrascht es kaum, dass die Kommissarin für Menschenrechte des Europarats, Dunja Mijatović, Ende Februar 2019 ein Memorandum veröffentlichte, in dem sie u. a. Frankreich aufforderte, den Gebrauch von Waffen mit Hartgummigeschossen einzustellen. Eine Woche später war es dann die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, welche die exzessive Gewalt der Polizei kritisierte und eine Untersuchung verlangte. In einer 21-seitigen Antwort, deren Inhalt Ende April 2019 bekannt wurde, wies Frankreich jegliche Kritik am eigenen Vorgehen zurück. Zu den LBD hieß es etwa: »Zu keiner Zeit finden die Hartgummigeschosse gegenüber – selbst vehementen – Demonstranten Verwendung, wenn sie keine schlimmen Beschädigungen anrichten oder physische Gewalt anwenden, vor allem gegen die Sicherheitskräfte. Ist dies der Fall, dann handelt es sich nicht mehr um Demonstranten, sondern um einen gewalttätigen und illegalen Auflauf.«[24] Diese Argumentation durchzog die gesamte Stellungnahme: Der anzulegende legale Rahmen sei nicht mehr eine normale Demonstration, sondern eine »Zusammenrottung«, d. h. »eine Demonstration, die in Gewalt ausgeartet ist«.[25]

Gesetzesverschärfungen als Reaktion

Um die Gewalt bei den Gelbwesten-Protesten einzudämmen, legte die französische Regierung im Januar 2019 einen Gesetzentwurf vor, der u. a. ein schärferes Vermummungsverbot und Demonstrationsverbote für potenzielle Randaliererinnen und Randalierer vorsah. Sie zog damit viel Kritik auf sich. So vertraten Juristinnen und Juristen die Ansicht, es gebe schon ausreichend Mittel, um die Minderheit zu verfolgen und zu sanktionieren, die Demonstrationen nutze, um die öffentliche Ordnung zu gefährden. Auch wurde von Anwältinnen und Anwälten darauf hingewiesen, dass ein derartiges Gesetz die Regierung überdauern würde. Sie könne daher noch so sehr versichern, dass Missbräuche ausgeschlossen seien – »Wer weiß schon, wie diese Maßnahmen in der Zukunft benutzt werden und vor allem von wem?«[26], fragte Patrice Spinosi, Rechtsanwalt beim Staatsrat und beim Kassationsgericht, in Anspielung auf eine mögliche Machtübernahme durch Marine Le Pens rechtsextremes Rassemblement National (vormals: Front National).

Auch aus Macrons eigener Partei und vom Koalitionspartner kam Kritik. Beispielsweise hielten Abgeordnete den Plan, präventive Demonstrationsverbote durch die Verwaltung – ohne richterliche Entscheidung – auszusprechen, für problematisch. Infolgedessen haben sich fünfzig Abgeordnete der Parlamentsmehrheit bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes Anfang Februar 2019 enthalten – so viele wie noch nie seit dem Beginn von Macrons Amtszeit. Um den Unmut zu dämpfen, bat Macron Mitte März 2019 den Verfassungsrat zu prüfen, ob die geplanten Vorschriften mit den Grundrechten vereinbar seien – und erlitt eine »Ohrfeige«[27]: Der umstrittenste Gesetzesartikel, der die bereits angesprochenen, von den Präfekten zu erlassenden Demonstrationsverbote für einzelne Personen vorsah, verstoße gegen das in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 festgeschriebene Recht auf freie Meinungsäußerung. Das »Anti-Randalierer-Gesetz« trat infolgedessen kurz darauf ohne den entsprechenden Artikel in Kraft.

Wie geht es weiter?

Zwischen 2010 und 2013 haben neun europäische Länder an dem von der EU unterstützten Forschungsprojekt »GODIAC« (Good practice for dialogue and communication as strategic principles for policing political manifestations in Europe) teilgenommen, das neue Mittel finden sollte, mit denen sich das während Demonstrationen oft spannungsgeladene Verhältnis zwischen Protestierenden und Polizei verbessern ließe.[28] Frankreich fehlte jedoch. Der Politikwissenschaftler Olivier Fillieule führt dies darauf zurück, dass die französischen Ordnungskräfte »einen starken Widerstand« zeigten, »zu kooperieren und von anderen Hinweise zu ihren Strategien zu erhalten«.[29] Die Betonung der eigenen Unabhängigkeit ist jedoch nicht nur symbolischer, sondern auch ökonomischer Natur: Die Überzeugung, über eine typisch französische Form der Wahrung der öffentlichen Ordnung zu verfügen, welche die beste sei, hat die Tür zu einem bedeutsamen Waffenmarkt und zur Ausbildung ausländischer Polizistinnen und Polizisten geöffnet.

So überrascht es kaum, dass Frankreich auch das einzige Land in Europa ist, in dem LBD, Handgranaten und ähnliche Waffen zur Ausrüstung der Polizei gehören. Doch ob die Proteste der »Gelben Westen« zu einem Umdenken in Bezug auf den Einsatz der LBD und das strategische sowie operativ-taktische Vorgehen der Polizei führen?

Mitte Juni 2019 stellte Innenminister Castaner zwar fest, dass »sich unsere Methoden und unsere Werkzeuge zur Aufrechterhaltung der Ordnung weiterentwickeln müssen«[30], und kündigte eine kritische Bestandsaufnahme an. Doch zu den zur Auftaktveranstaltung eingeladenen Experten zählte kein einziger Kritiker der polizeilichen Gewalt. Das verwundert nicht, wiederholte Castaner in seiner Eröffnungsrede doch erneut seine Position: »Auf Molotowcocktails antwortet man nicht mit guten Gefühlen, man schützt die republikanische Ordnung nicht mit sanften Worten. Man kann erzählen, dass das Zielen mit LBD eine Polizeigewalt wäre, dass das Werfen von Blendgranaten eine Polizeigewalt wäre, dass auch das Benutzen von Schlagstöcken eine Polizeigewalt wäre. Aber das würde bedeuten, die Umstände und den Handlungsrahmen zu vergessen.«[31]

Eine Folge der Polizeigewalt war aber zuletzt schon zu beobachten: Nachdem sie zunächst die Wut der Demonstrierenden und damit deren Gewaltbereitschaft erhöht hatte, ist die Furcht vor polizeilichen Repressionen nun eine zentrale Ursache dafür, warum die Gelbwesten-Proteste seit dem Frühjahr 2019 immer weniger Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu verzeichnen haben. Am 17. August 2019 waren es bspw. in Paris nur noch um die dreihundert Personen, die zu einem Protestzug zusammenkamen. Mit anderen Worten: Die harte Linie des Staates gegen die Demonstrierenden hatte die gewünschte abschreckende Wirkung.

[1] Der vorliegende Aufsatz basiert neben Sekundärliteratur vor allem auf Artikeln aus der Tageszeitung Le Monde, die sehr umfassend und ausgewogen über die Gelbwesten-Proteste berichtet hat. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen damit lagen zum Entstehungszeitpunkt des Aufsatzes kaum vor.

[2] Zit. nach Chapuis, Nicolas/Couvelaire, Louise/Vincent, Élise: Le casse-tête du maintien de l’ordre, in: Le Monde, 04.12.2018. Bei dieser und allen weiteren Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche handelt es sich um Übersetzungen durch die Verfasserin.

[3] So eine Angehörige der Spezialeinheit der französischen Polizei zur Wahrung der öffentlichen Ordnung über die Ausschreitungen in Paris am 1. Dezember 2018. Zit. nach Chapuis, Nicolas: »ça a dégénéré, on aurait dit une guérilla …«, in: Le Monde, 09./10.12.2018.

[4] Zu den Ursachen der Gelbwesten-Bewegung vgl. ausführlich Plenel, Edwy: La victoire des vaincus. À propos des gilets jaunes, Paris 2019, hier vor allem S. 17–124.

[5] So Xavier Crettiez, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Versailles-Saint-Quentin-en-Yvelines: Crettiez, Xavier: L’alchimie de la violence émeutière, in: Le Monde, 05.12.2019.

[6] Zit. nach Besse Desmoulières, Raphaëlle: La grève, un mode d’action devenu obsolète?, in: Le Monde, 13./14.01.2019.

[7] Crettiez.

[8] Ebd.

[9] Zit. nach o. V.: »Die Herrschenden haben Angst – und das ist wundervoll«. Gespräch über die Bewegung der Gelbwesten mit Didier Eribon, Geoffroy de Lagasnerie und Edouard Louis, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Februar 2019, URL: [eingesehen am 06.07.2019]. Für den Hinweis auf dieses Gespräch danke ich herzlich Julian Schenke.

[10] Zit. nach Leclerc, Aline: La violence, un »mal nécessaire« pour les »gilets jaunes«, in: Le Monde, 19.03.2019.

[11] Zit. nach Chabas, Charlotte: »L’usage de la violence est un calcul risqué«, in: Le Monde, 20.03.2019.

[12] Zit. nach Bherer, Marc-Olivier: »Face aux ›gilets jaunes‹, l’action répressive est considérable«, in: Le Monde, 21.12.2018.

[13] Crettiez.

[14] Rapport du Défenseur des droits sur »Le maintien de l’ordre au regard des règles de déontologie«, Paris 2017, S. 26, [eingesehen am 06.07.2019].

[15] So der Anwalt Etienne Noël, der mehrere Opfer vertritt; zit. nach Bouanchaud, Cécile/Bouchez, Yann: »C’est devenu l’armement ordinaire des forces de police«, in: Le Monde, 17.01.2019.

[16] In Frankreich gibt es die nationale Polizei, die nationale Gendarmerie und die Kommunalpolizei.

[17] Dazu sehr lesenswert: Rigouste, Mathieu: La domination policière. Une violence industrielle, Paris 2012, S. 109–115.

[18] Cavallier, Bertrand: Les »gilets jaunes«, un défi pour un nouvel ordre au sens global du terme, in: Revue Politique et Parlementaire, Jg. 121 (2019), H. 1, S. 103–111, hier S. 110 f.

[19] Zit. nach Chapuis, Nicolas: Violences policières: 174 enquêtes de l’IGPN, in: Le Monde, 17./18.03.2019.

[20] Zit. nach o. V.: Castaner: aucun »policier ou gendarme« n’a attaqué »de gilet jaune«, in: Francesoir.fr, 15.01.2019, [eingesehen am 06.07.2019].

[21] Zit. nach Chapuis, Nicolas: Les forces de l’ordre défendent leurs armes, in: Le Monde, 26.01.2019.

[22] Zit. nach ebd.

[23] Zit. nach o. V.: Manifestations: briser la mécanique de la violence, in: Le Monde, 14.05.2019.

[24] Zit. nach Chapuis, Nicolas: Violences policières: la France se défend contre l’ONU, in: Le Monde, 25.04.2019.

[25] Zit. nach ebd.

[26] Spinosi, Patrice: Un blanc-seing pour museler la contestation, in: Le Monde, 06.02.2019.

[27] Jacquin, Jean-Baptiste/Rescan, Manon: Loi anticasseurs: l’article le plus critiqué censuré, in: Le Monde, 06.04.2019.

[28] Zu den Ergebnissen vgl. den Projektbericht: GODIAC – Good practice for dialogue and communication as strategic principles for policing political manifestations in Europe: Recommendations for policing political manifestations in Europe, Stockholm 2013, [eingesehen am 06.07.2019].

[29] Zit. nach Auffret, Simon: Ailleurs en Europe, des stratégies de »désescalade« sont mises en place, in: Le Monde, 17.01.2019.

[30] Zit. nach Chapuis, Nicolas: Christophe Castaner lance une réflexion pour faire »évoluer« le maintien de l’ordre, in: Le Monde, 19.06.2019.

[31] Zit. nach ebd.