„Don’t know what I want. But I know how to get it.“Hannover versinkt im Chaos
Hannover gehört im bundesweiten Vergleich sicherlich nicht zu den Städten, die – anders als die Metropolen Berlin, Hamburg oder Frankfurt – zu den Hochburgen der radikalen Linken gezählt werden. Vielmehr kann die Stadt als »Durchschnittsregion« [1] bezeichnet werden, die sich durch eine gewisse politisch-kulturelle Konturlosigkeit auszeichnet.[2] Hannover war historisch nicht durchgängig durch die sich am Klassenkonflikt von Arbeit und Kapital konstituierenden Milieus des Großbürgertums oder der Arbeiter dominiert, stattdessen war die Landeshauptstadt durch ihren Verwaltungsapparat geprägt, sodass ein »labile[s] Gleichgewicht«[3] der hier ansässigen Milieus entstand. Obwohl die »Provinz-Metropole«[4] nahezu alle politischen Bewegungen des Nachkriegs-Deutschlands in ihren jeweiligen Ausprägungen erlebte, was auf eine gewisse Erfahrung und Routine im Umgang mit linken und gegenkulturellen Politikprojekten hinweisen sollte, und die Leinestadt zudem durch eine überaus starke sozialdemokratische Prägung charakterisiert ist, konnte sich keine selbstbewusste politische Praxis, die sich durch einen angemessenen Umgang mit vom Konsens abweichenden politischen Bewegungen auszeichnet, entwickeln.[5] Dieses Charakteristikum, so eine mögliche These, schlug sich immer auch in einem unklaren Verhältnis im Umgang mit neuen politischen Bewegungen nieder und resultierte schließlich – gespeist aus einem mangelnden politischen Selbstbewusstsein – in entschiedenen Abwehrreaktionen.[6]
Der Politologe Heiko Geiling stellt hieran anknüpfend die These auf, dass es zwei Hannovers gibt: das herkömmliche, traditionelle Hannover und das linke, das andere Hannover[7], in dem ab den 1970er-Jahren die symbolträchtige Integrationsideologie der vielfach so bezeichneten »neuen Linken« kleinere ideologische Differenzen innerhalb der Bewegung überdecken konnte. Werte wie Emanzipation, Partizipation oder Authentizität wurden demnach handlungsweisend und durch die Ausbildung spezifischer Jugend-, Frauen- und AusländerInnenbewegungen konnten eigene politische und lebensweltliche Milieus im sogenannten »anderen Hannover« etabliert werden.[8] Dabei war dieses andere Hannover jedoch stets in dialektischer Gleichzeitigkeit sowohl Integrationsprodukt der hier – auch physisch – versammelten Gruppen als auch Ausgrenzungsprodukt der bürgerlichen Stadtgesellschaft zugleich. Wie rigoros diese teilweise gegen das »Andere« vorging, zeigt etwa das Beispiel Peter Brückners, der den Nachruf des »Göttinger Mescaleros« auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback – welcher von der Roten Armee Fraktion (RAF) am 31. Mai 1974 erschossen wurde – nachdrucken ließ. Zwar schreibt der Stadtindianer hier von einer »klammheimlichen Freude« [9], welche das Attentat bei ihm auslöste, im weiteren Text distanzierte er sich jedoch von Gewaltausübung.[10] Brückner wurde daraufhin vom Dienst suspendiert.[11] Geiling resümiert den Vorgang folgendermaßen: »Es waren gerade auch die Ereignisse um den hannoverschen Psychologieprofessor Peter Brückner, die den zugespitzten Kampf staatlicher Institutionen und Repräsentanten gegen die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre symbolisieren. Sie werfen zugleich ein Licht auf die lokalen Vertreter des ›eigentlichen‹ Hannover.«[12] Wenn also in Hannover selbst Honoratioren der örtlichen Universität unter den Verdacht gerieten, radikal linkes und potentiell bedrohliches Gedankengut zu vertreiben, welches Echo würde dann erst eine handfeste Provokation nach sich ziehen und welche Folgen würden sich für das andere Hannover ergeben?
»Am Anfang war der Zorn.«[13]
Über die Jahrzehnte hinweg kam es in Hannover zu einigen Konflikten zwischen Mehrheitsgesellschaft und gegenkulturellen Milieus. Ob die Aktion »Roter Punkt«[14], die Affäre um Peter Brückner oder die aufkommende Jugendzentrumsbewegung, welche die Stadt mit ihren Hausbesetzungen und Raumkämpfen in Atem hielt – Empörungspotential hatte es oft gegeben. Zu weltweiter Berühmtheit gelangte die Stadt letztlich durch die sogenannten »Chaostage« während der 1990er-Jahre, als die Stadt mehrmals von Punks aus ganz Deutschland aufgesucht wurde.
Der Punk hatte sich ab den 1970er-Jahren zu einer unpolitisch-politischen Subkultur entwickelt, bei der eher ein diffuses Lebensgefühl, das von Wut und Enttäuschung bestimmt war, als konkrete politische Ideologien handlungsleitend wurde. Die Aggression der Punks richtete sich gegen die etablierte Gesellschaft, gegen das Establishment, gegen Kommerz und das spießige Bürgertum, von dem man sich optisch besonders radikal abgrenzte.[15] In der Frühphase des Punks herrschte in der Bewegung vage Einigkeit darüber, dass die verklammernde politische Strömung ein »bis auf die Grundmauern entkernter[r] Anarchismus«[16] war, der in seiner nihilistischen Wendung in zukunftsverachtenden Slogans wie »No Future« kulminierte und letztlich auf der Minimalforderung der individuellen Freiheit beharrte, ohne zugleich positive Moralvorstellungen, Zukunftsvisionen oder gar Ideologien zu produzieren: »Die frühen Punkbands sagten Anarchie und meinten damit persönliche Freiheit, tun und lassen zu können, was sie wollten. Der Anarchismus war für sie ein Vehikel, die Gesellschaft zu provozieren und zu schocken.«[17] Dieses Lebensgefühl, die – wahrgenommene – gesellschaftliche Dissoziation, führte nicht nur in der Punkbewegung in der Konsequenz zu einem Rückzug in subkulturelle Strukturen, der gleichzeitig zur Emphase der subjektivistischen Perspektive führte.[18] Beides begünstigte eine Ausrichtung auf lebensnahe Kämpfe, etwa durch ein Engagement in der Hausbesetzerbewegung, die für die subjektive Befreiung gefochten wurden – zulasten langfristiger strategischer Konzepte.[19]
Anarchismus und Punk-Rock
Dass Anarchie und Punk-Lifestyle konvergieren, ist kein Zufall. In einer klugen Zeitdiagnose konstatiert der Politikwissenschaftler Peter Lösche, dass »das Schlagwort von ›Anarchismus‹ gesellschaftlich bedingte Ängste und Ressentiments auszulösen vermag und von den Gegnern des Anarchismus in diskriminierender Absicht entsprechend instrumentalisiert worden ist.«[20] Darunter würden nicht nur die so bezeichneten ProtagonistInnen leiden, auch die sozialwissenschaftliche Forschung habe mit dem Makel zu kämpfen, dass Anarchismus ein »Allerweltsbegriff« geblieben sei, welcher auf »Leerformeln«[21] reduziert werde. Dass sich an diesem immerhin vierzig Jahre alten Befund nicht grundsätzlich etwas geändert hat, darf mit Fug und Recht behauptet werden. Die negative Konnotation des Begriffs zeigt sich beispielsweise in seiner Verwendung als Kampfbegriff in Übersee.[22] Tatsächlich werde in der Soziologie das vollständige Fehlen sozialer Normen und einer gesellschaftlichen Ordnung als Anomie bezeichnet, wohingegen der Begriff Anarchie die Abwesenheit von Herrschaft bezeichne.[23] Anarchismus ziele also darauf ab, einen Zustand der Herrschaftslosigkeit zu erschaffen, da Herrschaft als ein Grundübel angesehen werde. Trotz seiner historisch vielfältigen Spielarten seien die Kritik an der individuellen Entmündigung, Staat und Kapitalismus verbindende Elemente.[24] Um das jeweils Spezifische anarchistischer Gruppierungen zu identifizieren, schlägt Lösche vor, die konkreten historischen Erscheinungsformen des Anarchismus zu untersuchen,[25] der zugleich durch seine bloße Existenz fundamentale Gesellschaftskritik darstelle, weil »das mögliche rationale und sich selbst organisierende Zusammenleben von freien und sich selbstverwirklichenden Menschen, und also die ›anarchistische‹ Zukunftsgesellschaft konfrontiert wird mit dem politischem Zwang und sozialer Unterdrückung in der jeweiligen Gegenwart.«[26] Diese politische Grundhaltung passte demnach ideal auf die sich als gesellschaftliche AußenseiterInnen inszenierenden Punks.
Obwohl die organisierte Speerspitze der deutschen Studierendenbewegung der 1960er-Jahre, der SDS, streng sozialistisch – also in der politischen Farbenlehre eher Rot als Schwarz – ausgerichtet war,[27] verfingen anarchistische Grundkonzepte durchaus in den diversen Entmischungsprodukten der Bewegung. Teile der Neuen Linken rezipierten also mitunter anarchistische Ideen, die fortan als »Stimulans für gesellschaftspolitische Überlegungen und für Gesellschaftskritik«[28] wirkten. Die Punkbewegung bezog sich, wie bereits angedeutet, am stärksten, gleichzeitig jedoch überaus vage auf die Ideen des Anarchismus. Ende der 1970er – also noch vor den ersten hannoverschen Chaostagen – wandelte sich die politische Bedeutung des Punks als anfänglicher, äußerlicher Provokation hin zu einem politischen Programm, wurde mehr und mehr zu einem »radikal linken Bekenntnis«.[29] Durch die enge lebensweltliche Verbindung der Subkultur der Punks mit anderen aufkommenden Bewegungen, wie etwa den Autonomen, in gemeinsamen Wohn- und Politikprojekten wurde Punkrock bald mehr als bloße Hintergrundmusik. Jedoch blieb das Verhältnis der Punks zu anderen politischen Formationen stets problematisch; sorgte doch die radikale Ablehnung aller Autoritäten sowie der regelmäßig aufs Neue inszenierte Tabubruch zyklisch für Konfliktpotenzial[30] – trotz aller ästhetischen, politischen und lebensweltlichen Berührungspunkte. Dieses und weitere Probleme der jungen Bewegung wurden zu diesem Zeitpunkt augenfällig: Das offensive Verhältnis zu Sex und Gewalt provozierte kaum noch, der Gedanke, mit den Moralvorstellungen und Geboten der Mehrheitsgesellschaft zu brechen, führte immer mehr zu selbstschädigendem Verhalten und verfestigte schließlich die gesellschaftliche Isolation der Punks. Die »Lust am Schlechten«[31], die zu wörtlich genommene Provokation, ließ Humor und Zynismus zweitrangig werden. Stattdessen, so kritisieren einige AktivistInnen wehmütig, kam es zu einer Re-Dogmatisierung in verschiedenen politischen Projekten.[32]
Das Chaos kommt nach Hannover
Zwischen 1979 und 1982 fanden immer wieder Punktreffen im Ruhrgebiet statt, die Stadt Wuppertal wollte diese Zusammenkünfte verbieten, woraufhin es zu Solidaritätstreffen in anderen Städten kam.[33] Als in Hannover eine so genannte »Punker-Kartei« eingerichtet werden sollte, beschloss Karl Nagel, Initiator der Chaostage, als Protestaktion im Dezember 1982, die deutsche Punk-Szene erstmals in Hannover zu versammeln – inklusiver aller »Pseudo-, Mode-, Karnevals-, Pattex- und Disco-Punks«, um die vorhandenen Daten wertlos zu machen und eine Unterscheidung zwischen »echten« und »unechten« Punks zu erschweren.[34] Nicht weniger als der »Untergang Hannovers«[35] war das durchaus ironische Ziel der PunkerInnen. Das Treffen wurde schließlich ein gewisser Erfolg: Nagel zufolge kamen einige hundert TeilnehmerInnen, deutlich mehr als bei den vorausgegangenen Treffen im Ruhrgebiet, die auf Polizeikräfte trafen, welche die Demonstration schließlich auflösten, sodass es in der Folge zu kurzen, aber heftigen Auseinandersetzungen kam. Abends gab es ein Abschlusskonzert im Unabhängigen Jugendzentrum (UJZ) Kornstraße. Das Fazit: »Es hatte keine Idioten-Aktionen gegeben, und die Schlagzeilen waren uns sicher. Aber trotzdem war es nicht das gewesen, was wir geplant hatten: Wir wollten eigentlich keine Schlacht mit der Polizei, sondern in erster Linie das totale Chaos in der City, über Stunden hinweg.«[36] Im folgenden Jahr, am 2. Juli 1983, sollten die rivalisierenden Skins zusätzlich zu den Punks mobilisiert werden, um eine Aktionseinheit schließen zu können; zum gemeinsamen Feind wurde die Polizei stilisiert.[37] Diesmal kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Punks vor dem UJZ.[38] Wiederum ein Jahr später, 1984, fanden die Hannoveraner Chaostage mit bis zu 2000 TeilnehmerInnen statt, wurde jedoch begleitet von Prügeleien mit Nazis, die auch ein Jugendzentrum der Szene verwüsteten. Dass nun die eigenen Räume angegriffen und teilweise zerstört wurden, desillusionierte Teile der Punks, die sich folglich von der Szene abwandten. Es sollten die letzten Chaostage für ein ganzes Jahrzehnt geblieben sein.[39]
1994 fanden die Chaostage nun wieder erstmals seit der politischen Niederlage von 1984 statt. Am 6. August 1994 trafen rund 800 Punks in Hannover ein, es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Vor dem Hintergrund einer veränderten Wahrnehmung der politischen Kultur Deutschlands in den Augen der Punks, gemeint sind die »deutsch-nationale Seeligkeit [sic!]« und der »Neonazi-Terror«[40] im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung, wandelte sich der Bedeutungsgehalt der Chaostage sowohl für die TeilnehmerInnen als auch für die Gesellschaft: »Die Chaostage 1994 fanden also statt – allerdings in der Medienberichterstattung in größerem Ausmaß als aus der Perspektive der Anwesenden.«[41] Dabei war die Taktik simpel, doch effektiv: Die bloße Anwesenheit der Punks, die alleine durch ihr äußeres Erscheinungsbild verdeutlichen wollten, dass sie einen Stachel im Fleisch des kleinbürgerlichen Hannover darstellten, sollte provozieren. Durch Hedonismus einerseits, die Chaostage als Partyveranstaltung zu zelebrieren, und Nihilismus andererseits, die totale Ablehnung jeglicher politischen Forderungen zur Schau zu stellen, ließe sich das Spannungsverhältnis der Veranstaltung charakterisieren. Das Ziel war die pure Verwirrung: »Solange die Bürger dich nicht richtig verstehen. Erst in dem Augenblick, in dem sie dich durchschauen, ist es aus. Die Stärke der Chaostage ’94 war, daß er [sic!] bei den Leuten irgendwelche Bilder hervorrief, ohne daß die weiter mit Inhalt gefüttert wurden. Man war nur da, die bloße Existenz, nichts weiter.«[42] Demnach sollte eine möglichst große Menschenmenge nach Hannover strömen, damit das Szenario vor Ort schon in seiner Anlage für die Polizei nicht handhabbar werden würde und diese mit ihrem Verhalten, den aussichtslosen Versuchen, Ordnung herzustellen, die für sie unübersichtliche und letztlich unkontrollierbare Situation weiter eskalieren lassen würden: »Chaostage waren daher im Vokabular der Punks auch ›Bullenverarschung‹, weil die Polizei genau das mit förderte, was zu verhindern eigentlich ihre Aufgabe wäre.«[43]
1995 kam es zu den sicherlich heftigsten Ausschreitungen in der Historie der Hannoveraner Chaostage. Rund 2000 TeilnehmerInnen aus diversen Szenekontexten reisten in die Landeshauptstadt, es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei und Ausschreitungen, was medial ausführlich rezipiert wurden – trotz bereits bestehender Erfahrungen im Umgang mit den Festtagen der Punkbewegung. Tatsächlich begannen schon am Donnerstag, den 3. August 1995, DemonstrantInnen damit, das Gelände der besetzten ehemaligen Sprengel-Schokoladenfabrik zu verbarrikadieren, auch während der folgenden Tage kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen rund um das Gebiet.[44] Die Presse zeichnete ein aussagekräftiges Bild dieser Tage, demnach terrorisierten »Massen gewalttätiger, unberechenbarer Jugendlicher […] die wehrlose Stadt, verbreiteten Angst und Schrecken und seien von der Polizei nicht zu stoppen gewesen, die nur noch das Schlimmste habe verhindern können.«[45] Bei den »tagelang andauernden Straßenschlachten«[46] wurden etwa 180 PolizistInnen und 300 Punks verletzt, von den 2000 TeilnehmerInnen an den Chaostagen 1200 in polizeilichen Gewahrsam genommen und insgesamt 2000 Platzverweise ausgesprochen. Es kam zu Plünderungen von Geschäften, an denen sich auch »normale« BürgerInnen beteiligten – was von der Presse breit rezipiert und skandalisiert wurde. Dabei trug die Polizei auch eine deutliche Mitschuld an der Eskalation: Die Punks wurden bewusst räumlich konzentriert und auf ein zeitgleich stattfindendes Straßenfest und in die Nordstadt – damals ein sozialer Brennpunkt Hannovers – getrieben, damit ein verkaufsoffener Sonntag in der Innenstadt reibungslos stattfinden konnte.[47]
Das andere Hannover: Eine aktualisierte Bestandsaufnahme
Zwar stellten die Chaostage eine Extremsituation dar, der Umgang mit ihnen war 1995 jedoch einzigartig. Es zeigte sich hier erneut, dass, der These des geteilten Hannovers folgend, die Abwehrmechanismen des bürgerlichen Hannovers – hier repräsentiert durch Polizei und Presse – 1995 besonders plastisch hervortraten. Schon die in der Presse verwendeten Gruppenbezeichnungen der TeilnehmerInnen an den Chaostagen, die mehrheitlich deutlich ablehnend bis feindselig waren, delegitimierten – bei aller berechtigten Kritik – jeglichen politischen Anspruch, den die Veranstaltung vielleicht haben könnte, verorteten die PunkerInnen als außerhalb der Gesellschaft stehend und sprachen ihnen damit generell ab, eine gesellschaftliche Streitpartei zu sein.[48] Geschrieben wurde etwa von »Chaoten« oder »Krawallfahrern«, so einige der harmloseren Bezeichnungen.[49] Die instrumentelle Behandlung der Vorkommnisse, wie sie etwa der CDU oder der Polizei vorgeworfen wurde, die vor der linken Bedrohung warnten und die Ereignisse in eine Kontinuitätslinie mit den »Krawallmachern« der Studierendenbewegung stellten, aktivierten die gewohnten Abwehrkräfte:[50] »Einmal mehr werden hiermit Erfahrungen und Befürchtungen über den unregelmäßigen Umgang mit politischer Gewalt und verschiedenen politischen Gruppierungen an diesem Beispiel bestätigt. Einmal mehr werden aber auch Rezeptionsschemata der LeserInnen über das Verhalten und das Bedrohungspotential ›der Linken‹ verstärkt.«[51]
1996 blieb es ruhig in Hannover, dafür sorgten rund 6000 PolizistInnen in der »Stadt des Chaos«. Nach den Ausschreitungen und Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre, schlug das eine Extrem »Chaos« in das diametral entgegengesetzte Extrem um: Hannover wurde zu einer Stadt der totalen Kontrolle, zu einer Zone der eingeschränkten Grundrechte. Die polizeiliche Aufgabe der Gefahrenprävention wurde erheblich ausgeweitet. Möglich waren nun, durch ein verschärftes Polizeigesetz, Vorbeugegewahrsam oder das Aufenthaltsverbot, das sich über die ganze Stadt erstrecken konnte, dabei reichten zur Begründung der Maßnahme bereits »vage Annahmen«.[52] Dabei ist besonders pikant, dass zwar einerseits die Erfahrungen der Chaostage von 1995 eine neue, verschärfte Polizeilinie plausibel erscheinen lassen, es jedoch andererseits im selben Jahr zu polizeilichen Fehlern kam, welche die chaotischen Zustände beförderten – so das Ergebnis eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses: Praktiziert wurde eine fragwürdige Rechtspraxis, die es den PolizistInnen erlaubte, mit »Spürnase« und »Berufserfahrung« die Grundrechte vermuteter Unruhestifter einzuschränken.[53] Zudem, so die aus der polizeilichen Drohkulisse resultierende Pointe, herrschte innerhalb der Szene die Absprache nach Bremen auszuweichen, sollte die erwartete Repression zu gewaltig ausfallen. Auch dort kam es 1996 sodann zu ähnlichen Szenerien; »Belagerungszustand in Bremen«.[54]
Das »andere Hannover« ging aus den Chaostagen weitgehend unbeschadet hervor. Schon früh begannen gegenkulturelle Politikprojekte sich in der Landeshauptstadt zu institutionalisieren. Dieser Prozess der Verstetigung wurde durch die Chaostage sowie eine zu erwartende Reaktion des traditionellen Hannovers nicht beeinflusst. Aus den Raumkämpfen der siebziger Jahre gingen etwa zwei Unabhängige Jugendzentren hervor, die heute noch existieren: Das UJZ Glocksee sowie das UJZ Kornstraße. Auch das ehemals durch linke AktivistInnen besetzte Sprengel-Gelände, das während der Chaostage noch eine zentrale Rolle einnahm, gehört nun fest zum Stadtbild.[55] Letztlich entsteht so der Eindruck, dass die These des geteilten Hannovers heutzutage nicht mehr tragfähig ist und die Chaostage vielmehr ein letztes Aufflackern einer radikalen Gegenbewegung bedeuteten.
[1] Geiling, Heiko: Das andere Hannover. Jugendkultur zwischen Rebellion und Integration in der Großstadt, Hannover 1996, S. 15.
[2] Vgl. ebd., S.16.
[3] Ebd., S. 16.
[4] Vester, Michael et al.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln 1993, S.147.
[5] Vgl. ebd., S. 148.
[6] Vgl. ebd., S. 148.
[7] Vgl. Geiling, S. 166.
[8] Vgl. ebd., S. 166–168.
[9] Ein Göttinger Mescalero: Buback – ein Nachruf, in: Regenbogen Nachrichten, URL: http://netzwerk-regenbogen.de/mescalero_doku.html [eingesehen am 03.09.2019].
[10] Vgl. ebd.
[11] Vgl. Paul, Reimar: Nur vier Zeilen zitiert. Göttinger »Buback-Nachruf« vor 40 Jahren, in: taz, 25.04.2017, URL: https://taz.de/Goettinger-Buback-Nachruf-vor-40-Jahren/!5404214/ [eingesehen am 03.09.2019].
[12] Geiling, S. 173.
[13] Stowasser, Horst: Anarchie! Idee, Geschichte, Perspektiven, Hamburg 2014, S. 9.
[14] Bei der sogenannten »Aktion Roter Punk« protestierten 1969 vorwiegend SchülerInnen und StudentenInnen gegen die Fahrpreiserhöhungen der örtlichen Verkehrsbetreibe in Hannover. Ihren Namen verdankt der Protest den durch die AktivistenInnen ausgeteilten roten Punkten, mit denen Autofahrer ihre Bereitschaft signalisieren konnten, Mitfahrer aufzunehmen, die so nicht mehr auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen waren.
[15] Vgl. Hoekman, Gerrit: Pogo, Punk & Politik, Münster 2011, S. 5.
[16] Ebd., S. 5.
[17] Ebd., S. 22.
[18] Vgl. Schwarzmeier, Jan: Die Autonomen zwischen Subkultur und sozialer Bewegung, Göttingen 1999, S. 38.
[19] Vgl. ebd., S. 60.
[20] Lösche, Peter: Anarchismus, Darmstadt 1977, S. 2.
[21] Ebd., S. 10.
[22] O. A.: Donald Trump droht Demonstranten mit »zehn Jahren Gefängnis«, in: ZEIT ONLINE, 28.07.2020, URL: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/portland-usa-proteste-donald-trump-drohung-bundesbeamte [eingesehen 28.07.2020].
[23] Vgl.: Langensand, Luca: Einleitung, in: Mathis, Klaus/Langensand, Luca (Hrsg.): Anarchie als herrschaftslose Ordnung?, Berlin 2019, S. 15–22, hier S. 15.
[24] Vgl. ebd., S. 17–18.
[25] Vgl. Lösche, S. 14.
[26] Ebd., S. 135.
[27] Vgl. Stowasser, S. 443.
[28] Lösche, S. 153.
[29] Hoekman, S. 22.
[30] Vgl. ebd., S. 38.
[31] O. A.: Virtueller Krawall. Die Chaostage in Hannover. Gespräch mit Karl Nagel und Moses Arndt, in: Hoffmann, Martin (Hrsg.): SubversionsReader. Texte zu Politik & Kultur, 10 Jahre ID-Verlag, Berlin 1998, S. 44–56, hier S. 44.
[32] Vgl. Nagel, Karl, in: ebd., S. 49.
[33] Vgl. Hoekman, S.42.
[34] O. A.: 18.12.1982: Der erste Chaos-Tag!, in: karlnagel.de, 18.12.2017, URL: https://www.karlnagel.de/der-erste-chaos-tag/ [eingesehen am 09.09.2019, im August 2020 nicht mehr erreichbar].
[35] Ebd.
[36] Ebd.
[37] Vgl.: Herbertz, Oliver: Die Organisation von Chaostagen. Analyse zur Konstruktion von Objektivität, in: Betz, Gregor et al. (Hrsg.): Urbane Events, Wiesbaden 2011, S. 245–260, hier S. 249.
[38] Vgl. o. A.: 1983: Bundesjugendspiele in Hannover, in: karlnagel.de, 19.12.2017, URL: https://www.karlnagel.de/bundesjugendspiele-83/ [eingesehen am 09.09.2019, im August 2020 nicht mehr erreichbar].
[39] Vgl.: Herbertz, S. 251.
[40] Hoekman, S. 39.
[41] Herbertz, S. 252.
[42] Nagel, Karl, in: SubversionsReader, S. 51.
[43] Herbertz, S. 254.
[44] Vgl. Haase, Bernd: Als die Chaostage Hannover erschütterten, in: Hannoversche Allgemeine, 07.08.2015, URL: https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Mit-aller-Gewalt-Chaostage-erschuettern-Hannover [eingesehen am 11.09.2019].
[45] Free, Inga: »Hier regiert der Mob«. Gruppenbezeichnungen in der Berichterstattung, in: Osnabrücker Beitrage zur Sprachtheorie, H. 57/1998, S. 51–70, hier S. 51.
[46] Ebd., S. 52.
[47] Vgl. ebd., S. 52.
[48] Vgl. ebd., S. 68.
[49] Jach, Michael et al.: Chaos statt Sicherheit, in: Focus Magazin, 14.08.1995, Heft 33, URL: https://www.focus.de/politik/deutschland/hannover-chaos-statt-sicherheit_aid_153589.html [eingesehen am 09.09.2019].
[50] Vgl.: Free, S. 69.
[51] Ebd., S. 69.
[52] Kleine-Brockhoff, Thomas: Chaostage 96: Hannover als Stadt der eingeschränkten Grundrechte, in: Die Zeit 09.08.1996, Heft 33, URL: https://www.zeit.de/1996/33/hannover.txt.19960809.xml [eingesehen am 09.09.2019].
[53] Vgl. ebd.
[54] Stucke, Martin: »Chaostage« 1996 in Bremen: Polizeigewahrsam für »punktypisches Aussehen«, in: Müller-Heidelberg, Till et al. (Hrsg.): Grundrechte-Report 1997, S. 29–34, URL: http://www.grundrechte-report.de/1997/inhalt/details/back/inhalt-1997/article/chaostage-1996-in-bremen-polizeigewahrsam-fuer-punktypisches-aussehen-1/ [eingesehen am 09.09.2019].
[55] Vgl. Holzki, Larissa/Nickel, Stefanie: Sprengel-Gelände und UJZ feiern Jahrestage, in: Hannoversche Allgemeine, 23.08.2012, URL: https://www.haz.de/Hannover/Aus-den-Stadtteilen/Nord/Sprengel-Gelaende-und-UJZ-feiern-Jahrestage [eingesehen am 14.08.2020].