Die sogenannten GermanenFragen zum Umgang mit einem Faszinosum
Wikinger begegnen uns auf Netflix, nordische Götter in Comics und Fantasyromanen, bei Pagan und Viking Metal-Bands auf YouTube und auf T-Shirts in der Fußgängerzone. Angesichts dieser medialen Allgegenwart von ›Wikingern‹[1] und ›Germanen‹[2] erscheint die Frage, ob das Mittelalter überhaupt jemals aufgehört hat, geradezu sekundär – denn primäres Faktum ist, dass es niemals mehr Repräsentationen von Wikingern und Schildmaiden – sowie Menschen, die sich als ihre modernen Nachfahren fühlen und sich auf Instagram als solche inszenieren – gegeben hat als heute; nie haben mehr Menschen Odin und Thor in ihren Köpfen oder als Schmuckstücke mit sich herumgetragen. Diese Situation ist das Produkt einer Popularisierungsleistung, die sich weit weniger historischer Forschung und der Verbreitung entsprechender Wissensbestände verdankt als unterhaltungsmedialer Vermittlung.
Doch neben einer Industrie, die mit ihren Filmen, Romanen, Computerspielen und Mittelalter-Märkten lediglich unterhalten und möglichst gute Umsätze generieren will, gibt es auch eine Vielzahl politisch interessierter Bezugnahmen auf ›Germanen‹ und ›Wikinger‹ mit eindeutig völkischer Emphase: Rechtsrock- wie NS-Black-Metal-Bands, extrem rechte Liedermacher wie ›identitäre‹ Kulturkämpfer, die sich ganz ähnlicher nostalgischer Entwürfe einer Vergangenheit bedienen, die es so nie gegeben hat, diese aber dennoch zur Erklärung politischer Konstellationen des 21. Jahrhunderts heranziehen. Dieser Art vergewissern sie sich ihrer selbst und ihrer ›eigenen‹ Kultur, die stets essentialistisch zur Unterscheidung von anderen – anders-›artigen‹ oder feindlichen – Kulturgemeinschaften dient, um die eigene Überlegenheit nachzuweisen und sich über hypertrophe und kriegerische (v.a. Männlichkeits-) Ideale der eigenen Stärke zu versichern.[3]
Rudolf Simek hat über das vielen dieser Darstellungen zugrundeliegende Wissen bemerkt, dass man
»mit Recht behaupten [kann], dass der Stand der Kenntnisse der germanischen Religion und Mythologie in der rechten Szene bestenfalls dem der populären Handbücher vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts entspricht und eine Weiterentwicklung oder weitere Information nicht stattgefunden hat, wobei überraschenderweise nicht einmal die deutschsprachige Literatur der 30er- und 40er-Jahre vorausgesetzt werden kann.«[4]
Simeks Einschätzung ist für die Buchgelehrten in den (durchaus heterogenen) extrem rechten Szeneverbünden gewiss zutreffend. Ein solcher Rückfall in die überholt geglaubten Vorstellungswelten des germanisch-germanistischen Unwesens ist ohne die Digitalisierung nicht zu denken, deren ›dunkle Seiten‹ einen immer stärkeren Beitrag leisten. Denn es sind eben nicht nur big data, redliche wissenschaftliche Editionen und Open-Access-Publikationen, die mit dem Erlöschen von Urheberrechten zunehmend zugänglich werden, sondern auch und zwar überwiegend ›ungerahmte‹, nicht eingeleitete und nicht kommentierte Texte überholter Wissensstände. Viele der eher mäßigen bis unterdurchschnittlichen Seminar- und Bachelorarbeiten bedienen sich bei dem, was Google auf Seite eins anbietet, oder was Dank dominanter Versandanbieter günstig erworben werden kann. Hier kehren viele emphatisch gezeichnete Germanen-Bilder scheinbar egalitär wieder, die sich aus dem speisen, was billige Reprints[5] sowie die gigantischen Bestände, die Google Books und andere, noch weniger institutionell gehegte, Online-Archive bereitstellen.
Symptomatisch scheinen an diesen Textbeständen Schattenseiten der Digitalisierung auf; als das, was Hans Ulrich Gumbrecht »breite Gegenwart« genannt hat, in der es »nicht mehr gelingt, irgendeine Vergangenheit hinter uns zu lassen«. Denn »statt ihre Verbindung mit der Gegenwart als Orientierungswert zu verlieren, überschwemmen Vergangenheiten unsere Gegenwart, wobei die Perfektion elektronischer Gedächtnisleistungen eine zentrale Rolle spielt«[6]. Ob wir wollen oder nicht: Nahezu alle historischen Bestände sind zugleich und überall verfügbar (und alle den gleichen Mausklick weit entfernt) – und das ist vor allem dort problematisch, wo es um die Expertise schlecht bestellt ist, wo das Wissen um Historie, Theorien und Methoden zumeist fehlt oder nur selektiv ausgebildet ist, und wo im Zweifelsfall (welcher der Normalfall zu sein scheint) Fakten zugunsten von Wunschbefriedigung aufgegeben werden.
Ein anderer, in seiner Breitenwirkung schwer zu fassender Einfluss ist die populäre Vermittlung von Bildern durch Filme, Serien und Romane, die zwar auf gesicherte Wissensbestände rekurrieren, in ihren Aneignungspraktiken aber selektiv verfahren. Zudem spielen Internetforen, Facebook-Seiten und -gruppen eine zunehmend große Rolle in der ,Wissens-‹ bzw. Vorstellungsvermittlung. Viele dieser Onlineangebote stellen ihre bricolage-artig zusammengebastelten Inhalte zum Teil offen aus[7], die – wie Likes und Kommentare bestätigen – nicht nur eine (gegenüber wissenschaftlichen Veröffentlichungen) vergleichsweise hohe Resonanz erfahren, sondern auch bei vielen Besucher- bzw. NutzerInnen unterschiedslos in die Vorstellungen von der Vergangenheit der ›eigenen‹ Kultur eingehen. Der Schauspieler Travis Fimmel (»Vikings«) beglaubigt die Existenz Ragnar Loðbróks in der gleichen Weise, wie die von Maisie Williams dargestellte Arya Stark (»Game of Thrones«) eine glaubwürdige Kindheit im ›Mittelalter‹ verkörpert.
Die Interessen, ›Wikinger‹ und ›Germanen‹ auf Social-Media-Plattformen zu zeigen – und sie überhaupt erst als Kollektivsubjekte zu konstruieren –, mögen divers sein; wissenschaftlich haltbaren Darstellungen haben sie indes immer etwas voraus. Sie sind bunter und sinnlicher; und weil sie sich nur bedingt für Faktentreue interessieren, auch lückenlos. Nahezu alle SeitenbetreiberInnen und KommentatorInnen ›wissen‹, wer ihre germanischen Vorfahren waren und wie deren Kultur, Gebräuche und ›Geistesart‹ bestimmt waren.[8] In dieser Lückenlosigkeit kommen sie einem Bedürfnis nach historischer Rückversicherung weit mehr entgegen als das, was Wissenschaft (unabhängig von ihrem disziplinären Zuschnitt) zu bieten hat, weil auf die immer wieder kontrovers diskutierten Fragen, wer ›die‹ Germanen und was Wikinger seien, keine leicht adaptierbaren Definitionen und Bilder folgen können.
Daraus ließe sich ein Dilemma folgern: Weil die Wissenschaft zu wenig Bilder produziert, tun es andere. Dieses Auseinanderfallen von exklusiver wissenschaftlicher Community und Öffentlichkeit ist bereits in Johann Gottfried Herders Auseinandersetzung mit dem Philologen Friedrich David Gräter Ende des 18. Jahrhunderts festzustellen. Herder resümiert, dass dieser sich für seine Editionen skandinavischer Dichtungen des Mittelalters und »ihre Bekanntmachung eine unsägliche, bisher unbelohnte Mühe« gebe. Und er fragt weiter: »[…] wäre es eine Entweihung der Kunst, wenn er eine kleine nordische Mythologie mit Kupferstichen schriebe?«[9] Die reine textförmige Wissensvermittlung taugte demnach in der Einschätzung Herders (wie heute) nur für wenige – hingegen ermöglicht die Popularisierung durch ›Versinnlichung‹ in Form bildlicher Darstellungen die Adressierung größerer Publika (und bereits Herder erhoffte sich deren Inklusion). Die zugrundeliegenden eklektizistischen Adaptionsformen sind bei Herder ebenso (»wir nehmen das, was für uns dient, wo wir’s finden«[10]) antizipiert wie die »Wirkung auf das Leben«, mit der Herder seinen Iduna-Essay beschließt. Andere Fachwissenschaftler sind diesem Prinzip gefolgt: Andreas Heusler hat seinen ›Urväterhort‹, eine Sammlung von Heldensagen, mit Illustrationen von Max Koch herausgegeben, von denen er sich eine spezifische Wirkung erhoffte: »Beim Durchwandern dieser Bilderreihe möge der Sagenfreund einen frischen Hauch aus der Heldenjugend unseres Volkes verspüren.«[11] Die seit Hegel geforderte Integration der germanischen Heldensage in ein nationales Bildungsprogramm führt im 19. Jahrhundert zur bildlichen Präsenz des Nibelungenliedes in Schul- und Jugendbüchern, Denkmälern usw.: »[K]eine andere Dichtung der Weltliteratur ist in diesen Jahrzehnten nach 1800 so oft zum Gegenstand bildlicher Darstellungen geworden, auch Ossian nicht. Nur die Bibel lässt sich zum Vergleich heranziehen.«[12] Das hier generierte ›Bilderwissen‹ des 19. Jahrhunderts ist im populären Diskurs immer noch überraschend aktuell.
Dass im populären Diskurs fachwissenschaftliche Zusammenhänge verallgemeinert werden, ist selbstverständlich. Im Blick auf das Germanen-Thema ist dies aber nicht trivial, weil sich seit den 2000er Jahren beobachten lässt, dass die extreme Rechte den Schwerpunkt ihrer Erinnerungskultur aus der Zeitgeschichte ins frühe Mittelalter verlagert und dabei dem Germanen-Narrativ mitsamt unterlegtem »Nordismus« neue Geltung verschafft. Das mag einerseits damit zu tun haben, dass die Leugnung des Holocaust als zentrale ›Gegenerzählung‹ nach der intensiven Aufarbeitung seit den 1980er Jahren selbst am rechten Rand an Überzeugungskraft verloren hat.[13] Es wird ferner damit zusammenhängen, dass das frühe Mittelalter – wie gesagt – als Projektionsfläche relativ flexibel ist: Auf der Suche nach den sogenannten Ursprüngen gehen Interessengemeinschaften wie die Lüneburger Artgemeinschaft auf die Suche nach Symbolen und Traditionen, die fortan als Bestandteil der eigenen, pseudo-germanischen Kultur gelten sollen.[14] Weiterhin ist die germanische Basiserzählung für die extreme Rechte so attraktiv, gerade weil sie in der öffentlichen Diskussion nach wie vor als im Großen und Ganzen bekannt und akzeptiert gelten kann. Indem sie diese Herkunftserzählung aufgreift, bleibt sie nahe am gesellschaftlichen Konsens – anders als mit der Zeitgeschichte.
Dies lässt sich an einem populärwissenschaftlichen Beispiel verdeutlichen. Das Heft »Germanen und Wikinger« in der Reihe »Geo Epoche Kollektion« enthält in den einzelnen Kapiteln und noch in der abschließenden Zeitleiste »Daten und Fakten« eine Vielzahl differenzierender, die aktuelle Forschung aufgreifender Erklärungen.[15] Das erste Kapitel aber mit dem Titel »Magie einer fernen Zeit« arbeitet in seinen Abbildungen, die allesamt unnatürlich beleuchtete Räume und Relikte »der Germanen« zeigen, mit suggestiven Mitteln. Die erläuternden Texte sind teilweise plakativ, wenn zum Untertitel »Erben einer uralten Zivilisation« behauptet wird, die entstehende germanische Kultur gründe auf »Riten ihrer Vorfahren«.[16] Diese Aussage ist wenig spezifisch, und sie unterstellt eine eben doch eigene und geradezu urtümliche Kontinuität, die sich nicht beweisen lässt und die Einflüsse gleichzeitiger Kulturen, etwa der Römer oder Kelten, ausblendet. Im selben Kapitel wird der – angesichts des Hefttitels wohl notwendige – Brückenschlag zu den Wikingern hergestellt, indem diese nun wiederum als »Nachfolger der Germanen im Norden«[17] ausgegeben werden. Hier werden in aller Kürze Kontinuitätslinien angedeutet, die ihre Entsprechung im Germanenmythos des 19. Jahrhunderts finden, der seinerseits von der Forschung längst dekonstruiert worden ist.[18]
Denn die Forschung zum frühen Mittelalter hat in einer Reihe von Arbeiten zur Ethnogenese nachgewiesen, dass die vielen Ethnien in Nord- und Mitteleuropa sich selbst nicht als Germanen bezeichnet oder als Einheit wahrgenommen haben, dass sich archäologische Befunde nicht zuverlässig ethnisch deuten lassen, ja dass von den Römern als ›Germanen‹ bezeichnete Ethnien nicht notwendig eine germanische Sprache gesprochen haben müssen. Ferner darf der Einfluss der römischen Kultur auf Sprache, Sachkultur, Institutionen und Namen auf das Gebiet auch jenseits des Limes nicht unterschätzt werden. Was die römischen Geschichtsschreiber über ihre nördlichen Nachbarn äußern, sind vielfach Stereotype, die auch zur Beschreibung anderer Ethnien zur Anwendung kommen, und verdankt sich gerade in der Akzentuierung positiver Eigenschaften vielfach dem Versuch, der eigenen römischen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten.[19] Das heißt: Die Forschung hat die Leitidee von ›den Germanen‹ längst verabschiedet – im Sinne einer in Mittel- und Nordeuropa im frühen Mittelalter traditionell ansässigen, in sprachlicher, ethnischer, politischer und kultureller Hinsicht als homogen anzusprechenden Gemeinschaft, in deren Kontinuität sich die Nation ausgebildet habe.[20]
Aus dem Blickwinkel der Forschung ist die Zählebigkeit des Germanen-Mythos daher erstaunlich und erfordert immer neu die Suche nach Begründungen. Sicherlich ist die Behauptung, nun einmal irgendwie auch von den sogenannten Germanen abzustammen, eine ›simple story‹ im Vergleich zur Darstellung der – nach Hans-Werner Goetz – ›Vielfalt gleichzeitiger Ethnogenesen‹ im Europa des frühen Mittelalters.[21] Doch Komplexitätsreduktion ist nicht die einzige Begründung für die Hartnäckigkeit; oft ist die Reaktivierung des Germanenmythos mit politischen Interessen verknüpft. So erklärt der Klappentext zum vorgeblichen Nachdruck »Das Erbe der Ahnen. Germanische Feste und Bräuche im Jahresring« aus dem Jahr 2011, dass man mit der erneuten Auflage eines erstmals 1941 erschienenen Textes einem im öffentlichen Diskurs nach 1945 als »nicht mehr opportun«[22] angesehenen Interesse an der eigenen Geschichte und Kultur nachkomme. Die jahrzehntelangen fachwissenschaftlichen Diskussionen über Zuständigkeiten, Inhalte und Stellenwert einer Erforschung des europäischen Frühmittelalters, wie sie in den Bänden des »Reallexikons für Germanische Altertumskunde« dokumentiert sind,[23] ignorierend, wird die Germanenfiktion erneut als ›eigentliche‹ Geschichte ausgegeben, mit der man sich aufgrund von Diskurserwartungen nicht mehr habe beschäftigen dürfen.
In der extremen Rechten ist die Herkunftserzählung von den ›Germanen‹ mitsamt der Vereinnahmung altnordischer Mythologie integraler Bestandteil der dort propagierten Erinnerungskultur und also eminent politisch motiviert. Um zu erkennen, dass dieses Basisnarrativ nicht etwa aus Gründen der Unterhaltung oder basalen Information, sondern zum Zweck der ideologischen Sinnstiftung erzählt und um nationalchauvinistische Gesichtspunkte wie bspw. Rassedenken und Antisemitismus ergänzt wird, muss man ganz genau lesen; und diese Camouflage ist mitunter Teil der von der Rechten verfolgten Strategie, wie sie auch in der Verwendung von Symbolen und Runen zu beobachten ist. Auch deren Botschaften sind oft nicht auf Anhieb zu durchschauen, wenn sie in einem ›Versteckspiel‹ zunehmend dynamisiert werden.[24] Neben diesen eher verdeckten Botschaften sind aber auch zunehmend offen zur Schau getragene faschistische Zeichen zu sehen: Im Schutz der ›simplen Geschichte‹ und einer um Authentizität bemühten Living History können einzelne TeilnehmerInnen von Mittelaltermärkten oder Wikingertagen solche Zeichen als ›historisch‹ ausgeben.[25] Weil solche Veranstaltungen insgesamt als ›unpolitisch‹ gelten, wird diesen Inszenierungen nicht konsequent widersprochen,[26] und Soziologen begründen dies auch mit fehlenden Analysen der aktuellen Germanenrezeption und daher mangelnder Ausbildung: [27] In Präventionseinrichtungen könne man mit der Geschichte des Nationalsozialismus argumentieren – wenn aber die sogenannten Germanen von extrem rechten Gruppierungen als Urahnen beansprucht würden, sei man argumentativ weitgehend hilflos.
Auch wenn Politikwissenschaft, Soziologie und Soziolinguistik die Erfassung und Deutung dieser Phänomene eines ›neuen Nationalismus‹ intensiv diskutieren,[28] stellt sich die Frage, ob die Popularität der sogenannten Germanen auch damit zusammenhängt, dass das frühe Mittelalter in der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte vernachlässigt worden ist. In den schulischen Curricula hat es keinen sicheren Ort[29] und die Folgefächer der Germanischen Altertumskunde stehen nicht im Zentrum aktueller universitärer Planungen.[30] Wenn aber kein Lehrstuhl mehr z.B. die Runologie mit abdeckt, erwächst aus der Preisgabe des wissenschaftlich fundierten Zugriffs auf die frühe symbolische Schriftform ein kulturelles Risiko.
Angesichts des gegenwärtigen Germanen-Hypes wird man sich in den Fachdisziplinen nicht darauf zurückziehen können, dass in Sachen Germanenmythos längst alles gesagt sei, sondern Strategien überdenken und erproben müssen, wie man in Zeiten des digitalen Wandels auf die breite und vielgestaltige Beanspruchung des eigenen Zuständigkeitsbereichs in den populären Medien reagiert. Jedenfalls aber wäre vonseiten der Wissenschaft der Forderung Herwig Wolframs immer wieder neu nachzukommen, »eine glaubwürdige, weil methodisch fundierte und zugleich zeitgemäße Geschichte von Völkern [zu] erzählen, die sich zwar selbst nie Germanen nannten, aber dennoch bloß als solche das Interesse unserer Zeit erwecken«[31].
[1] Um der Annahme eines homogenen Volks oder einer primär kriegerischen Kulturgemeinschaft zu widersprechen, verwenden wir den Terminus aufgrund seiner performativen Beschaffenheit hier in Anführungszeichen. Wikinger ist nach altisländsich víkingr nur derjenige, der als Seeräuber aktiv ist. Das betrifft weder alle Angehörigen eines Volkes, Stammes oder einer Sippe im frühmittelalterlichen Nordeuropa, sondern ist eben durch die performative Bestimmung auch für Personen und Gruppierungen aus anderen Regionen verwendet worden. Vgl. Krüger, Jana: »Wikinger« im Mittelalter. Die Rezeption von ›víkingr‹ m. und ›víking‹ f. in der altnordischen Literatur, Berlin 2008.
[2] Zur Problematik – nicht nur, aber auch, des Kollektivsingulars – der Germanen vgl. Andersson, Thorsten et al.: Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, in: Beck, Heinrich (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 11, Berlin 1998, S. 181–438.
[3] Vgl. Penke, Niels/Teichert, Matthias: Die Geburt der Germanomanie aus dem (Un-)Geist des Antisemitismus. Eine Art Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Zwischen Germanomanie und Antisemitismus. Transformationen altnordischer Mythologie in den Metal-Subkulturen, Baden-Baden 2016, S. 9–37.
[4] Simek, Rudolf: Germanische Mythologie. Forschungsstand und aktuelle Rezeption am Beispiel der rechten Szene, in: Gallé, Volker (Hrsg.): Germanische Mythologie und Rechtsextremismus – Missbrauch einer anderen Welt. Tagung der Nibelungenlied-Gesellschaft Worms, Worms 2015, S. 33–44, hier S. 43.
[5] Vgl. die folgenden Nachdrucke: Das Erbe der Ahnen. Germanische Feste und Bräuche im Jahresring, hrsg. v. Arbeitskreis Deutsche Mythologie, angeblich zuerst 1941, Nachdruck Kiel 2011. Schulz, Walther: Germanische Vorzeit. Familie – Staat – Gesellschaft, zuerst Leipzig 1925, Neuauflage Kiel 2012; Blachetta, Walter: Lerne Runen kennen! Kleine Runenfibel mit 65 Zeichen und Zeichnungen. Überarbeitete Neuaufl. nach dem Original 1941, Oberhausen 2014; Blachetta, Walter: Das Buch der deutschen Sinnzeichen, zuerst 1941, Nachdruck Kiel 2010; Kossina, Gustaf: Altgermanische Kulturhöhe. Eine Einführung in die Deutsche Vor- und Frühgeschichte, zuerst Jena 1919, Neuauflage Kiel 2011.
[6] Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010, S. 16.
[7] »Germanen – Krieger des Nordens« ist nach Eigenbeschreibung eine Seite, auf der es um »Mittelalter, Fantasy, Ritter, Wikinger, Kelten, Germanen, Elben, Zwerge usw.« geht. Vgl. https://www.facebook.com/kriegerdesnordens/about/?ref=page_internal [eingesehen am 01.03.2018].
[8] Vgl. die Facebook-Seiten »Germanen-Magazin«, »Heiden-Kelten-Druiden-Wikinger-Germanen-Hexen-Wicca-Paganismus-Mittelalter«, »Runen & Germanen/Nordmänner«, »Odins Raben«, »Midgards Wölfe« u.a. [eingesehen am 01.03.2018].
[9] Herder, Johann Gottfried: Iduna oder der Apfel der Verjüngung, in: ders: Schriften zu Literatur und Philosophie: 1792–1800. (= Werke, Bd. 8), hrsg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt a.M. 1998, S. 155–172, hier S. 161.
[10] Ebd., S. 164.
[11] Heusler, Andreas/Koch, Max: Urväterhort. Die Heldensagen der Germanen, Berlin 1904, S. 8.
[12] Lankheit, Klaus: Nibelungen-Illustration der Romantik. Zur Säkularisierung christlicher Bildformen im 19. Jahrhundert, in: Heinzle, Joachim/Waldschmidt, Anneliese (Hrsg.): Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1991, S. 193–218.
[13] Botsch, Gideon: Fiktionen gegen Fakten. Zum Umgang der extremen Rechten mit Geschichte, in: Killguss, Hans-Peter/Langebach, Martin (Hrsg.): »Opa war in Ordnung!« Erinnerungspolitik der extremen Rechten. Beiträge und Materialien, Köln 2016, S. 52–65.
[14] Banghard, Karl/Raabe, Jan: Die Germanen als geschichtspolitisches Konstrukt der extremen Rechten, in: Killguss, Hans-Peter und Langebach, Martin (Hrsg.): »Opa war in Ordnung!« Erinnerungspolitik der extremen Rechten, Köln 2016, S. 130–143, hier S. 131: »Während sich auf zeithistorischen geschichtspolitischen Feldern – etwa bei der Leugnung des Holocaust – schnell massive Widerstände gegenüber extrem rechten Deutungsversuchen einstellen, öffnen sich beim Thema Vorgeschichte strategisch bedeutsame Bewegungsspielräume.«
[15] Geo Epoche Kollektion, Nr. 6: Germanen und Wikinger 2017.
[16] Ebd., S. 15.
[17] Ebd., S. 18.
[18] Seeba, Hinrich C.: Nationalbücher. Zur Kanonisierung nationaler Bildungsmuster in der frühen Germanistik, in: Fohrmann, Jürgen/Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991, S. 57–71; See, Klaus v.: »Blond und blauäugig«. Der Germane als literarische und ideologische Fiktion, in: Bönnen, Gerold/Gallé, Volker (Hrsg.): Ein Lied von gestern? Wormser Symposium zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes, Worms 1999 (= Der Wormsgau, Beiheft 35), S. 105–139.
[19] Vgl. Wolfram, Herwig: Wie schreibt man heute ein Germanenbuch?, in: Becher, Matthias/Dick, Stefanie (Hrsg.): Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter, München 2010 (= MittelalterStudien 22), S. 15–43; vgl. auch Andersson et al.; Haubrichs, Wolfgang: Theodiscus, Deutsch und Germanisch – drei Ethnonyme, drei Forschungsbegriffe. Zur Frage der Instrumentalisierung und Wertbesetzung deutscher Sprach- und Volksbezeichnungen, in: Beck, Heinrich/Geuenich, Dieter/Steuer, Heiko/Hakelberg, Dietrich (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung ›germanisch-deutsch‹: Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Internationale Tagung Freiburg 1.–3.12.2000, Berlin 2004 (RGA-E 34), S. 199–228.
[20] Vgl. Ehlers, Joachim: Erfundene Traditionen? Zum Verhältnis von Nationsbildung und Ethnogenese im deutschen und französischen Mittelalter, in: Beck, Heinrich/Geuenich, Dieter/Steuer, Heiko/Hakelberg, Dietrich (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung ›germanisch-deutsch‹: Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Internationale Tagung Freiburg 1.–3.12.2000. Berlin 2004 (RGA-E 34), S. 131–162.
[21] Goetz, Hans-Werner: Gentes et linguae. Völker und Sprachen im ostfränkisch-deutschen Reich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen, in: Haubrichs, Wolfgang (Hrsg.): Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters, Berlin/New York 2000 (RGA-E 22), S. 290–312; vgl. auch ders.: Die ›deutschen Stämme‹ als Forschungsproblem, in: Beck, Heinrich/Geuenich, Dieter/Steuer, Heiko/Hakelberg, Dietrich (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung ›germanisch – deutsch‹. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin/New York 2004 (RGA-E 34), S. 229–253.
[22] Vgl. den vollständigen Klappentext: Arbeitskreis Deutsche Mythologie (Hrsg.): Das Erbe der Ahnen. Germanische Feste und Bräuche im Jahresring, Kiel 2011: »Wer kennt sie noch? Nach 1945 scheint es in Deutschland nicht mehr opportun, die Deutschen mit dem Erbe ihrer Ahnen bekanntzumachen. Doch ein Volk ohne Wissen über seine Herkunft ist orientierungslos. Der Arbeitskreis Deutsche Mythologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, alte Weisheit dem vergessen zu entreißen. Diese Schrift, 1941 erstmals erschienen, führt weit und tief zurück in das Bewußtsein unserer nordeuropäischen Vorfahren. Woran glaubten sie? Welche Botschaft haben sie uns hinterlassen? Hinter dieser Schrift steht wissenschaftliche Erkenntnis über die Wurzeln eines Brauchtums, das in erheblichem Umfang immer noch fortwirkt.« Vgl. zum Vorwurf rechtsextremer Gruppierungen, durch Anforderungen an die political correctness seien national verstandene Inhalte unterdrückt worden, auch Sturm, Michael: Schicksal – Heldentum – Opfergang. Der Gebrauch von Geschichte durch die extreme Rechte, in: Langebach, Martin/Sturm, Michael (Hrsg.): Erinnerungsorte der extremen Rechten, Wiesbaden 2015, S. 17–60, hier S. 27.
[23] Jankuhn, Herbert/Beck, Heinrich et al. (Hrsg.): Reallexikon für Germanische Altertumskunde, 35 Bde., Berlin [u.a] 1968–2007.
[24] Vgl. den Titel der gleichnamigen Broschüre der Agentur für soziale Perspektiven: Agentur für soziale Perspektiven: Versteckspiel – Lifestyle, Symbole & Codes von Neonazis und extrem Rechten, 14. Aufl., Berlin 2017.
[25] Vgl. Archäologisches Freilichtmuseum Oerlinghausen (Hrsg.): Germanen und der rechte Rand. Nazis im Wolfspelz, Bielefeld 2017.
[26] Vgl. die Diskussion im Anschluss an die Wikingertage in Schleswig, auf denen ein Darsteller mit einem achtspeichigen Hakenkreuzmotiv auf seinem Schild kämpfte, u.a. auf der Tagung »Odin mit uns!«. Fachtagung zu Wikingerkult und Rechtsextremismus vom 9.–10. Oktober 2017 in der Akademie Sankelmark. Vgl. auch die Website: www.Wikingerkult-und-Rechtsextremismus.de.
[27] Vgl. Banghard/Raabe, S. 133.
[28] Vgl. hier vor allem die Beiträge von Schuppener, Georg: Rechtsextreme Aneignung und Instrumentalisierung germanischer Mythologie, in: Gallé, Volker (Hrsg.): Germanische Mythologie und Rechtsextremismus – Missbrauch einer anderen Welt. Tagung der Nibelungenlied-Gesellschaft Worms, Worms 2015, S. 21–31; ders.: Spuren germanischer Mythologie in der deutschen Sprache. Namen, Phraseologismen und aktueller Rechtsextremismus, Berlin 2007; ders.: Sprache des Rechtsextremismus. Spezifika der Sprache rechtsextremistischer Publikationen und rechter Musik, Leipzig 2010; vgl. auch Dücker, Burckhard: Zum Traditionsrahmen aktueller Symbole und Rituale rechtsextremer Formationen, in: Gallé, Volker (Hrsg.): Germanische Mythologie und Rechtsextremismus – Missbrauch einer anderen Welt. Tagung der Nibelungenlied-Gesellschaft Worms, Worms 2015, S. 45–65; Vogel Campanello, Margot: Männlichkeit und Nationalismus. Deutungen der Selbstdarstellung rechtsorientierter junger Erwachsener, Zürich 2015; Salzborn, Samuel: Extremismus und Geschichtspolitik, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte, Bd. 2 (2011), S. 13–25.
[29] Zur fehlenden Verankerung des Frühmittelalters und seiner Deutungstradition im schulischen Curriculum vgl. auch Müller, Fabian: Den Missbrauch der Mythologie bekämpfen – Erste Ansätze für eine wirksame Präventionsarbeit, in: Gallé, Volker (Hrsg.): Germanische Mythologie und Rechtsextremismus – Missbrauch einer anderen Welt. Tagung der Nibelungenlied-Gesellschaft Worms, Worms 2015, S. 139–144, hier S. 139 f.
[30] Vgl. Sahm, Heike: ›Die ich rief, die Geister …‹. Kurzes Plädoyer für eine interdisziplinär integrierte Frühmittelaltergermanistik, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 47 (2017), S. 155–165.
[31] Wolfram, S. 43.