Die sogenannten GermanenFragen zum Umgang mit einem Faszinosum
Wikinger begegnen uns auf Netflix, nordische Götter in Comics und Fantasyromanen, bei Pagan und Viking Metal-Bands auf YouTube und auf T-Shirts in der Fußgängerzone. Angesichts dieser medialen Allgegenwart von ›Wikingern‹[1] und ›Germanen‹[2] erscheint die Frage, ob das Mittelalter überhaupt jemals aufgehört hat, geradezu sekundär – denn primäres Faktum ist, dass es niemals mehr Repräsentationen von Wikingern und Schildmaiden – sowie Menschen, die sich als ihre modernen Nachfahren fühlen und sich auf Instagram als solche inszenieren – gegeben hat als heute; nie haben mehr Menschen Odin und Thor in ihren Köpfen oder als Schmuckstücke mit sich herumgetragen. Diese Situation ist das Produkt einer Popularisierungsleistung, die sich weit weniger historischer Forschung und der Verbreitung entsprechender Wissensbestände verdankt als unterhaltungsmedialer Vermittlung.
Doch neben einer Industrie, die mit ihren Filmen, Romanen, Computerspielen und Mittelalter-Märkten lediglich unterhalten und möglichst gute Umsätze generieren will, gibt es auch eine Vielzahl politisch interessierter Bezugnahmen auf ›Germanen‹ und ›Wikinger‹ mit eindeutig völkischer Emphase: Rechtsrock- wie NS-Black-Metal-Bands, extrem rechte Liedermacher wie ›identitäre‹ Kulturkämpfer, die sich ganz ähnlicher nostalgischer Entwürfe einer Vergangenheit bedienen, die es so nie gegeben hat, diese aber dennoch zur Erklärung politischer Konstellationen des 21. Jahrhunderts heranziehen. Dieser Art vergewissern sie sich ihrer selbst und ihrer ›eigenen‹ Kultur, die stets essentialistisch zur Unterscheidung von anderen – anders-›artigen‹ oder feindlichen – Kulturgemeinschaften dient, um die eigene Überlegenheit nachzuweisen und sich über hypertrophe und kriegerische (v.a. Männlichkeits-) Ideale der eigenen Stärke zu versichern.[3]
Rudolf Simek hat über das vielen dieser Darstellungen zugrundeliegende Wissen bemerkt, dass man
»mit Recht behaupten [kann], dass der Stand der Kenntnisse der germanischen Religion und Mythologie in der rechten Szene bestenfalls dem der populären Handbücher vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts entspricht und eine Weiterentwicklung oder weitere Information nicht stattgefunden hat, wobei überraschenderweise nicht einmal die deutschsprachige Literatur der 30er- und 40er-Jahre vorausgesetzt werden kann.«[4]
Simeks Einschätzung ist für die Buchgelehrten in den (durchaus heterogenen) extrem rechten Szeneverbünden gewiss zutreffend. Ein solcher Rückfall in die überholt geglaubten Vorstellungswelten des germanisch-germanistischen Unwesens ist ohne die Digitalisierung nicht zu denken, deren ›dunkle Seiten‹ einen immer stärkeren Beitrag leisten. Denn es sind eben nicht nur big data, redliche wissenschaftliche Editionen und Open-Access-Publikationen, die mit dem Erlöschen von Urheberrechten zunehmend zugänglich werden, sondern auch und zwar überwiegend ›ungerahmte‹, nicht eingeleitete und nicht kommentierte Texte überholter Wissensstände. Viele der eher mäßigen bis unterdurchschnittlichen Seminar- und Bachelorarbeiten bedienen sich bei dem, was Google auf Seite eins anbietet, oder was Dank dominanter Versandanbieter günstig erworben werden kann. Hier kehren viele emphatisch gezeichnete Germanen-Bilder scheinbar egalitär wieder, die sich aus dem speisen, was billige Reprints[5] sowie die gigantischen Bestände, die Google Books und andere, noch weniger institutionell gehegte, Online-Archive bereitstellen.
Symptomatisch scheinen an diesen Textbeständen Schattenseiten der Digitalisierung auf; als das, was Hans Ulrich Gumbrecht »breite Gegenwart« genannt hat, in der es »nicht mehr gelingt, irgendeine Vergangenheit hinter uns zu lassen«. Denn »statt ihre Verbindung mit der Gegenwart als Orientierungswert zu verlieren, überschwemmen Vergangenheiten unsere Gegenwart, wobei die Perfektion elektronischer Gedächtnisleistungen eine zentrale Rolle spielt«[6]. Ob wir wollen oder nicht: Nahezu alle historischen Bestände sind zugleich und überall verfügbar (und alle den gleichen Mausklick weit entfernt) – und das ist vor allem dort problematisch, wo es um die Expertise schlecht bestellt ist, wo das Wissen um Historie, Theorien und Methoden zumeist fehlt oder nur selektiv ausgebildet ist, und wo im Zweifelsfall (welcher der Normalfall zu sein scheint) Fakten zugunsten von Wunschbefriedigung aufgegeben werden.
Ein anderer, in seiner Breitenwirkung schwer zu fassender Einfluss ist die populäre Vermittlung von Bildern durch Filme, Serien und Romane, die zwar auf gesicherte Wissensbestände rekurrieren, in ihren Aneignungspraktiken aber selektiv verfahren. Zudem spielen Internetforen, Facebook-Seiten und -gruppen eine zunehmend große Rolle in der ,Wissens-‹ bzw. Vorstellungsvermittlung. Viele dieser Onlineangebote stellen ihre bricolage-artig zusammengebastelten Inhalte zum Teil offen aus[7], die – wie Likes und Kommentare bestätigen – nicht nur eine (gegenüber wissenschaftlichen Veröffentlichungen) vergleichsweise hohe Resonanz erfahren, sondern auch bei vielen Besucher- bzw. NutzerInnen unterschiedslos in die Vorstellungen von der Vergangenheit der ›eigenen‹ Kultur eingehen. Der Schauspieler Travis Fimmel (»Vikings«) beglaubigt die Existenz Ragnar Loðbróks in der gleichen Weise, wie die von Maisie Williams dargestellte Arya Stark (»Game of Thrones«) eine glaubwürdige Kindheit im ›Mittelalter‹ verkörpert.
Die Interessen, ›Wikinger‹ und ›Germanen‹ auf Social-Media-Plattformen zu zeigen – und sie überhaupt erst als Kollektivsubjekte zu konstruieren –, mögen divers sein; wissenschaftlich haltbaren Darstellungen haben sie indes immer etwas voraus. Sie sind bunter und sinnlicher; und weil sie sich nur bedingt für Faktentreue interessieren, auch lückenlos. Nahezu alle SeitenbetreiberInnen und KommentatorInnen ›wissen‹, wer ihre germanischen Vorfahren waren und wie deren Kultur, Gebräuche und ›Geistesart‹ bestimmt waren.[8] In dieser Lückenlosigkeit kommen sie einem Bedürfnis nach historischer Rückversicherung weit mehr entgegen als das, was Wissenschaft (unabhängig von ihrem disziplinären Zuschnitt) zu bieten hat, weil auf die immer wieder kontrovers diskutierten Fragen, wer ›die‹ Germanen und was Wikinger seien, keine leicht adaptierbaren Definitionen und Bilder folgen können.
Daraus ließe sich ein Dilemma folgern: Weil die Wissenschaft zu wenig Bilder produziert, tun es andere. Dieses Auseinanderfallen von exklusiver wissenschaftlicher Community und Öffentlichkeit ist bereits in Johann Gottfried Herders Auseinandersetzung mit dem Philologen Friedrich David Gräter Ende des 18. Jahrhunderts festzustellen. Herder resümiert, dass dieser sich für seine Editionen skandinavischer Dichtungen des Mittelalters und »ihre Bekanntmachung eine unsägliche, bisher unbelohnte Mühe« gebe. Und er fragt weiter: »[…] wäre es eine Entweihung der Kunst, wenn er eine kleine nordische Mythologie mit Kupferstichen schriebe?«[9] Die reine textförmige Wissensvermittlung taugte demnach in der Einschätzung Herders (wie heute) nur für wenige – hingegen ermöglicht die Popularisierung durch ›Versinnlichung‹ in Form bildlicher Darstellungen die Adressierung größerer Publika (und bereits Herder erhoffte sich deren Inklusion). Die zugrundeliegenden eklektizistischen Adaptionsformen sind bei Herder ebenso (»wir nehmen das, was für uns dient, wo wir’s finden«[10]) antizipiert wie die »Wirkung auf das Leben«, mit der Herder seinen Iduna-Essay beschließt. Andere Fachwissenschaftler sind diesem Prinzip gefolgt: Andreas Heusler hat seinen ›Urväterhort‹, eine Sammlung von Heldensagen, mit Illustrationen von Max Koch herausgegeben, von denen er sich eine spezifische Wirkung erhoffte: »Beim Durchwandern dieser Bilderreihe möge der Sagenfreund einen frischen Hauch aus der Heldenjugend unseres Volkes verspüren.«[11] Die seit Hegel geforderte Integration der germanischen Heldensage in ein nationales Bildungsprogramm führt im 19. Jahrhundert zur bildlichen Präsenz des Nibelungenliedes in Schul- und Jugendbüchern, Denkmälern usw.: »[K]eine andere Dichtung der Weltliteratur ist in diesen Jahrzehnten nach 1800 so oft zum Gegenstand bildlicher Darstellungen geworden, auch Ossian nicht. Nur die Bibel lässt sich zum Vergleich heranziehen.«[12] Das hier generierte ›Bilderwissen‹ des 19. Jahrhunderts ist im populären Diskurs immer noch überraschend aktuell.
Dass im populären Diskurs fachwissenschaftliche Zusammenhänge verallgemeinert werden, ist selbstverständlich. Im Blick auf das Germanen-Thema ist dies aber nicht trivial, weil sich seit den 2000er Jahren beobachten lässt, dass die extreme Rechte den Schwerpunkt ihrer Erinnerungskultur aus der Zeitgeschichte ins frühe Mittelalter verlagert und dabei dem Germanen-Narrativ mitsamt unterlegtem »Nordismus« neue Geltung verschafft. Das mag einerseits damit zu tun haben, dass die Leugnung des Holocaust als zentrale ›Gegenerzählung‹ nach der intensiven Aufarbeitung seit den 1980er Jahren selbst am rechten Rand an Überzeugungskraft verloren hat.[13] Es wird ferner damit zusammenhängen, dass das frühe Mittelalter – wie gesagt – als Projektionsfläche relativ flexibel ist: Auf der Suche nach den sogenannten Ursprüngen gehen Interessengemeinschaften wie die Lüneburger Artgemeinschaft auf die Suche nach Symbolen und Traditionen, die fortan als Bestandteil der eigenen, pseudo-germanischen Kultur gelten sollen.[14] Weiterhin ist die germanische Basiserzählung für die extreme Rechte so attraktiv, gerade weil sie in der öffentlichen Diskussion nach wie vor als im Großen und Ganzen bekannt und akzeptiert gelten kann. Indem sie diese Herkunftserzählung aufgreift, bleibt sie nahe am gesellschaftlichen Konsens – anders als mit der Zeitgeschichte.
Dies lässt sich an einem populärwissenschaftlichen Beispiel verdeutlichen. Das Heft »Germanen und Wikinger« in der Reihe »Geo Epoche Kollektion« enthält in den einzelnen Kapiteln und noch in der abschließenden Zeitleiste »Daten und Fakten« eine Vielzahl differenzierender, die aktuelle Forschung aufgreifender Erklärungen.[15] Das erste Kapitel aber mit dem Titel »Magie einer fernen Zeit« arbeitet in seinen Abbildungen, die allesamt unnatürlich beleuchtete Räume und Relikte »der Germanen« zeigen, mit suggestiven Mitteln. Die erläuternden Texte sind teilweise plakativ, wenn zum Untertitel »Erben einer uralten Zivilisation« behauptet wird, die entstehende germanische Kultur gründe auf »Riten ihrer Vorfahren«.[16] Diese Aussage ist wenig spezifisch, und sie unterstellt eine eben doch eigene und geradezu urtümliche Kontinuität, die sich nicht beweisen lässt und die Einflüsse gleichzeitiger Kulturen, etwa der Römer oder Kelten, ausblendet. Im selben Kapitel wird der – angesichts des Hefttitels wohl notwendige – Brückenschlag zu den Wikingern hergestellt, indem diese nun wiederum als »Nachfolger der Germanen im Norden«[17] ausgegeben werden. Hier werden in aller Kürze Kontinuitätslinien angedeutet, die ihre Entsprechung im Germanenmythos des 19. Jahrhunderts finden, der seinerseits von der Forschung längst dekonstruiert worden ist.[18]