Der flexible Normalismus der NachkriegszeitIm Spiegel der Geschichte des niedersächsischen Landesverfassungsschutzes
Die Rekonstruktion der Genese und Entwicklung zentraler Ministerien, Ämter und Institutionen der Bundesrepublik und der Länder erlebt spätestens seit dem umfangreichen Werk über die Vergangenheit des Auswärtigen Amtes[1] einen Boom. Doch gerade die nachgeordneten Sicherheitsbehörden und Ämter für Verfassungsschutz geraten erst nach und nach in den Blick. Zwar sind in den vergangenen 15 Jahren Studien zur Geschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz[2] sowie des Nordrhein-Westfälischen Verfassungsschutzes[3] erschienen, die sich auf von den jeweiligen Behörden zur Verfügung gestelltes Material stützen und die ersten Jahrzehnte des Wirkens der Ämter rekonstruieren; doch Studien zur Geschichte des Niedersächsischen Verfassungsschutzes stehen weiterhin aus.
In einem Teilprojekt im Rahmen von FoDEx soll dieses Forschungsdefizit bearbeitet werden. Grundlegend stellen sich zunächst folgende Fragen: Wer baute die Organisation in den 1950er Jahren auf? Wie funktionierte die parlamentarische Kontrolle auf Landesebene? Und schließlich: Welche Praktiken, gesellschaftlichen Problemwahrnehmungen sowie Leitlinien bildeten die Grundlage für die tägliche Arbeit der Verfassungsschutzmitarbeiter und wie wird dadurch der Blick auf die Nachkriegsgesellschaft geprägt? Die Rekonstruktion der organisationsgeschichtlichen Entwicklung des Niedersächsischen Verfassungsschutzes ist zur Beantwortung dieser Fragen jedoch nur ein erster Arbeitsschritt. Der Verfassungsschutz soll auch aus gesellschaftstheoretischer Perspektive als Wissensproduzent in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen untersucht werden. Hierfür sind es eher die Praktiken des »Alltagsgeschäfts«, die im Fokus der Untersuchung stehen. Wir möchten die Produktion von Problemgegenständen als Organisationspraxis untersuchen, d.h., uns geht es – erstens – um die Prämissen, unter denen gesellschaftliche Zusammenhänge, Gruppen, Parteien oder Personen in das Blickfeld des Verfassungsschutzes geraten; zweitens um die daraus resultierenden Praktiken und Klassifizierungen innerhalb der Behörde; und schließlich drittens um die sich daraus ergebenden Konsequenzen, wie bspw. Verbotsverfahren, Einsatz verdeckter Ermittler oder Berichte an die übergeordneten Behörden und Minister.
Aus organisationsgeschichtlicher Perspektive liegt der Schwerpunkt unserer Forschung auf der Entstehungs- und Etablierungsphase, von ca. 1949 bis 1960. Diese Phase ist für uns von besonderem Interesse, da hier wichtige Arbeitsstrukturen und -zusammenhänge entstehen, zudem personelle Entscheidungen gefällt werden, welche die Behörde für die kommenden Jahrzehnte prägen werden.
Zum anderen betrachten wir die Geschichte des Verfassungsschutzes aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive. Hier interessiert uns die Entwicklung von Praktiken, Sichtweisen und Problemverständnissen seitens des Verfassungsschutzes auch über den Zeitraum der Entstehungs- und Etablierungsphase hinaus. Die Entwicklung von Problematisierungsweisen und Praktiken im Rahmen der historischen Genese des Niedersächsischen Verfassungsschutzes sind insofern von gesellschaftstheoretischem Interesse, als sie unmittelbar auf die Debatten über Radikalismus, Extremismus und politische Militanz ihrer jeweiligen Zeit einwirken: Forschungsleitend ist die Hypothese, dass dem Verfassungsschutz und anderen politischen Sicherheitsstrukturen (politischen Polizeien und Staatsschutz, Nachrichtenpolizeien) aufgrund ihrer Informationslage sowie ihrer daraus resultierenden Positionierung gegenüber politischen Institutionen, Parteien und der Öffentlichkeit eine zentrale Rolle in Debatten über Gefahrenlagen für eine demokratische Gesellschaftsordnung zukommt. Daher möchten wir uns auch der Art und Weise widmen, wie diese Gefahrenlagen untersucht, begründet und damit auch produziert werden.
Die historisch zu kontextualisierende Klassifizierung bestimmter Gruppen, Positionen oder Verhaltensweisen als überwachungswürdig oder Verfassung, Gesellschaft und Demokratie gefährdend wird jedoch weniger innerhalb von öffentlichen Auseinandersetzungen oder formellen Darstellungen sichtbar als vielmehr im Rahmen der Alltagspraktiken der institutionellen Arbeit selbst. Anhand eines historischen Längsschnitts wollen wir diese alltägliche Produktion und Reproduktion der Außengrenzen des demokratischen »Normalbereichs«[4] im Zeitverlauf untersuchen. Die Spaltung zwischen Normalbereichen und ihrem »Außen« (Extremen, Radikalismen etc.) wird hierfür zunächst als ein Akt angesehen, der soziale und politische Räume definiert und erst durch die Spaltung dieser Räume die Konstitution von (temporärer) Normalität ermöglicht. Für eine solche Untersuchung möchten wir eine praxeologische Perspektive einnehmen und uns dabei insbesondere auf Archivmaterialien von Sicherheitsbehörden und Ministerien stützen, die im Niedersächsischen Landesarchiv einsehbar sind. Hierfür sollen, in Anlehnung an Didier Fassins Untersuchungen zur moralischen Ökonomie von Institutionen,[5] die moralischen und kulturellen Dimensionen der Entwicklung von institutionellen Handlungsweisen untersucht werden.
Um eine solche »Geschichte der Praktiken« zu erforschen, möchten wir zweiteilig vorgehen: Einerseits wollen wir alltagsweltliche Arbeitsformen (Problemempfinden und Problemlagen, Dokumentationsweisen und Routinen, Strategien sowie die Etablierung von Werten und Affekten, die das Ethos der Arbeit unterfüttern) untersuchen. Andererseits möchten wir die institutionelle politische Kultur insofern erforschen, als wir die Entstehung und Entwicklung der Institution im gesellschaftshistorischen Kontext analysieren. Denn wir vermuten, dass sich gerade im Zuge historischer Umbrüche nicht nur die Problemrezeption, sondern mit ihr zusammen auch Problematisierungsweisen, Begründungen und Legitimationen und nicht zuletzt die Arbeitsformen, also alle Komponenten bezüglich der Produktion von Normalbereichen, ändern. In der Zusammenführung dieser beiden Untersuchungsgegenstände – moralische Ökonomie und zeitgeschichtliche Organisationsentwicklung – soll die Kontingenz von politischer Normalität sichtbar werden.
[1] Siehe Conze, Eckart/Frei, Norbert/Hayes, Peter/Zimmermann, Moshe: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, unter Mitarbeit von Annette Weinke und Andrea Wiegeshoff, München 2010.
[2] Siehe Goschler, Constantin/Wala, Michael: »Keine neue Gestapo«. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek bei Hamburg 2015.
[3] Siehe Buschfort, Wolfgang: Geheime Hüter der Verfassung. Von der Düsseldorfer Informationsstelle zum ersten Verfassungsschutz der Bundesrepublik Deutschland (1947–1961), Paderborn u.a. 2004.
[4] Heim, Tino/Wöhrle, Patrick: Politische Grenzmarkierungen im flexiblen Normalismus, in: Ackermann, Jan et al.: Metamorphosen des Extremismusbegriffes. Diskursanalytische Untersuchungen zur Dynamik einer funktionalen Unzulänglichkeit, Wiesbaden 2015.
[5] Siehe Fassin Didier: »Les économies morales revisitées«, Annales. Histoire, Sciences Sociales, Jg. 64 (2009), H. 6, S. 1237–1266, URL : https://www.cairn.info/revue-annales-2009-6-page-1237.htm [eingesehen am 14.03.2019]; Ders.: La force de l’ordre. Une anthropologie de la police des quartiers, Montrouge 2011; Ders. et al.: At the Heart of the State, Chicago 2015.