Versuch und IrrtumDemokratie in aufgeregten Zeiten
Das Image der bürgerlichen Mitte ist aktuell ziemlich ramponiert. Zuletzt sorgte die Geburtstagsfeier des rechtsgewendeten früheren Spiegel- und Welt-Redakteurs Matthias Matussek für Aufregung, da zu dieser neben ausgewiesenen Rechtsaußen auch prominente Journalisten erschienen waren. Beispielhaft kritisierte der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, dass »die bürgerlichen Eliten […] für die Demokratie einstehen [sollten], anstatt an ihr zu sägen«[1].
Dazu passt, dass in der Neuauflage einer Studie, die das Sozialforschungsinstitut TNS Infratest 2006 unter dem Titel »Gesellschaft im Reformprozess« für die Friedrich-Ebert-Stiftung angefertigt hatte, die Autoren im letzten Jahr zu dem Ergebnis kamen, die Alternative für Deutschland (AfD) besitze eine Wählerhochburg nicht bloß im klassischen Unterschichtenmilieu des »abgehängten Prekariats«, sondern desgleichen in Gesellschaftssegmenten, die sich über das gesamte Mittespektrum erstreckten. Sowohl unter »konservativen Besitzstandswahrern« als auch unter »verunsicherten Leistungsindividualisten« und »missachteten Leistungsträgern« – in deren Benennungen schon zum Ausdruck kommt, dass Gefühle von Verunsicherung, Ohnmacht und Enttäuschung offenkundig nicht auf die objektiv Zukurzgekommenen beschränkt sind – wurden rechtspopulistische Wahlneigungen deutlich überdurchschnittlich bekundet.[2]
Schon zuvor hatten die sogenannten Leipziger Mitte-Studien seit 2002 in der unschönen Regelmäßigkeit eines zweijährlichen Rhythmus konstant bis weit in die gesellschaftliche Mitte hineinreichende chauvinistische und ausländerfeindliche Einstellungsmuster nachgewiesen.[3] Schließlich: Dass die eigentlich staatstragenden Kräfte in ihrer demokratischen Gesinnung zumindest nicht über Zweifel erhaben sind, zeigten erst jüngst Skandale wie die rechtsextremen Netzwerke in der Bundeswehr und an den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) angelehnte Drohbriefe aus Polizeikreisen.[4] Problematisch, ja regelrecht bedrohlich erscheinen dergleichen Entwicklungen und Manifestationen nun deshalb, da die Mitte nicht bloß eine beliebige soziale Schichtkategorie zwischen oben und unten ist, sondern von Sozialwissenschaftlern gerne als die stilbildende »Mehrheitsklasse«, als das Leitsegment unserer Gesellschaft beschrieben wird.
Der Konfliktsoziologe Dahrendorf
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, nachzulesen, was Ralf Dahrendorf zur Demokratie geschrieben hat, ein exponierter Vertreter der bürgerlichen Elite, der – 2009 verstorben – im Jahr 1967 der FDP beigetreten war – zu einer Zeit, als die kritische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik gerade erst einsetzte, in eine Partei, die damals noch einen starken rechten Flügel besaß und vom Ritterkreuzträger Erich Mende geführt wurde. Einerseits interessant, bei einem derart verkürzt schematischen Blick auf Person und parteipolitisches Umfeld andererseits ausgesprochen überraschend. Denn Dahrendorf vertritt zur Demokratie Positionen, wie sie heute kaum noch ein dezidierter Linker derart elaboriert postuliert.
Noch als alter Mann, mit über siebzig Jahren, bestimmte er die Demokratie zuvörderst über die Begrenzung der Machtausübung und die Kontrolle der Mächtigen. Die drei »Kernfragen« lauteten ihm zufolge, wie – erstens – Veränderung ohne Gewalt herbeigeführt werden kann; zweitens, wie sichergestellt werden kann, dass die Machthabenden ihre Macht nicht missbrauchen; und drittens, wie die Bürger an der Machtausübung beteiligt werden können. Die Antwort auf diese Fragen findet Dahrendorf in freien Wahlen, einem Parteienpluralismus, der Gewaltenteilung und auch im Grundgesetz. Dennoch sind für ihn auch im Jahr 2002 Demokratie und Rechtsstaat nicht deckungsgleich. So kann die Möglichkeit zur gewaltfreien Ablösung der Machthaber in Gesetzestexten niedergeschrieben sein, auch die Kontrolle der Macht lässt sich in unabhängigen Gerichten rechtsstaatlich fundieren. »Aber der Rechtsstaat«, so Dahrendorf, »sagt nicht viel darüber aus, wie dem ›demos‹ die Teilnahme am demokratischen Prozess garantiert werden soll.«[5]
Und ebendas ist letztlich das Entscheidende von Dahrendorfs Konzeption einer liberalen Demokratie oder liberalen Ordnung, die er auch als »Verfassung der Freiheit« bezeichnet: die aktive Bürgergesellschaft, die er vielleicht etwas überpointiert als einen Bereich definiert, in welchem »die freie Aktivität der Einzelnen keinen Einschränkungen unterliegt«[6], auf deren freie Entwicklung der Staat mithin einen allenfalls eingeschränkten Einfluss nehmen kann.
Deutlich pointierter noch kommen die konfliktsoziologischen Prämissen beim jungen Dahrendorf in seiner 1965 publizierten Schrift »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland«[7] zum Ausdruck. Die Demokratie insgesamt hänge der Argumentation dieses Textes zufolge ab von einer Einstellung zu Interessenkonflikten, die Meinungsunterschiede und Interessengegensätze als unvermeidlich sowie nicht dauerhaft und grundsätzlich auflösbar betrachtet, d.h., auf der Einsicht beruht, dass die Formen, in denen Konflikte ausgetragen werden, beeinflussbar sind, insofern Gewalt und Blutvergießen vermieden werden können. Die basale Ursache divergierender Bedürfnisse und Absichten könne demgegenüber nicht – und erst recht nicht ein für alle Mal – aufgehoben werden. »Liberale Demokratie ist Regierung durch Konflikt«[8]; in diesem Diktum verdichtet sich die Stoßrichtung der Dahrendorf’schen Analyse.
Diesbezüglich sieht Dahrendorf gerade in Deutschland – Stand 1965 – manchen Grund zu bitterer Klage. Im Unterschied etwa zu den angelsächsischen Ländern entdeckt er zwischen Flensburg und Konstanz einen autoritären Hang zu Harmonie und konfliktüberwölbender Synthese, die illiberale Sehnsucht nach endgültigen Lösungen für sämtliche Meinungsdivergenzen. Die Haltung der Deutschen zu Konflikten nennt er »verstellt«; er sieht sie fundiert in autoritären Familienstrukturen, mit einem dominanten Vater und als unmündig behandelten Frauen und Kindern, sowie der »deutschen Ideologie der Gemeinschaft«, die stickig-enge Bindungen gegenüber nüchternen, Konflikträume offenhaltenden Übereinkünften vorziehe.[9]
Auch andere zeitgenössische Kritiker der »restaurativen Republik« der 1950er und 1960er Jahre, wie bspw. Eugen Kogon, bemängelten den Immobilismus der westdeutschen Nachkriegsverhältnisse, die Denunziation jeglicher Opposition und Kritik, die – mit einem modischen Wort gesprochen – von den christdemokratischen Regierenden im Allgemeinen und dem Bundeskanzler Konrad Adenauer im Speziellen propagierte Alternativlosigkeit.[10] Eine solche Diagnose war sicherlich allenfalls begrenzt zutreffend für eine Epoche mit zahlreichen dynamischen Entwicklungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Doch wurde sie personifiziert durch den in den 1960er Jahren altersstarrsinnig gewordenen und zunehmend unzeitgemäß wirkenden Patriarchen Adenauer und entsprach einem unter liberalen Reformern verbreiteten Eindruck.
Autoritärer Staat vs. liberale Gesellschaft
Doch ging es Dahrendorf bei seiner Werbung für den Konflikt nicht bloß um die liberale Demokratie, um die Verfassung der Freiheit im Großen und Ganzen. Dahrendorf war vielmehr überzeugt davon, dass allein durch die vorbehaltlose Anerkennung von Konflikten möglich sei, Interessengegensätze in geordnete Bahnen zu lenken, sie zu »kanalisieren«[11]. Konflikte seien allgegenwärtig, anzutreffen ausnahmslos überall da, wo sich menschliches Leben in Gesellschaften zusammenfinde. Die Alternative konflikthaft oder konfliktfrei stelle sich mithin für menschliche Gemeinwesen nicht; beeinflussbar sei allenfalls der Austragungsmodus, also die Intensität und Gewaltsamkeit von Konflikten. Wo diese nun nicht offen akzeptiert und ausgetragen würden, da gärten sie unter der Oberfläche bloß umso heftiger und brächen irgendwann unkontrolliert und aggressiv aus. Die Hoffnung, durch Ausblendung und Delegitimierung von Konflikten einen Zustand friedvoller Harmonie herbeiführen zu können, sei insofern ein gefährlicher Irrglaube.
Und noch einen Nutzen von unverstellter Akzeptanz von Meinungsgegensätzen sah Dahrendorf: Gesellschaftliche Antagonismen seien die Antriebskräfte sozialen Wandels. Wer sicherstellen wolle, dass die Ordnung, in welcher er lebt, dynamisch bleibe, sich nicht überlebe, sondern mit der Zeit und den von ihr bedingten Veränderungen mitgehe, der dürfe dem Interessenstreit keine Hindernisse in den Weg räumen. »Konflikte geben dem Wandel sein Tempo, seine Tiefe und seine Richtung. Wer sie durch Anerkennung und Regelung bändigt, hat damit den Rhythmus der Geschichte in seiner Kontrolle. Wer diese Bändigung verschmäht, hat denselben Rhythmus zu seinem Gegner.«[12]
Staatliche Ordnung und gesellschaftlicher Wandel stehen beim jungen Dahrendorf in einem Spannungsverhältnis zueinander. Seine Präferenz für die Gesellschaft und den Wandel begründet eine nachdrückliche Staatsskepsis. Die Annahme, der Staat sei eine unabhängige Macht, die über den sozialen Gegensätzen stehe, gerecht und unparteiisch, ist für ihn ein Ausdruck preußisch-nationalen Denkens, das sich in den politisch-institutionellen Verhältnissen des Kaiserreiches konkretisiert habe. »Der Reichstag, die ›Schwatzbude‹, symbolisiert die bürgerliche Gesellschaft der Interessen und Kämpfe. Die soziale Realität unter ihm ist eine Welt der Unmündigkeit der Familien; und über ihm erst beginnt der Staat in seiner Majestät.«[13]
Dahrendorf nimmt hier einen Gedanken auf, den Ernst Fraenkel schon im Jahr 1932 in seinem Modell der »dialektischen Demokratie« entfaltet hatte, als dieser den Staatswillen als Resultat des Widerstreites verschiedener Parteien und Gruppen beschrieb. Die Parteien und Verbände bündeln die divergierenden Interessen, die sie stellvertretend für ihre Anhänger im Konflikt durchzusetzen versuchen, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, sich auf einen Kompromiss zu verständigen. Dieser Kompromiss wiederum ist gleichbedeutend mit dem Gemeinwohl, das folglich nicht unabhängig von den sozialen Gegensätzen über selbigen steht, sondern sich erst a »posteriori« aus diesen und als deren Konsequenz ergibt.[14]
Der Rechtsstaat garantiert nicht die Demokratie
Die Vorstellung, der Staat sei die unabhängig-überparteiliche Verkörperung des Gemeinwohls, ist für Dahrendorf ein Synonym autoritären Denkens, was er mit dem Zitat des preußischen Historikers Heinrich v. Treitschke veranschaulicht, der Staat frage »grundsätzlich nicht nach der Gesinnung, er verlangt Gehorsam«[15]. Ein Symptom für eine solche Staatsauffassung, in welcher sich die Abneigung gegen Konflikte spiegele, sei auch die Idee, die man in Deutschland vom Rechtsstaat habe, einem der »Fetische deutscher Politik«. »Der Kampf um den Rechtsstaat«, so Dahrendorf, »stellt sich primär als das Bestreben dar, die Prinzipien eines abstrakten Verfassungsrechts mittels eines wirksamen Verwaltungsrechts in der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Sphäre konkret zu realisieren.«[16]
Weil Rechtsstaatlichkeit zunächst nur Regelmäßigkeit des politischen Handelns bedeute, dürfe weder die Festschreibung des sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz noch die Rede von demokratisch-rechtsstaatlichen Prinzipien darüber hinwegtäuschen, »daß eine saubere, moralische Verwaltung keine Liberalität und regelgemäßes politisches Handeln innerhalb der Grenzen geltenden Rechts keine Demokratie garantiert«[17]. Und weiter:
»Für die Verfassung der Freiheit ist die Herrschaft des Rechtes weniger wichtig als die Lebendigkeit des Konfliktes. Die liberale Demokratie wird weniger dadurch gefährdet, daß sich ein Politiker etwas außerhalb der Legalität bewegt, als dadurch, daß die Suche nach vorgeblich überparteilichen Instanzen in der Überschätzung von Kaiser und Präsident, Einheit und Großer Koalition, Verwaltung und Recht institutionelle Gestalt annimmt.«[18]
Jedenfalls: Eine perfekte Verfassung gibt es für Dahrendorf nicht; zumindest dann nicht, wenn »perfekt« bedeutet, dass sich die Verfassung gegen Kritik immunisiert, die unbequeme Wirklichkeit ausblendet und die ständige lebendige Auseinandersetzung um ihre – auch fundamentale – Veränderung unterbindet. Eine solche Verfassung ist für ihn nicht mehr und nicht weniger als eine »Institution gewordene Angst vor sozialem Konflikt«[19].
Wenngleich radikale Linke gegen Dahrendorf einwenden mögen, sein Treitschke-Zitat – der Staat frage grundsätzlich nicht nach der Gesinnung, er verlange bloß Gehorsam – stimme lediglich zur Hälfte, bei den Ungehorsamen spiele die Gesinnung sehr wohl eine Rolle – etwa bei der Einstufung als extremistisch –, so werden sie in Dahrendorfs Gleichsetzung der deutschen Staatsverehrung mit autoritären Einstellungsmustern doch einiges Zustimmungsfähige entdecken. Rein semantisch dürfte sich mancher Leser des Parade-Liberalen an den »autoritären Etatismus« des marxistischen Staatstheoretikers Nicos Poulantzas erinnert fühlen. Auch Letzterer sah den Staat in den 1970er Jahren durch eine enorme Konzentration und Zentralisierung von Macht gekennzeichnet.[20]
Die paradoxe Wirkung dieses Staatsmolochs ist nun aber bei Poulantzas, dass gerade diese Machtballung antietatistische Revolten und Protestbewegungen hervorbringe. Die radikale Staatskritik sei das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, in welchem der Staat zunehmend Kompetenzen und Aufgaben an sich ziehe, etwa im Zuge einer keynesianischen Investitionspolitik, wodurch der ursprünglich gegen die Konzerne gerichtete Antikapitalismus auf den Staat abgelenkt werde. Der Antietatismus z.B. der Autonomen ist demzufolge eine Reaktion auf den autoritären Etatismus. Freilich resultiert deren Staatsfeindschaft weniger aus theoretisch fundierten Ableitungen als vielmehr aus einem subjektivistischen Politikbegriff, aus unmittelbarer Betroffenheit und der sogenannten als verbindendes Hauptcharakteristikum der heterogenen autonomen Gruppen identifizierten »Politik der 1. Person«.[21]
Utopie und Unterdrückung
Aktionistische Hektik, reaktives Handeln und die augenblicksmotivierte Suche nach Konfrontationen mit dem Staat sind nun aber so ziemlich das genaue Gegenteil dessen, was dem Vernunftprediger Dahrendorf, der zur Untermauerung seiner Argumente immer wieder die Rationalität bemüht, vorschwebt. Infolgedessen wird das Votum für die Austragung und Kanalisation von Konflikten nicht einfach damit begründet, dass sie Gewaltpotenziale reduzierten oder harmonistische Gesellschaftskonzepte schlicht repressiv seien – sondern mit ihrer Rationalität. Auch seine Ablehnung von Utopien begründet Dahrendorf nicht zuletzt mit deren Irrationalität. Gesellschaftskonzepte, die von der Möglichkeit einer prästabilierten Harmonie und der Beständigkeit eines gesellschaftlichen Endzustandes ausgingen, seien nicht-rational. Im Hang zur Utopie kämen ebenfalls eine Sehnsucht nach Synthese und eine Aversion gegen die Buntheit und Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Unordnung einer bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck.[22]
Als charakteristisch für Utopien stuft Dahrendorf die Erwartung ein, »daß sich Bedingungen schaffen lassen, unter denen Konflikte gewissermaßen überflüssig werden«, die Vorstellung einer Harmonie, »die der Sozialstruktur von Utopia Bestand verleiht«. »In Wirklichkeit«, so Dahrendorf, »gibt es diese Bedingungen nicht. In Wirklichkeit geschieht es daher mit der schrecklichen Dialektik des Nicht-Rationalen, dass die Utopie die Unterdrückung zuerst fordert und dann verherrlicht. Denn wenn in der angeblich verwirklichten Utopie […] das Verbotene dennoch geschieht, der Widerstand gegen Herrschaft also nicht ausbleibt, dann fordert die Rettung der utopischen Theorie die Praxis der Unterdrückung des Widerstandes als eines Reliktes überwundener Vergangenheit oder eines Unterwanderungsversuchs fremder Mächte.« So werde die schöne Theorie zum »Sonntagskleid der Willkür«[23]. Der einzige Weg, die »Diktatur der falschen Antworten« zu vermeiden – die grundlegende Voraussetzung jeder dauerhaften individuellen Freiheit –, sei demgegenüber die Akzeptanz von Konflikten, vermittels derer es prinzipiell immer und überall möglich bleibe, mehr als eine Antwort zu geben. »Konflikt«, so Dahrendorf, »ist Freiheit, weil durch ihn allein die Vielfalt und Unvereinbarkeit menschlicher Interessen und Wünsche in einer Welt notorischer Ungewissheit angemessenen Ausdruck finden kann.«[24]
Repräsentative statt direkte Demokratie
Statt auf Utopien und visionäre Entwürfe paradiesischer Idealgesellschaften setzt Dahrendorf auf Institutionen, die Pluralismus zu garantieren versprechen. Solche Institutionen gehören für ihn elementar zu einer Demokratie dazu. Und neben der oben skizzierten affirmativen Einstellung zu Interessenkonflikten sind Grunderfordernisse des Dahrendorf’schen Demokratiemodells insofern außerdem stabile Institutionen, die den gegensätzlichen Gruppen verbindliche Formen des Ausdrucks bieten, und akzeptierte nicht-diskriminierende Spielregeln, an die sich die Konfliktparteien halten können.[25]
Daher rührt auch Dahrendorfs Plädoyer zugunsten einer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie, der Vorzug, den er ihr gegenüber direktdemokratischen Alternativentwürfen gibt. In der radikalen Linken sind solche auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehenden identitären Demokratievorstellungen populär. Sie schlagen sich bspw. in Informationsveranstaltungen und Publikationen zur Rätedemokratie nieder. Einer der Exponenten des linkssozialistischen Austromarxismus im Österreich der Zwischenkriegszeit war Max Adler, der unter der Bezeichnung »soziale Demokratie« das revolutionäre Demokratieideal ausgearbeitet hat, das nur in der klassenlosen Idealgesellschaft verwirklicht werden könne. In der sozialen Demokratie gibt es keine Herrschaft, also auch keine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit.
In einer Gesellschaft der völlig Gleichen, mit einheitlicher Lebenslage und einstimmigen Interessen aller, brauche sich der Einzelne nicht einem Gemeinwohl zu unterwerfen, da der eigene selbstbestimmte Wille identisch mit dem Willen aller anderen sei. Auch Gewaltenteilung sei verzichtbar, insofern jeder Staatsbürger gleichermaßen zur Gesetzgebung wie zur Durchführung und Anwendung der Gesetze berufen sei. Die Zumutung der Herrschaftsordnung der bürgerlichen Gesellschaft mutiert in der sozialen Demokratie der klassenlosen Gesellschaft zur Verheißung einer autonomen Selbstbestimmungsordnung. So idyllisch ein solcher Zustand anmutet, so bedrohlich sind seine Konsequenzen für denjenigen, der sich aus welchen Gründen auch immer – sei es aufgrund eines notorischen Nonkonformismus oder konsequenten Einzelgängertums – dennoch außerhalb des Allgemeinwillens stellt. Einen solchen kann sich Adler nur als »anormalen pathologischen Einzelfall« denken und dessen »Denkweise als eigentlich ins Krankenhaus gehörig«.[26]
Eine Infragestellung des radikal linken Antiinstitutionalismus wäre auch insofern bedenkenswert, als die im Vergleich zum Adler’schen Gesinnungsterror zweifellos mildere Folge schwacher Parlamente und Parteien, die es nicht mehr vermögen, den öffentlichen Diskurs zu prägen und ihn in Entscheidungen gewählter Regierungen zu übersetzen, ein nichtsdestotrotz wenig verheißungsvoller Populismus ist. Dahrendorf skizziert diesen Populismus als direkten Appell an das Volk ohne den Filter von Parlamenten und parlamentarischen Debatten. »Populismus«, resümiert er, »ist gleich Konsens ohne vorangegangene Debatte«, seine Konsequenz ein »schleichender Autoritarismus« mit intransparenter Entscheidungsfindung, hochgradiger Personalisierung und einer entpolitisierten Bevölkerung, die freiwillig auf Protestartikulationen verzichtet – letztlich also eine Demokratie ohne Demokraten.[27]
Kritik als Motor von Erkenntnisfortschritten
Einer solchen kritischen Selbstbefragung steht zweifellos im Wege, dass der Pluralismus, wie Fraenkel einst schrieb, die »Staatstheorie des Reformismus« ist.
»Er [der Pluralismus, Anm. d. Verf.] lehnt implicite die These ab, dass der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit, dessen Existenz er nicht in Zweifel zieht, mit geschichtlicher Notwendigkeit dazu führen muß, daß er in der klassenlosen Gesellschaft ›aufgehoben‹ wird.«[28]
Dabei ist eine pluralistisch-offene Haltung, die Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten akzeptiert und produktiv verarbeitet, nicht nur eine antiautoritäre Strategie in Politik und Gesellschaft, sondern auch ein Garant für Fortschritte der analytischen Erkenntnis. »Wenn die Wahrheit nicht erkennbar ist, wir also zumindest nicht wissen können, ob unsere Erkenntnis wahr ist, dann müssen wir Wege finden, um die Dogmatisierung des Irrtums zu vermeiden.«[29]
Erkenntnisfortschritten liegt das Prinzip des Konflikts – in diesem Fall die Widerlegung überkommener und als bewährt geltender Theorien – mithin ebenfalls zugrunde. Eine solche – auch experimentell zu nennende – Gesinnung ist für Dahrendorf der Kern des Kritischen überhaupt. Wer sich also nicht bloß selbstgefällig als kritisch etikettieren und sich nicht unentrinnbar in einem Teufelskreis ständig widerkehrender, immer gleicher Debatten drehen will, der wird den späteren englischen Lord Ralf Dahrendorf womöglich mit Gewinn lesen.
[1] O.V.: Gabriel kritisiert Geburtstagsgäste bei umstrittenem Journalisten Matussek, in: DLF24, 13.03.2019, URL: https://www.deutschlandfunk.de/buergerliche-eliten-gabriel-kritisiert-geburtstagsgaeste.2849.de.html?drn:news_id=986165 [eingesehen am 14.03.2019].
[2] Vgl. Müller-Hilmer, Rita/Gagné Jérémie: Was verbindet, was trennt die Deutschen? Werte und Konfliktlinien in der deutschen Wählerschaft im Jahr 2017, Nr. 2, Forschungsförderung Report, Düsseldorf 2018, S. 19.
[3] Vgl. z.B. Decker, Oliver/Brähler, Elmar: Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellung und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006.
[4] Vgl. Kaul, Martin/Schmidt, Christina: Hannibals Schattenarmee, in: die tageszeitung, 16.11.2018; Iskandar, Katharina: Anwältin erhält zweiten Drohbrief, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.01.2019.
[5] Dahrendorf, Ralf: Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit Antonio Polito, München 2002, S. 12.
[6] Ebd., S. 13.
[7] Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965.
[8] Ebd., S. 174.
[9] Ebd., S. 165 f.
[10] Siehe Kogon, Eugen: Die Funktion des Antikommunismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ders.: Die restaurative Republik. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1996, S. 190–205, hier S. 201.
[11] Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie, S. 171.
[12] Ebd., S. 173.
[13] Ebd., S. 231.
[14] Vgl. Ladwig-Winters, Simone: Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt/New York 2009, S. 305.
[15] Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie, S. 230.
[16] Ebd., S. 234.
[17] Ebd., S. 234 f.
[18] Ebd., S. 235.
[19] Ebd., S. 208.
[20] Siehe Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg 1978.
[21] Vgl. Lauterbach, Jörg: Staats- und Politikverständnis autonomer Gruppen in der BRD, Frankfurt 1999, S. 139 f.
[22] Vgl. Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie, S. 224.
[23] Ebd., S. 172.
[24] Ebd., S. 174.
[25] Vgl. ebd., S. 170 f.
[26] Adler, Max: Politische oder soziale Demokratie. Ein Beitrag zur sozialistischen Erziehung, Berlin 1926, S. 79.
[27] Dahrendorf, Ralf: Die Krisen der Demokratie, S. 80 u. S. 89 ff.
[28] Fraenkel, Ernst: Strukturanalyse der modernen Demokratie, in: Ders: Reformismus und Pluralismus, Hamburg 1973, S. 404–433, hier S. 426 f.
[29] Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie, S. 185 f.