Mit der Einrichtung der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen (FoDEx) wurde es etwas ungemütlich für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut für Demokratieforschung. Neben viel Lob häuften sich auch Anwürfe, Verdächtigungen und Beschuldigungen, ohne dass sich die Kritiker en détail mit unserer Arbeit auseinandergesetzt hätten. Während uns einige der »staatsnahen Forschung« bezichtigten, beschimpften uns andere als »Agenten des Verfassungsschutzes« und wieder andere meinten, unsere Arbeit delegitimieren zu können, indem sie uns vorwarfen, den »Ethik-Kodex« des eigenen »Berufsstandes« zu missachten.[1] Während wir aus dem rechten Spektrum in der Vergangenheit direkt mit Klagen und einstweiligen Verfügungen konfrontiert wurden, erreichten uns insbesondere aus dem linken Spektrum nun Haus- und Redeverbote. So wurden Mitarbeitende namentlich gebrandmarkt, öffentlich an den Pranger gestellt oder Mitstreiter aufgefordert, keinesfalls mit der Forschungs- und Dokumentationsstelle zusammenzuarbeiten. Zuletzt schickte uns ein Café Kollektiv eine Mitteilung, dass man unsere Arbeit als »schädlich für linkes und feministisches Engagement« betrachte und die im Rahmen von FoDEx tätigen Mitarbeitenden daher weder bei politischen Veranstaltungen gewünscht seien, noch im »normalen Cafébetrieb« Personen für ihre Forschung »gewinnen« dürften (solche Versuche wurden freilich nie unternommen) – bei Zuwiderhandlung mache man von seinem Hausrecht Gebrauch.

Nun soll es im Folgenden weniger um die doch recht anmaßende Vorstellung gehen, dass ein linkes Kollektiv darauf drängt, der Arbeitgeber solle die Freizeitgestaltung seiner Mitarbeitenden regulieren oder um die in dem Schreiben zum Ausdruck gebrachte »Sippenhaft«. Zumal diese Ausgrenzungsbemühungen einzig darauf beruhen, dass sich Mitarbeitende der Forschungsstelle wissenschaftlich fundiert mit Linker Militanz, mit der extremen Rechten und ihrem Umfeld oder mit religiösem Fundamentalismus beschäftigen.

Im Fokus steht vielmehr eine nähere Beschreibung unserer Forschungspraxis und unseres Feldzugangs respektive eine Auseinandersetzung mit dem Vorwurf der Missachtung von »Ethik-Richtlinien«. Was im ersten Heft des vorliegenden Werkstattberichts mit der Beschreibung der Arbeitsweise des Instituts für Demokratieforschung im Rahmen von FoDEx begonnen worden ist, soll nun in loser Folge fortgesetzt werden; auch, um ein paar irrigen Annahmen über unser Vorgehen zu begegnen. Schließlich ist die Missachtung der eigenen Standards einer der härtesten Vorwürfe, die man Wissenschaftlern gegenüber äußern kann – neben der bewussten Manipulation von Daten als extremster Form wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Immerhin wird ohne Beleg den Forschenden die Integrität, ein redliches Streben nach Erkenntnis, mithin die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Der impliziten und expliziten Behauptung, dass der Drittmittelzuwender und die Positionierung des Forschers im Feld den Zugang zum Gegenstand und Material verstellten, dass mehr denunziert statt beschrieben, mehr verdeckt statt erhellt, mehr manipuliert statt erklärt würde, wird hier auf das Entschiedenste widersprochen.

So schrieb bspw. die Antifaschistische Linke International >A.L.I.< im November 2017: »Gleichzeitig sind im Ethik-Kodex für SoziologInnen eindeutige Richtlinien festgelegt, wie soziologische Forschung stattzufinden hat. §2 legt das Prinzip der informierten Einwilligung der ProbandInnen fest. Es ist offenkundig, dass dieses Prinzip beim Besuch von linken Veranstaltungen und insbesondere beim Besuch von Demos, durch die MitarbeiterInnen des IfD [Instituts für Demokratieforschung] missachtet wird. Die ›Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler‹ des IfD sehen sich offensichtlich nicht einmal an die ethischen Grundsätze ihres Berufsstandes gebunden und versuchen sich trotzdem als VertreterInnen einer ›neutralen und objektiven‹ Forschung zu inszenieren.«[2]

Indes: Die hier vorgetragene Argumentation mit Verweis auf »Ethik-Kodizes« befremdet auf mindestens zwei Ebenen. Zum einen werden diese »ethischen« Maximen oft, wie auch hier, lediglich auszugsweise zur Kenntnis genommen und einseitig instrumentalisiert. Zum anderen sollte gerade aus dem kritischen linken Spektrum die historische Genese dieses Herrschaftsinstruments zumindest mitbedacht werden.

»Ethik-Kodizes« sind zwar insbesondere in den Sozialwissenschaften ein verhältnismäßig neues Phänomen, doch rekurrieren sie auf »ethische« Selbstverpflichtungen der Naturwissenschaftler respektive Mediziner aus dem Jahr 1947. Diese waren eine explizite Reaktion auf die Grausamkeit der NS-Medizinverbrechen im Namen der Wissenschaft, die im Nürnberger Ärzteprozess vor einem amerikanischen Gericht verhandelt wurden. Mit der Bezugnahme auf den aus diesem Verfahren resultierenden »Nürnberger-Kodex« sind jedoch zwei zentrale Probleme verbunden. Zunächst suggerierten diese Standards, das Problem an sich sei bereits durch ihre Fixierung behoben und Verbrechen durch medizinische Forschung somit für alle Zeit und in Zukunft ausgeschlossen. Dass diese Annahme eine trügerische Illusion war, zeigt – um nur ein Beispiel zu nennen – die Tuskegee-Syphilli-Studie aus dem Jahr 1972, in der mehrere hundert schwarze Männer ohne ihr Wissen scheinbehandelt wurden bzw. unbehandelt blieben, damit Mediziner in Ruhe den Krankheitsverlauf beobachten konnten. Und, obwohl es zynisch klingt: Die Medizinverbrechen im Nationalsozialismus konnten nicht wegen fehlender »Ethik-Kodizes«, sondern trotz der Existenz »ethischer« Selbstverpflichtungen der Mediziner durchgeführt werden, weil diese – ganz einer Kollektivethik verpflichtet – ihre Experimente für ethisch gerechtfertigt hielten.

Insbesondere über den Aspekt der Freiwilligkeit der Probanden im Zusammenhang mit Menschenversuchen hat man in der Medizin seit dem 19. Jahrhundert intensiv diskutiert. Die Debattenergebnisse wurden auch mit dem »Erlass der Preußischen Anweisungen im Jahr 1900« in gesetzliche Bestimmungen gegossen, die festlegten, dass die Einwilligung zu Humanexperimenten erst nach einer umfassenden Aufklärung des Patienten über Risiken eingeholt werden dürfe und nichteinwilligungsfähige Patienten grundsätzlich für diese Versuche nicht herangezogen werden sollten.[3] Auch wenn die »ethische« (Selbst-)Verpflichtung der Mediziner keinesfalls eine progressive, linear ansteigende Entwicklung nahm, sondern immer wieder gebrochen wurde, stellt Giovanni Maio in einer Untersuchung fest, dass es derartige Kodifizierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in anderen Ländern gab und sie als »Meinungsbild« unter den Mediziner präsent gewesen waren.[4] Doch diese selbst gesetzten »ethischen Kodizes« hielten die Mediziner, die Wissenschaftler, die zu Verbrechern wurden, keineswegs im Zaum, im Gegenteil: Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Namen der medizinischen Forschung und des Fortschritts wurden durch die Prinzipien der Wissenschaft selbst gerechtfertigt und legitimiert. Medizinverbrecher waren sich auch deshalb keiner ethischen Verstöße bewusst, weil sie in ihrer Logik »ethischen Erwägungen« folgten. So vertrat bspw. der durch die Alliierten dann zum Tode verurteilte und hingerichtete Karl Brandt selbst vor Gericht noch beharrlich die Auffassung, dass das Opfer von fünf Menschen im Rahmen von medizinischen Versuchen gerechtfertigt wäre, wenn durch die so gewonnenen Erkenntnisse fünf Millionen Soldaten gerettet werden könnten. Die »Medizinethik«, die im NS zählte, war eine biologistische Kollektivethik, in der das Gemeinwohl vor dem Wohl des Einzelnen stand.

Nun soll keinesfalls behauptet werden, dass von der Medizinethik des frühen 20. Jahrhunderts und deren Versagen eine bruchlose Linie zu den »ethischen Kodizes« der Sozialwissenschaften gezogen werden kann – wer diese Erzählung hier so begreift, will die Autorin bewusst falsch verstehen. Durch die bruchlose Übernahme der Kodizes wird jedoch so getan, als wären sozialwissenschaftliche Forschungen mit medizinischen Experimenten gleichzusetzen. Das ist absurd, denn experimentelle medizinische Menschenversuche sind etwas grundlegend anderes als ein Interview oder eine Befragung.

Eines ist bis hierhin bereits deutlich geworden: Ein Blick auf die Wissenschaftsgeschichte lehrt, dass »ethische Grundsätze« für jedwede Rechtfertigung zu gebrauchen sind. Daher erscheinen uns die beständige reflexive und kritische Spiegelung der eigenen Arbeit und die gemeinsame lebendige Diskussion darüber, die letztlich auch eine gegenseitige aktive (Selbst-)Kontrolle ist, zielführender als die Befolgung starrer Regeln und Konventionen.

Der durch die A.L.I. propagierte »Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Berufsverbandes der Soziologinnen und Soziologen (BDS)«[5] verhandelt das eingeforderte »informierte Einverständnis« der Beforschten unter Paragraf zwei, »Rechte der Probandinnen und Probanden« – wir würden immer sagen: Forschungspartner. Dort geht es im Wesentlichen um die Verantwortung des Forschers seinen Befragten gegenüber; thematisiert werden die Schweigepflicht sowie die Aufgabe des Soziologen, mögliche Nachteile für die Forschungspartner durch sein Agieren im Feld möglichst frühzeitig zu antizipieren und schützende Maßnahmen zu ergreifen, auch die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen der Persönlichkeitsrechte und schließlich die »informierte Einwilligung« werden in diesem Paragrafen behandelt. Diese informierte Einwilligung – und das geht aus dem gesamten Paragrafen hervor – hat jedoch die Erhebung, Speicherung und Verwendung der personenbezogenen Daten im Blick. Ein solcher Personenbezug liegt in der Interpretation des Bundesdatenschutzgesetzes dann vor, wenn »Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person« gemacht werden.[6]

Personenbezogene Daten, also bspw. die Verbindung von Klarnamen mit dem Organisationszusammenhang, Stationen der individuellen Biografie und Einkommensverhältnisse, mögen im Rahmen manch eines Forschungsprojektes sicherlich interessant sein, für die in der Forschungsstelle tätigen Wissenschaftler sind diese Informationen jedoch nicht relevant. Wie wir bereits in der ersten Ausgabe des Demokratie-Dialog beschrieben haben, interessieren wir uns für die wissenschaftliche Erforschung ›demokratiegefährdender‹ Tendenzen in der niedersächsischen Gesellschaft, nicht mit dem Ansinnen einer Stigmatisierung, sondern im Rahmen der Debatte und Konkretisierung von (demokratischen) Werten bzw. Verfahrensweisen: »Hierbei sind in einem umfassenden historisch-längsschnittartigen Zugriff ideologische, personelle und organisatorische Zusammenhänge ebenso zu berücksichtigen wie Mentalitäten, Deutungsmuster und Einstellungen der entsprechenden Akteure und Bewegungen. Im Zentrum steht die Erforschung aktueller Ausprägungen politischer Gewalt und Militanz, von Dissidenz, Radikalismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, mit innovativen, ertragreichen Methoden, um Entstehungszusammenhänge, Entwicklungsverläufe, Zerfalls- oder Progressionsprozesse analysieren und erklären zu können. Es sollen sich wandelnde Gesellschaftsentwürfe, Selbstverständnisse und Demokratiekonzepte unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure ebenso berücksichtigt werden wie die in der Forschungsstelle zu untersuchenden Analysebereiche: schwerpunktmäßig die Extreme Rechte, die Radikale Linke und religiös motivierte politische Gewalt, jeweils in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit.«[7]

Wir konzentrieren uns demzufolge auf die Aushandlung im öffentlichen Raum, die politische Meinungsbildung, die Entstehung von gesellschaftlichen Assoziationszusammenhängen, die Genese neuer politischer Forderungen oder alternativer Konzepte sowie auf Mechanismen und Ressourcen zur Durchsetzung derselben, ebenso auf Symbole, Traditionen, Strukturen, Ordnungen oder Ideologien von Gruppen. Im Rahmen der politischen Kulturforschung (in der Tradition von Karl Rohe) wollen wir in das Forschungsfeld eintauchen, Vorstellungen und Praktiken erfassen, quasi »Fremdverstehen« – ein Vorgang, der im Übrigen eine permanente Reflexion voraussetzt und somit die in Paragraf zwei des »Ethik-Kodex« angesprochenen Erwägungen stets mitbedenkt. Und ja, sicherlich interessieren wir uns in diesem Zusammenhang auch für biografische Hintergründe, individuelle Motivlagen der Akteure und Lebensläufe, aber eben auf der Aggregatebene, kumuliert, und nicht auf individuellem Niveau. Auch insofern spielen personenbezogene Daten in unserer Erhebung keine Rolle. Wenn sie jedoch quasi als Beifang bei unseren Forschungen zwangsläufig im Netz der Erhebungen landen, behandeln wir sie selbstverständlich auf der Grundlage gesetzlich geltender Bestimmungen und fachinterner Routinen, d.h. bspw., dass wir für die Weiterverarbeitung die Daten keinesfalls zusammen mit den Klarnamen aufbewahren; wir reduzieren schützenswerte Angaben in den Transkripten und speichern nur die für die Forschungsfragen notwendigen Informationen. Selbstverständlich geben wir die im Forschungsprozess gewonnenen Daten und Informationen nicht weiter und prüfen insbesondere vor der Veröffentlichung potenzielle Gefährdungen Einzelner. Dies ist im Übrigen keine Besonderheit von FoDEx, sondern die Maxime unserer qualitativen Forschung im Feld mit Parteivorsitzenden und Ortsvorstehern, mit Bewegungsunternehmern oder Internetaktivisten seit vielen Jahren.

Im »Ethik-Kodex« sowohl der Soziologie als auch der beinahe wortgleichen Variante der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DVPW) ist nicht nur das informierte Einverständnis gefordert, sondern dort heißt es auch: »Nicht immer kann das Prinzip der informierten Einwilligung in die Praxis umgesetzt werden, z.B. wenn durch eine umfassende Vorabinformation die Forschungsergebnisse in nicht vertretbarer Weise verzerrt würden. In solchen Fällen muss versucht werden, andere Möglichkeiten der informierten Einwilligung zu nutzen.« Wir haben aus unserer Tätigkeit nie ein Geheimnis gemacht, im Gegenteil: Frühzeitig machten wir mit einer Pressemitteilung auf die Arbeit der Forschungsstelle aufmerksam; durch den vorliegenden Demokratie-Dialog, wie auch in Bälde auf einer separaten Website[8], wurden und werden maßgebliche Informationen und erste Ergebnisse – entsprechend den Fortschritten der Forschungs- und Dokumentationsstelle – vorgestellt. Überdies haben wir allen Kritikern beständig das Gespräch und den Austausch angeboten.

In der Präambel dieser Forschungskodizes wird ebenso darauf verwiesen, dass es immer eine Güterabwägung geben muss zwischen Forschungsfreiheit und Erkenntnisgewinn auf der einen und Datenschutzanliegen sowie den Rechten der Forschungspartner auf der anderen Seite. Dies bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Letztere nicht einfach mit einem lapidaren Verweis auf ein Nicht-beforscht-werden-wollen und auf die existierenden Richtlinien einseitig Rechte einfordern können. Denn wenn es danach ginge, würde jeder Beteiligte einer politischen Hinterzimmervereinbarung, jeder Parteivorstand, jeder Pharmakonzern, der seine Praktiken lieber verschleiern möchte, auch jede Konzernzentrale darauf pochen wollen, dass ihre Person, ihre Institution, ihre Gruppe ein Recht darauf habe, von der wissenschaftlichen Untersuchung ausgenommen zu werden. Und überhaupt: Warum sollten zivilgesellschaftliche und politische Eliten sowie Akteure, die in der Öffentlichkeit agieren oder deren Handeln womöglich maßgeblichen gesellschaftlichen Werten und Praktiken zuwiderläuft, nicht beforscht werden? Warum sollte jemand das Recht haben, sich der öffentlichen Auseinandersetzung und kritischen Betrachtung zu entziehen? Unter den entsprechenden Voraussetzungen – eben keine einzelnen Personen an den Pranger zu stellen, den Forschungsprozess transparent und nachvollziehbar zu gestalten, die Datenerhebung, -speicherung und -verarbeitung verantwortungsbewusst umzusetzen – darf, so meinen wir, nichts der Kritik entzogen werden, ist nichts sakrosankt.

Mit dem Dogma, dass Forschung lediglich mit einer informierten und aktiven Einwilligung der Befragten durchführbar sei, verunmöglicht man in weiten Teilen Forschung über Gesellschaft. Wie soll zum Beispiel das informierte Einverständnis von Hooligans eingeholt werden, deren Verhalten man während eines Fußballspiels erforschen möchte? Wie sollen bei einer Massenveranstaltung, deren Formationen, Symbole und Rituale man untersucht, die Anwesenden über das Projekt informiert und deren Einwilligung erlangt werden? Wer soll bspw. bei einer nüchternen organisationssoziologischen Untersuchung einer Partei die Zustimmung des Parteivorstandes, der Mitglieder etc. beschaffen? Was ist mit der Untersuchung von Lebensläufen oder Gruppenbiografien Verstorbener? Biografien über Karl Marx oder Wilhelm II., Martin Luther oder Jeanne D’Arc wären perdu, da ein post festum eingeholtes Einverständnis nicht vorliegt. Diese Aufzählung zeigt überdeutlich die Absurdität des Dogmas auf, welches strikt angewendet die Genese von Wissen einschränken würde. Überdies befördert eine solche Argumentation das Eindringen von »Nutzen« und »Risiko« in den Forschungsprozess, ist reduktionistisch und epistemologisch problematisch.

Und schließlich muss – freilich argumentativ auf einer anderen Ebene – angemerkt werden: In Zeiten, in denen (nicht nur) linke Aktivisten verstärkt das Internet und soziale Medien nutzen, um ihre Standpunkte zu verbreiten, über Termine zu informieren, aber vor allem um ihre Aktionen zu dokumentieren, mit denen wiederum neue Anhänger gewonnen werden sollen, ist die Angst vor dem analog agierenden Forscher schon etwas possierlich. Denn im Netz löst sich die so vehement eingeforderte Anonymität ohnehin zunehmend auf. IP-Adressen und Standortdaten machen eine Nutzer- und Anwenderidentifizierung so leicht wie nie und selbst Entpixelungen von Bildern und Videos sind auf dem heimischen PC für technische Laien kein Hexenwerk mehr. Wer sich dem Internet andient bzw. sich Facebook und Twitter als Transformationsmedium bedient, braucht sich vor Forschern nicht zu fürchten. Immerhin sind wir nicht nur an rechtliche Regelungen gebunden, sondern speichern die (wohlgemerkt analog gesammelten) Daten auf heimischen Forschungsservern und nicht in Irland oder anderen nahezu rechtsfreien Räumen.

Oft entstehen die Probleme jedoch nicht bei der Datenerhebung, sondern bei der Publikation der Forschungsergebnisse, insbesondere dann, wenn kleinräumige Einheiten erkundet wurden. In diesem Zusammenhang kollidiert die Forderung nach Transparenz und Nachprüfbarkeit – die selbstverständlich immer wieder zu Recht an die Wissenschaft gestellt wird – mit dem Recht auf Anonymisierung sowie dem Schutz der Privatsphäre der Betroffenen. Dem soll mit einem reflexivem Prozess zwischen Forschern und Forschungspartnern begegnet werden, das heißt, dass die Ergebnisse der Forschung an die beforschten Partner zurückgespielt werden und der Forscher offen für Kritik, Ergänzungen oder Ähnliches durch die Forschungspartner ist. Genau dies ist ein Anliegen der Forschungsstelle in der Forschungstradition des Göttinger Institutes für Demokratieforschung. Eines unserer Gründungsanliegen war und bleibt die Öffnung hin zur interessierten Öffentlichkeit, der die Ergebnisse nicht nur in einer handhabbaren Form jenseits des Fachaufsatzes vermittelt, sondern die insbesondere in die Diskussion der Ergebnisse einbezogen werden soll. Dieser Prozess ermöglicht den Forschungspartnern bzw. den Akteuren im beforschten Feld schließlich deutlich weitergehende Mitsprachemöglichkeiten als die reflexhafte Bezugnahme auf die »Ethik-Kodizes«.

Schließlich sind diese Regelungen, die durch sogenannte Ethik-Kommissionen festgelegt werden, auch immer ein Machtinstrument, das bestehende Herrschaftsprozesse und Machtgleichgewichte absichert, ja: Wissenschaft reguliert. Etablierte Professoren und andere Interessengruppen (und diese vertreten oftmals – wie das Beispiel der Stammzellenforschung zeigt – handfeste Lobbyinteressen) beraten hier unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der randständigen Einbeziehung des akademischen Mittelbaus über Standards und Methoden des Fachs. So weitet das innerhalb der Wissenschaft agierende Kontrollorgan seine Macht beständig aus – nicht nur, weil solche Kommissionen als Stabsstellen an beinahe allen Universitäten etabliert werden, sondern weil Veröffentlichungen in (internationalen) Zeitschriften oder die Einwerbung von Drittmitteln mehr und mehr an die Zertifizierung einer »ethischen« Lauterbarkeit gebunden werden. Diese Prozesse der Institutionalisierung und Formalisierung stehen einem individuellen und verantwortungsbewussten Reflexionsprozess der Wissenschaftler jedoch eher im Wege, als ihn zu ermöglichen.

Zuletzt: Die Diskussion innerhalb der Fachöffentlichkeit über die Frage der »Ethik-Kodizes« verläuft überdies keinesfalls so eindeutig, wie es die oben zitierten A.L.I.-Autoren suggerieren. Insbesondere qualitativ arbeitende Forscher kritisieren die Nicht-Anwendbarkeit für ihren Forschungsprozess, da hier Standards und Formate der quantitativen Forschung den qualitativen Zugängen übergestülpt und diese somit erheblich erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht werden. So ist bspw. gerade das theoretical sampling – also wenn sich das Forschungsdesign im Prozess verändert – mit der informierten Einwilligung keinesfalls zu vereinbaren.

Doch bleiben all dies für uns eher theoretische Erwägungen, denn, nochmal: Wir sind gar nicht an personenbezogenen Daten interessiert, sondern an der Erforschung von Diskursen, Deutungsmustern und Handlungen im öffentlichen Raum. Das Sprechen mit Akteuren, die Analyse von produzierten Texten, Bildern, Videos oder Ähnlichem ist nicht das Gleiche, wie jemanden zu überwachen oder zu bespitzeln. Überdies – und das soll provokativ am Ende angemerkt werden: Wenn es keine durch die Wissenschaftsgemeinschaft und Öffentlichkeit kontrollierte Forschung gibt, die über Linke Militanz, die extreme Rechte oder religiös motivierte Gewalt in der Bundesrepublik Wissen produziert, heißt das nicht, dass niemand über diese Gruppen berichten würde. Journalisten, Akteure aus den Zusammenhängen zum Zwecke der Selbstvermarktung, Agenten und V-Männer des Staats- und Verfassungsschutzes – sie alle stellen Wissen oder Informationen bereit, erzählen Geschichten oder verbreiten (Fake) News in einer interessengeleiteten, intransparenten und motivational nicht nachvollziehbaren Weise. Auch wenn wir als Forschende keinesfalls behaupten wollen, völlig »neutral« und »objektiv« zu arbeiten, so sind unsere Prinzipien, Beispiele und Argumentationsstränge doch einsehbar, nachvollziehbar und öffentlich kritisierbar. Gerade weil wir nach einer (nicht nach der) »Wahrheit« streben, indem wir Deutungen anbieten, Fragen und Thesen formulieren, schaffen wir zwar keine unumstößlichen »Fakten«, bieten aber doch Orientierung. In Zeiten, in denen die »Krise der Demokratie« beschworen wird, ist nicht nur unsere Forschung über »demokratiegefährdende« Bestrebungen umso wichtiger, sondern auch ein selbstbewusstes Eintreten für die eigenen Forschungsansätze und Methoden und eine konstruktive und nicht polemische Diskussion ihrer Grenzen. Wer im theoretischen Elfenbeinturm verbleibt, mag unangreifbarer sein, aber in manchen Forschungsfeldern umso weiter von gesellschaftsrelevanten Erkenntnissen entfernt.

[1] Vgl. exemplarisch: Volpers, Simon/Wiedener, Rune: Wissenschaftliche Neubetrachtung des Extremismusbegriffs, in: Neues Deutschland Online, 22.02.2017, URL: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1042563.wissenschaftliche-neubetrachtung-des-extremismusbegriffs.html [eingesehen am 03.03.2018]; o. V.: Limo-Broschüre: Tatvorwurf: gemeinschaftlich begangene Politische Verfolgung gegen Links, URL: https://www.inventati.org/ali/pictures/2017/solidaritaet/limo-kampagne/broschure/limo-broschure-web.pdf [eingesehen am 14.02.2018]; Pressemitteilung des Allgemeinen Studierendenausschusses, Universität Göttingen: Verfassungsschutz und Wissenschaft – ein Kommentar, 17.02.2017, URL: https://asta.uni-goettingen.de/wp-content/uploads/2017/02/2017_02_17-Verfassungschutz-und-Wissenschaft.pdf [eingesehen am 14.02.2018].

[2] O. V.: Limo-Broschüre: Tatvorwurf: gemeinschaftlich begangene Politische Verfolgung gegen Links, URL: https://www.inventati.org/ali/pictures/2017/solidaritaet/limo-kampagne/broschure/limo-broschure-web.pdf [eingesehen am 14.02.2018].

[3] Vgl. Maio, Giovanni: Medizinhistorische Überlegungen zur Medizinethik 1900–1950: Das Humanexperiment in Frankreich und Deutschland, in: Frewert, Andreas/Neumann, Josef N. (Hrsg.): Medizingeschichte und Medizinethik. Kontroversen und Begründungsansätze 1990–1950, Frankfurt a. M. 2001, S. 374–382.

[4] Ebd., S. 382.

[5] Stand Juni 2017. URL: http://www.soziologie.de/fileadmin/user_upload/ DGS_Redaktion_BE_FM/DGSallgemein/Ethik-Kodex_2017-06-10.pdf [eingesehen am 14.02.2018]

[6] Vgl. hierzu Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) §3, Satz 1.

[7] Vgl. Trittel, Katharina u.a.: Demokratie-Dialog. Die Arbeit des Instituts für Demokratieforschung im Rahmen der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen, in: Demokratie-Dialog, Jg. 1 (2017), H. 1, S. 2–9.

[8] Die Seite www.fodex-online.de befindet sich noch im Aufbau.