Debattenbeitrag: Über »Forschungsethik«
Mit der Einrichtung der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen (FoDEx) wurde es etwas ungemütlich für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut für Demokratieforschung. Neben viel Lob häuften sich auch Anwürfe, Verdächtigungen und Beschuldigungen, ohne dass sich die Kritiker en détail mit unserer Arbeit auseinandergesetzt hätten. Während uns einige der »staatsnahen Forschung« bezichtigten, beschimpften uns andere als »Agenten des Verfassungsschutzes« und wieder andere meinten, unsere Arbeit delegitimieren zu können, indem sie uns vorwarfen, den »Ethik-Kodex« des eigenen »Berufsstandes« zu missachten.[1] Während wir aus dem rechten Spektrum in der Vergangenheit direkt mit Klagen und einstweiligen Verfügungen konfrontiert wurden, erreichten uns insbesondere aus dem linken Spektrum nun Haus- und Redeverbote. So wurden Mitarbeitende namentlich gebrandmarkt, öffentlich an den Pranger gestellt oder Mitstreiter aufgefordert, keinesfalls mit der Forschungs- und Dokumentationsstelle zusammenzuarbeiten. Zuletzt schickte uns ein Café Kollektiv eine Mitteilung, dass man unsere Arbeit als »schädlich für linkes und feministisches Engagement« betrachte und die im Rahmen von FoDEx tätigen Mitarbeitenden daher weder bei politischen Veranstaltungen gewünscht seien, noch im »normalen Cafébetrieb« Personen für ihre Forschung »gewinnen« dürften (solche Versuche wurden freilich nie unternommen) – bei Zuwiderhandlung mache man von seinem Hausrecht Gebrauch.
Nun soll es im Folgenden weniger um die doch recht anmaßende Vorstellung gehen, dass ein linkes Kollektiv darauf drängt, der Arbeitgeber solle die Freizeitgestaltung seiner Mitarbeitenden regulieren oder um die in dem Schreiben zum Ausdruck gebrachte »Sippenhaft«. Zumal diese Ausgrenzungsbemühungen einzig darauf beruhen, dass sich Mitarbeitende der Forschungsstelle wissenschaftlich fundiert mit Linker Militanz, mit der extremen Rechten und ihrem Umfeld oder mit religiösem Fundamentalismus beschäftigen.
Im Fokus steht vielmehr eine nähere Beschreibung unserer Forschungspraxis und unseres Feldzugangs respektive eine Auseinandersetzung mit dem Vorwurf der Missachtung von »Ethik-Richtlinien«. Was im ersten Heft des vorliegenden Werkstattberichts mit der Beschreibung der Arbeitsweise des Instituts für Demokratieforschung im Rahmen von FoDEx begonnen worden ist, soll nun in loser Folge fortgesetzt werden; auch, um ein paar irrigen Annahmen über unser Vorgehen zu begegnen. Schließlich ist die Missachtung der eigenen Standards einer der härtesten Vorwürfe, die man Wissenschaftlern gegenüber äußern kann – neben der bewussten Manipulation von Daten als extremster Form wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Immerhin wird ohne Beleg den Forschenden die Integrität, ein redliches Streben nach Erkenntnis, mithin die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Der impliziten und expliziten Behauptung, dass der Drittmittelzuwender und die Positionierung des Forschers im Feld den Zugang zum Gegenstand und Material verstellten, dass mehr denunziert statt beschrieben, mehr verdeckt statt erhellt, mehr manipuliert statt erklärt würde, wird hier auf das Entschiedenste widersprochen.
So schrieb bspw. die Antifaschistische Linke International >A.L.I.< im November 2017: »Gleichzeitig sind im Ethik-Kodex für SoziologInnen eindeutige Richtlinien festgelegt, wie soziologische Forschung stattzufinden hat. §2 legt das Prinzip der informierten Einwilligung der ProbandInnen fest. Es ist offenkundig, dass dieses Prinzip beim Besuch von linken Veranstaltungen und insbesondere beim Besuch von Demos, durch die MitarbeiterInnen des IfD [Instituts für Demokratieforschung] missachtet wird. Die ›Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler‹ des IfD sehen sich offensichtlich nicht einmal an die ethischen Grundsätze ihres Berufsstandes gebunden und versuchen sich trotzdem als VertreterInnen einer ›neutralen und objektiven‹ Forschung zu inszenieren.«[2]
Indes: Die hier vorgetragene Argumentation mit Verweis auf »Ethik-Kodizes« befremdet auf mindestens zwei Ebenen. Zum einen werden diese »ethischen« Maximen oft, wie auch hier, lediglich auszugsweise zur Kenntnis genommen und einseitig instrumentalisiert. Zum anderen sollte gerade aus dem kritischen linken Spektrum die historische Genese dieses Herrschaftsinstruments zumindest mitbedacht werden.
»Ethik-Kodizes« sind zwar insbesondere in den Sozialwissenschaften ein verhältnismäßig neues Phänomen, doch rekurrieren sie auf »ethische« Selbstverpflichtungen der Naturwissenschaftler respektive Mediziner aus dem Jahr 1947. Diese waren eine explizite Reaktion auf die Grausamkeit der NS-Medizinverbrechen im Namen der Wissenschaft, die im Nürnberger Ärzteprozess vor einem amerikanischen Gericht verhandelt wurden. Mit der Bezugnahme auf den aus diesem Verfahren resultierenden »Nürnberger-Kodex« sind jedoch zwei zentrale Probleme verbunden. Zunächst suggerierten diese Standards, das Problem an sich sei bereits durch ihre Fixierung behoben und Verbrechen durch medizinische Forschung somit für alle Zeit und in Zukunft ausgeschlossen. Dass diese Annahme eine trügerische Illusion war, zeigt – um nur ein Beispiel zu nennen – die Tuskegee-Syphilli-Studie aus dem Jahr 1972, in der mehrere hundert schwarze Männer ohne ihr Wissen scheinbehandelt wurden bzw. unbehandelt blieben, damit Mediziner in Ruhe den Krankheitsverlauf beobachten konnten. Und, obwohl es zynisch klingt: Die Medizinverbrechen im Nationalsozialismus konnten nicht wegen fehlender »Ethik-Kodizes«, sondern trotz der Existenz »ethischer« Selbstverpflichtungen der Mediziner durchgeführt werden, weil diese – ganz einer Kollektivethik verpflichtet – ihre Experimente für ethisch gerechtfertigt hielten.
Insbesondere über den Aspekt der Freiwilligkeit der Probanden im Zusammenhang mit Menschenversuchen hat man in der Medizin seit dem 19. Jahrhundert intensiv diskutiert. Die Debattenergebnisse wurden auch mit dem »Erlass der Preußischen Anweisungen im Jahr 1900« in gesetzliche Bestimmungen gegossen, die festlegten, dass die Einwilligung zu Humanexperimenten erst nach einer umfassenden Aufklärung des Patienten über Risiken eingeholt werden dürfe und nichteinwilligungsfähige Patienten grundsätzlich für diese Versuche nicht herangezogen werden sollten.[3] Auch wenn die »ethische« (Selbst-)Verpflichtung der Mediziner keinesfalls eine progressive, linear ansteigende Entwicklung nahm, sondern immer wieder gebrochen wurde, stellt Giovanni Maio in einer Untersuchung fest, dass es derartige Kodifizierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in anderen Ländern gab und sie als »Meinungsbild« unter den Mediziner präsent gewesen waren.[4] Doch diese selbst gesetzten »ethischen Kodizes« hielten die Mediziner, die Wissenschaftler, die zu Verbrechern wurden, keineswegs im Zaum, im Gegenteil: Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Namen der medizinischen Forschung und des Fortschritts wurden durch die Prinzipien der Wissenschaft selbst gerechtfertigt und legitimiert. Medizinverbrecher waren sich auch deshalb keiner ethischen Verstöße bewusst, weil sie in ihrer Logik »ethischen Erwägungen« folgten. So vertrat bspw. der durch die Alliierten dann zum Tode verurteilte und hingerichtete Karl Brandt selbst vor Gericht noch beharrlich die Auffassung, dass das Opfer von fünf Menschen im Rahmen von medizinischen Versuchen gerechtfertigt wäre, wenn durch die so gewonnenen Erkenntnisse fünf Millionen Soldaten gerettet werden könnten. Die »Medizinethik«, die im NS zählte, war eine biologistische Kollektivethik, in der das Gemeinwohl vor dem Wohl des Einzelnen stand.