AfD und Grüne: Wahlverhalten als Ausdruck neuer gesellschaftspolitischer Konfliktlinien?

Das politische Polarisierungspotenzial in der bundesrepublikanischen Demokratie ist in den vergangenen Jahren spürbar gestiegen. Das lässt sich an unterschiedlichen Themen ablesen; so etwa an den Auseinandersetzungen um Migrationsgesellschaft, Klimaschutz, europäische Integration und am vielfach diagnostizierten wachsenden Misstrauen vieler Bürgerinnen und Bürger gegenüber politischen Institutionen und Eliten – und nicht zuletzt am anhaltenden politisch-kulturellen Erdbeben durch den Einzug der AfD in die Parlamente. In der politikwissenschaftlichen Forschung ist bereits seit Längerem umstritten, worin genau die Ursachen für die aktuelle Konfliktivität der politischen Auseinandersetzungen liegen. Gemeinsam ist den meisten Erklärungsansätzen aber, dass sie soziologischen Großentwicklungen eine mitentscheidende Rolle einräumen.[1] Oft ist geschrieben worden, dass sich eine Verschärfung der Konfliktfronten zwischen dem eher urbanen, gebildeten kosmopolitischen Teil der Bevölkerung auf der einen und den eher ländlichen, gewerblich orientierten und sekuritätsorientierten Segmenten auf der anderen Seite vollziehe.[2] Von einem »neuen Cleavage« quer durch die bürgerliche Mitte ist die Rede, alternierend auch von neuen Konfliktlinien bzw. von »neue[n] Gegenpole[n] der gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland«[3]. Nicht wenige erblicken in den Wahlsiegen von AfD und Grünen die aktuelle oder kommende parteipolitische Gestalt dieses Cleavage, wähnen durch sie mithin das Konfliktfeld der nächsten Jahre abgesteckt.[4] Skeptische Stimmen wenden ein, dass es sich hier allenfalls um eine neue kulturelle Überformung traditioneller Sozialkonflikte handeln könne,[5] salopp: um alten Wein in neuen Schläuchen.[6] Häufig bleiben insbesondere Wahlanalysen unbefriedigend, weil sie zwar eine ganze Reihe struktureller Einflussgrößen nennen, deren kausalen Zusammenhang aber selten schlüssig zu erläutern vermögen. Oftmals wird das Explanandum (etwa das Wahlverhalten) verlegen auf neuartige kulturelle Spannungen (Wertverständnisse, Lebensstilpräferenzen etc.) zurückgeführt, welche die »harten« materiellen Interessengegensätze verdrängen oder zumindest überformen würden. So vermutet man die Emergenz eines neuen Cleavage zwischen weltoffenen Kosmopoliten und sekuritätsorientierten Kommunitaristen[7] auf der Grundlage von Einstellungstrends, speist diese Überlegungen aber kaum in belastbare und konzeptuell anspruchsvolle wahlsoziologische Analysen ein. Das Ergebnis wirkt konfus: Weil aktuelle Daten zeigen, dass die AfD-Wählerschaft keineswegs soziokulturell homogen ist – auch wenn das geschlossene Auftreten in der Migrationsfrage dies suggeriert –, kommen etwa Susanne Rippl und Christian Seipel zu dem Ergebnis, dass nur »kulturelle Bedrohungsgefühle«[8] die Wahl der AfD erklären könnten.

Höchste Zeit, sich um ein Verständnis begrifflicher Grundlagen zu bemühen. Für die empirische Erforschung politischer Mentalitätstrends in Niedersachsen ergeben sich aus dieser Diskussion folgende Fragen: Lassen sich neuartige Konfliktlinien ausmachen, die quer zu den traditionellen Frontstellungen – etwa Kapital vs. Arbeit – stehen und sich klar bestimmen lassen? Wie ergiebig ist es, sich einem solchen Phänomen mithilfe der klassischen Cleavage-Theorie zu nähern? Schließlich: Sind Veränderungen des Wahlverhaltens überhaupt die entscheidenden Indikatoren einer sich verändernden politischen Kultur?

Materielles und Kulturelles: Wahlverhalten als spätes Oberflächenphänomen

Denn so lautstark und bisweilen aggressiv tagespolitische Auseinandersetzungen auch geführt werden: Wann ist es überhaupt gerechtfertigt, von akuten Konfliktthemen auf einen Cleavage, d. h. auf eine tieferliegende, die jeweiligen einzelthematischen Friktionen vermittelnde Konfliktlinie – oder auch: »Hauptspannungslinie«[9] – zu schließen, welche sich langfristig auf die politische Kultur eines Landes auswirkt? Neue Parteien und deren Erfolg werden in der Parteienforschung zwar stets als Reaktionsbildung auf und Ausdruck von (alten oder neuen) gesellschaftlichen Konfliktlinien verstanden.[10] In diesen gesellschaftlichen Momenten, wo die bestehenden Parteien lediglich unzureichend auf die lebensweltlichen Veränderungen reagieren, die Bedürfnisse der Wählerinnen und Wähler ignorieren oder nur unzureichend wahrnehmen, so ist zu lesen, können neue Parteien entstehen und diese Bedürfnisse ansprechen.[11] Unklar bleibt aber häufig, wo die analytische Trennlinie zwischen tagesaktuellen Positionskonflikten und tieferliegenden Spaltungslinien zu ziehen ist.

Starke demokratische Parteien bündeln und kanalisieren gesellschaftspolitische Interessenlagen. Über diese Funktion des Agenten spezifischer Lebensrealitäten lässt sich das Schicksal von Parteien im Allgemeinen – wenn auch in funktionalistischer Engführung, aber doch mit einiger Plausibilität ­– erklären.[12] Schließlich zählt diese Aggregationsfunktion politischer Interessen und Vorstellungen, durchaus auch von diffusen Hoffnungen und Ängsten, zu den wichtigsten Aufgaben von Parteien. Verändern sich die Lebensrealitäten und Interessenlagen der Bürgerinnen und Bürger, führt das je nach Gemengelage der politischen Kräfteverhältnisse und nach Ablauf gewisser Trägheitsphasen zum Zugewinn oder Verlust von Stimmen und zum Auftauchen oder Verschwinden von Parteien. Sichtbaren Veränderungen im Parteiensystem gehen also in der Regel langjährige Verschiebungen im politischen Fühlen, Denken und Handeln der Bürgerinnen und Bürger voraus.

Gerade starke, auch kurzfristige Wählerbewegungen werden erst auf der Grundlage dieser Vorgeschichte verständlich, mehr noch: Sie stellen häufig nur den sichtbarsten Schlussakt mehrjähriger, ja bisweilen jahrzehntelanger Gärungsprozesse dar. Die entscheidenden und im Sinne politischer Kulturforschung aufschlussreichsten Bewegungen sind dann bereits vollzogen oder doch zumindest weit gediehen. Eike Hennig pointierte die Bedeutung von Wahlanalysen daher bereits 1989 folgendermaßen: Diese seien »aus interpretativer Sicht« »lediglich Mittel zum Zweck«; die Wahlanalyse sei stets »analytische Vorarbeit vor den analysegeleiteten Erklärungsversuchen, welche ohne die Vorschaltphase aber in Gefahr stehen, zu völlig beliebigen und subjektiven bzw. schulengebundenen Verstehensakten und Sinnrekonstruktionen zu verkommen«.[13]

Zwar beziehen sich diese Anmerkungen zunächst auf die Erklärungsversuche im Hinblick auf die Konsolidierung bestimmter sozialmoralischer Milieus[14] und darauf aufbauend auf die regional unterschiedlichen Parteierfolge bspw. der NSDAP. Dennoch sind die hier gewonnenen Einsichten von allgemeiner Bedeutung. Denn »Parteien sind Agenten von Milieus, aber ein Milieu kann als überparteilicher Sozialzusammenhang unterschiedliche Parteien gleichermaßen bestimmen.«[15] Veränderungen im Wahlverhalten können also durchaus auch auf veränderte Cleavage-Strukturen hindeuten; häufig aber verstellen der aufsehenerregende Neuigkeitswert und die Diversität kurzatmiger Deutungsangebote die Analyse der eigentlich tragenden politisch-kulturellen Umwälzungen.

Wer also etwas über mögliche gesellschaftspolitische Krisenherde herausfinden möchte, wer verstehen möchte, was die Menschen politisch umtreibt, der darf, so ließe sich mit Hennig nachdrücklich fordern, nicht bei reinen Wahlanalysen verweilen, sondern muss sich einen Weg zu den tieferliegenden, die Wahlabsichten konstituierenden Mentalitätstrends bahnen.

Was aber sind, gerade in Abgrenzung zu den recht spezifischen historiografischen Fragestellungen des Konzepts sozialmoralischer Milieus, überhaupt Blickrichtung und Anspruch der Cleavage-Theorie? Ein überfrachtender nomothetischer Rezeptionsstil scheint (gerade in Deutschland) viel von ihrer Grundintention zu verwischen. Man neigt zu einer mechanistisch-deterministischen Lesart, welche Cleavages auf die historische Bildfläche treten sieht, die sich in der Folge verstetigen und sich – wenn auch allmählich – automatisch in Veränderungen des Parteiensystems umsetzen. So ist es etwa im klassischen Definitionsversuch Franz Urban Pappis zu lesen: Der Cleavage sei ein »dauerhafter politischer Konflikt, der in der Sozialstruktur verankert ist und im Parteiensystem seinen Ausdruck gefunden hat«[16]. Oder: Der »Konfliktcharakter sozialer Spaltungen äußert sich in gruppenspezifischen politischen Einstellungen, Verhaltensweisen oder Mitgliedschaften.«[17] Kai Arzheimer und Harald Schoen wiederum reduzierten die Diskussion um die Cleavage-Theorie in den 2000er Jahren auf die Frage, »ob der klassische Cleavage-Ansatz auch im vereinten Deutschland noch dazu beitragen kann, Bundestagswahlverhalten zu erklären«[18].

Kurzum: Solle die Cleavage-Perspektive nützlich sein, so müsse sie eine Kausalerklärung des Wahlakts liefern – was auch impliziert, dass nur parteiförmige Konfliktlinien einer politikwissenschaftlichen Analyse wert seien. Da aber heute nicht mehr Kohle und Stahl,[19] sondern eine postindustrielle, zunehmend akademisierte und häufig prekär beschäftigte Angestelltenschaft den größten Teil der Erwerbswelt ausmacht, folgen aus einer solchen Lesart naheliegende Zweifel an der Cleavage-Theorie: Einstige Kollektivierungsagenten wie Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit und Religion hätten schlicht ihre sozialisatorischen Integrations- und Prägekräfte eingebüßt, die Aussagekraft derartiger Erklärungsmodelle – heruntergebracht auf einen Katalog tendenziell nutzloser Kausalfaktoren – sei mithin dezimiert.[20] Aus der Sicht von Martin Elff und Sigrid Roßteutscher musste man schon vor über einem Jahrzehnt zu dem Schluss kommen, dass die »Bedeutung sozialer Konfliktlinien für eine Erklärung zeitgenössischen Wahlverhaltens schwindet«[21] – und das, obwohl sie in ihren Untersuchungen eine ungebrochene Wirksamkeit von Cleavage-Strukturen konstatieren![22]

Eine als bloß soziologisierende Parteibindungslehre aufgefasste Cleavage-Theorie wäre in der Tat überflüssig. Doch derartige eingeübte Rezeptionsgewohnheiten wecken Zweifel. Gewiss bildete die Frage des Klassenwahlverhaltens (neben den Konflikten, welche die Bildung von Nationalstaaten begleiteten) das ursprüngliche Kernthema der Cleavage-Theorie, insbesondere das vermeintlich »irrationale«, »deviante« oder wenig »klassengerechte« Wahlverhalten der Industrie-Arbeiterschaft.[23] Doch schon die von Lipset und Rokkan ausgemachten klassischen und zu verschiedenen historischen Zeitpunkten sich formierenden vier Cleavages – Kapital vs. Arbeit, Kirche vs. Staat, Stadt vs. Land, Zentrum vs. Peripherie[24] – waren nicht auf die einfache Schablone rein materieller Interessenkonflikte oder bloßer Lebenslagen zu reduzieren. Selbstverständlich resultieren politische Werthaltungen, Einstellungen und Mentalitäten, auch Vorstellungen (ge-)rechter Ordnung nicht allein aus diesem Interessenfaktor, sondern stets auch aus einer gruppenspezifischen »Alltagsmoral«.[25] Sie speisen sich aus kulturell tradierten Gehalten und vermitteln moralische Auffassungen sowie Ansprüche auf individuelle oder kollektive Würde auch weit über ihren historischen Ursprung hinaus. Materielles und Kulturelles, so ließe sich folgern, konstituieren gleichermaßen die Struktur eines Cleavage. Und ist es überhaupt Prämisse dieses Zugangs, dass das oftmals träge und nur graduell variante Wahlverhalten stets auf Cleavage-Strukturen rückführbar sein muss – bzw. dass Cleavage-Strukturen immer parteiförmige Gestalt annehmen müssen? Ein genauerer Rückblick scheint erforderlich.

Cleavage, Sozialkultur, Deutungskultur, Milieu

Liesbet Hooghe und Gary Marks wiesen jüngst darauf hin, dass der Cleavage-Begriff schon bei seinen Urhebern Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan dynamischer konzipiert gewesen sei, als es gängige Rezeptionsgewohnheiten suggerieren: Zwar sei die prägende Kraft sozialer Spaltungen essenziell für die Genese von strukturellem Konfliktpotenzial, doch gebe es kein einheitliches Schema, in welches die verschiedenen lokalen wie nationalen Bedingungen zu pressen wären. Vielmehr überlagerten sich in der jeweils analysierten Gesellschaft die verblassenden mit den virulenten Cleavages; während manche Konfliktlinien schlicht ihre Wirksamkeit einbüßten, fänden andere temporäre oder dauerhafte institutionalisierte Formen.

Kurzum: Jede Gesellschaft weise ein regelrechtes Flechtwerk historisch quer zueinander liegender – zu verschiedenen historischen Zeitpunkten entsprungener, kurzfristig wie langfristig virulenter – Cleavage-Strukturen auf. Vorangegangene Konflikte, Konfliktgeschichten und Konflikt-Institutionalisierungen präformierten die darauffolgenden und eröffneten so Möglichkeitsräume für die Bindekräfte des Alten und die Verhandlungsmodi des Neuen. Die historische Schwerfälligkeit der damit verbundenen Umwälzungen, so Hooghe und Marks weiter, erkläre deren verzögerten Durchbruch. Veränderungen des Parteiensystems erfolgten nach einer langen Vorgeschichte, wenn auch schließlich in oftmals unerwartet disruptiv erscheinender Weise.[26]

Tatsächlich wiesen Lipset und Rokkan das Rätsel der »conflict-integration dialectic« – d. h. die Frage, über welche Wege und warum sich bestimmte Konfliktlinien in Parteiensystemen institutionalisieren, während manche Cleavages eben keine parteipolitische Repräsentation finden – als ihren zentralen Gegenstand aus.[27] Cleavages, so heißt es, »do not translate themselves into party oppositions as a matter of course: there are considerations of organizational and electoral strategy; there is the weighting of payoffs of alliances against losses through split-offs; and there is the successive narrowing of the ›mobilization market‹ through the time sequences of organizational efforts«[28].

Das Gelingen der Transformation von Cleavages in parteipolitische Kräfteverhältnisse hänge von der Überwindung mehrerer Hürden ab. Deshalb stünden gefrorenen Parteienkonstellationen in einigen Ländern Neuanordnungen von Wahlmustern in anderen gegenüber. Die jeweiligen nationalen Parteiensysteme werden daher als »historically given ›packages‹ in […] different systems«[29] aufgefasst. Stets habe es einer kritischen Phase bedurft, in denen Cleavages zu entscheidenden Konfliktgeneratoren aufsteigen: Zentrum und Peripherie, so Lipset und Rokkan, geraten während Reformation und Gegenreformation im 16. und 17. Jahrhundert aneinander, Staat und Kirche während der nationalen Revolutionen 1789 ff., Land und Industrie während der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, schließlich Kapital und Arbeit verstärkt im Gefolge der russischen Revolution ab 1917.[30]

Die kritische Phase des neuen Transnationalismus-Cleavage, so die in diesem Sinne orthodoxe Argumentation von Hooghe und Marks, vollziehe sich bereits seit einigen Jahren, und zwar international ungleichzeitig. Den verschiedenen auslösenden Zeitpunkten in den jeweiligen Staaten entsprechen unterschiedliche Konsequenzen, auch auf der Ebene parteiförmiger Reaktionen und Umbildungen. So auch in Europa: Was im europäischen Süden während der Eurokrise entlang der deutungskulturellen Thematik der EU-Binnenintegration verhandelt wurde, verursachte im europäischen Norden und Osten während der Migrationsbewegungen von 2015/16 eine Hausse rechtspopulistischer Deutungsangebote.[31]

Allein dieser Vergleich erhellt nicht nur die strukturellen Ursachen der staatenübergreifenden Emergenz rechts- und linkspopulistischer Parteien (nebst antipopulistischer Gegentendenzen), sondern auch die langfristige Kontingenz dieser Institutionalisierung des Konfliktpotenzials zwischen Befürworter/-innen und Gegner/-innen der Transnationalisierung von Ökonomie, Politik und Lebenswelt. Oder mit Blick auf die bundesrepublikanische Gesellschaft: Einerseits macht der Verweis auf die historische Genese nationaler Cleavage-Schicksale verständlich, warum die aktuell sichtbare Polarisierung zwischen AfD und Grünen angesichts schwächelnder klassischer Volksparteien die Rolle der langfristigen Institutionalisierung des Transnationalismus-Cleavage einnehmen kann; andererseits wird aber auch deutlich, dass sich diese seit einigen Jahren zunehmend virulente Konfliktlinie keineswegs in dieser Gestalt verstetigen muss. Ähnlich wie im Falle des sozialmoralischen Milieus müssen Konfliktlinien aggregiert, gepflegt, angeheizt und durchaus auch populistisch vermarktet werden, um langfristig in die Kanäle parteilicher Organisationsformen fließen zu können.[32]

Somit ist naheliegend, das Wahlverhalten im Verständnis einer qualitativen politischen Kulturforschung nach Karl Rohe[33] als Resultat und Ausprägung von politisch-kulturellen Konfliktlinien, also als sichtbarsten Ausdruck politischer Kräfteverhältnisse in doppelter Hinsicht aufzufassen: Als Teil der diskursiven Aushandlung ist das Wahlverhalten Teil der »Deutungskultur«, mithin die berühmte Spitze des Eisbergs. Klassische Einstellungsforschung aber unterschlägt das Wechselspiel deutungskultureller Erscheinungen mit den tieferliegenden, nicht thematisierten Selbstverständlichkeiten und Handlungsmodi des politischen Lebens und Denkens ­– jenes schwer greifbaren »objektiv-geistige[n] Strukturzusammenhang[s]«[34], der politisch-kulturelle Mentalitätsbestände fundiert und von Rohe als »Sozialkultur« bezeichnet wurde: »Deutungskultur ist gleichsam eine Kultur der Kultur, deren Sinn und Zweck nicht zuletzt darin besteht, Sozialkultur zu thematisieren.«[35]

Sicher könnten Veränderungen des Wahlverhaltens trotz des Verschwindens industriegesellschaftlicher Strukturen immer auch aus Milieus oder zumindest einer teil- bzw. subkulturellen Lebensweise hervorgehen, d. h. als durch spezifische Lebensrealitäten konstituierte und kollektiv praktizierte Sozialmoral.[36] Allerdings ist fraglich, inwiefern heute überhaupt noch kohäsive milieu-ähnliche Strukturen (jedenfalls nach dem Muster der klassischen Milieuparteien der Kaiserreichszeit[37]) existieren, die eine solche bündelnde, vermittelnde und damit immer auch netzwerkend veranstaltende Mentalitätsbildungsfunktion auszuüben vermögen. Vor allem aber überfordert dieses Erkenntnisinteresse das vergleichsweise bescheidene Ziel der Cleavage-Perspektive: Aufgabe einer aktuellen qualitativen politischen Kulturforschung ist zunächst, Strukturveränderungen in den gesellschaftlich wirksamen Mentalitätsbeständen auszumachen, d. h., sie überhaupt erst zu identifizieren; die Genese dieser Veränderungen zu klären, ist eine zweite.

Cleavage-Schichtung und Mentalität: Das Forschungsdesiderat qualitativer politischer Kulturforschung in Niedersachsen

Worin besteht also das Potenzial der Cleavage-Perspektive? Zunächst: Es existieren mentalitätsbildende Konfliktlinien, die wiederum aus sich verändernden Lebensrealitäten erwachsen. Seit einigen Jahren vollziehen sich unverkennbar allgemeine sozialstrukturelle Veränderungen, die sowohl soziologisch als auch populärwissenschaftlich häufig als Rückkehr zu einer postmittelständischen Klassengesellschaft diskutiert werden, welche sich entlang der unterschiedlichen Ressourcen von Vermögen, Bildung und Netzwerkzugängen konstituiere.[38] Dass sich damit die Grundstrukturen politischer Interessenkonflikte mitsamt ihrer jeweiligen Abbildung in den politisch-kulturellen Mentalitätsbeständen verändern, ist eine plausible Konsequenz. Ferner: Ein Cleavage – eine grundierende Konfliktlinie – wird als Amalgam aus »harten« sozialstrukturellen Interessengegensätzen und deren jeweils kontingenter historischer, kultureller und sozialmoralischer Kanalisierung verständlich. Er beeinflusst nicht nur die zu einem gegebenen Zeitpunkt auffälligen deutungskulturellen Auseinandersetzungen, sondern wirkt insofern mentalitätsbildend, als er in die Tiefenschichten politischer Sozialkultur hineinreicht. Dies sind die Indikatoren, welche die Rede von einem Transnationalismus-Cleavage plausibel machen, der sich jederzeit entlang von deutungskulturell verhandelten Themen wie nationalstaatlicher Kompetenzdiffusion, der Deregulierung von Märkten, der Migrations- oder der Klimapolitik entzünden kann.

Die Unerbittlichkeit aktueller Auseinandersetzungen um ökologische Themen[39] etwa erklärt sich wahrscheinlich nicht allein aus der apokalyptischen Drohung vieler – fraglos besorgniserregender – Schreckensszenarien, sondern eben auch aus der Zugehörigkeit zum grundierenden Problemkomplex Transnationalismus. Dieser hat – durch ressourcenstarke und gut vernetzte »liberale Eliten« durchaus politisch forciert,[40] wenn auch gewiss nicht ausgelöst – spätestens seit den 1990er Jahren die retrospektiv relative Beschaulichkeit der internationalen Nachkriegsordnung abgelöst und birgt erhebliches, in sämtliche Lebensbereiche hineinragendes Konfliktpotenzial.

Für die Cleavage-Perspektive ist die Identifikation von mentalitätsbildenden Konfliktstrukturen erkenntnisleitend. Sie ermöglicht, die bedingenden historisch gewachsenen und kulturell überformten Konfliktschichtungen wie Aushandlungsgewohnheiten in die politikwissenschaftliche Analyse einzubeziehen. Sie nähert sich der politischen Sozialkultur und ihren Träger/-innen – den denkenden und empfindenden Individuen – im Bemühen um ein alltagsnahes Verständnis der sie bewegenden Erfahrungen und Wahrnehmungen, ihrer Interessen, Ängste und Hoffnungen. Sie umgeht genau genommen gerade jene künstliche Distanz kathederwissenschaftlicher Lehrgehalte, wie sie das Wort »Theorie« bisweilen impliziert.

Natürlich ist die Cleavage-Perspektive, ähnlich wie viele andere Zugänge und Ansätze in den Sozialwissenschaften, nicht immun gegen Überschätzungen oder schematische Lesarten. Insbesondere ist vor den folgenden Fallstricken zu warnen:

  • Die Cleavage-Perspektive liefert kein Set unumstürzlicher Gesetzmäßigkeiten des politischen Lebens (eben keine Parteibindungslehre).
  • Sie gestattet keinen Kurzschluss eines »soziologischen Determinismus«[41]. Die Vorstellung einer unmittelbaren Abbildung gesellschaftlicher Strukturveränderungen in politisch ausgetragene Konfliktformen stellt eine mechanistische Verkürzung dar. Daher muss auch der Versuch scheitern, die Emergenz eines neuen Cleavage mit dem Verweis abzustreiten, den Grünen sei einfach »gelungen, der SPD ihre Position als stärkste Kraft im linken Lager streitig zu machen«[42], so als handle es sich bei ihnen um eine Art neue Interessenpartei der arbeitenden Bevölkerung.
  • Nationale wie regionale Cleavage-Schicksale sind stets kontingent, ihre Übersetzung in Parteiensysteme keineswegs ausgemacht. Auch der gelungene Nachweis neuer Cleavage-Strukturen besagt noch nichts über die Aussichten des Versuchs politischer Eliten, ebendiesen tatsächlich praktisch in den Strukturen des Parteiensystems zu institutionalisieren: »Die Politisierung einer gesellschaftlichen Hauptspannungslinie muß stets auch als ein politischer Auswahl- und Entscheidungsprozeß politischer Eliten begriffen werden. […] Der Wandel von Parteiensystemen kann seine Ursache nicht nur darin haben, daß ihre gesellschaftliche und kulturelle Basis gleichsam ›weggerutscht‹ ist, sondern auch darin, daß politische Eliten es bewußt oder unbewußt versäumt haben, die ›politische Koalition‹ mit bestimmten Wählersegmenten stets aufs Neue symbolisch zu erneuern.«[43]

Das Potenzial der Cleavage-Perspektive liegt darin, ein heuristisches Raster der politischen Kulturforschung zu stiften, welches dabei behilflich sein kann, a) in quantitativ-empirischer Hinsicht Einstellungsverteilungen und deren Trends zu sortieren sowie b) in qualitativ-empirischer Hinsicht die tieferliegenden politisch-mentalen Sinnstrukturen der niedersächsischen Bevölkerung (Deutungsmuster, Orientierungen, Werthaltungen usw.) zu rekonstruieren und deren Entwicklung im historischen Längsschnitt zu deuten. Sie gestattet Rückschlüsse auf die Gesteinsverschiebungen politischer Sozialkultur, die sich unterhalb der eher volatilen Einstellungs- und Meinungskonjunkturen vollziehen. Als konzeptuelle Rahmung für die Studien des »Niedersächsischen Demokratie-Monitors« (NDM) öffnet sie den Blick für den Zustand jener Mentalitätspolster, welche die politische Kultur maßgeblich stabilisieren. Zu den entscheidenden Fragen zählt dabei, ob sich in diesem Bundesland der vergleichsweise starken traditionellen Volksparteien

  • inmitten der beobachteten Mentalitätstrends Strukturen eines neuen Cleavage nachweisen lassen; außerdem
  • inwiefern sich das durch diesen Cleavage vermittelte Konfliktpotenzial in der Alltagserfahrung der niedersächsischen Bevölkerung realisiert; und
  • inwiefern der neue Cleavage sich mit den – nachweislich ungebrochen wirksamen[44] – traditionellen Cleavage-Strukturen verbindet, sie überlagert oder sogar ersetzt.

Mithilfe des Rohe’schen Verständnisses politischer Kultur kann ein naheliegender Einsatzpunkt der Analyse bezeichnet werden: Sozialkultur und Deutungskultur werden »durch gemeinsame Themen, durch ›points of reference‹ zusammengehalten«[45]. Diese gilt es aufzuspüren und auf ihre tieferliegenden Triebkräfte abzuklopfen. Denn gerade weil eine aktualitätssensible qualitative politische Kulturforschung Wählerbewegungen nicht als entscheidendes Explanandum, sondern als Indiz fortgeschrittener Strukturveränderungen der politischen Kultur wertet, erlaubt die Cleavage-Perspektive aussagekräftige Befunde über den Zustand der niedersächsischen Demokratie.

 

[1] Vgl. Jesse, Eckhard: Das Aufkommen der Alternative für Deutschland. Deutschland ist kein Ausnahmefall mehr, in: Brinkmann, Heinz Ulrich/Panreck, Isabelle-Christine (Hg.): Rechtspopulismus in Einwanderungsgesellschaften. Die politische Auseinandersetzung um Migration und Integration, Wiesbaden 2019, S. 97–131, hier S. 118 f.

[2] Vgl. bspw. Koppetsch, Cornelia: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld 2019.

[3] Franz, Christian/Fratzscher, Marcel/Kritikos, Alexander S.: Grüne und AfD als neue Gegenpole der gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland, in: DIW Wochenbericht, Jg. 86 (2019), H. 34, S. 591–603.

[4] Siehe ebd.

[5] Vgl. Manow, Philip: Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2019.

[6] Vgl. Decker, Frank/Ruhose, Fedor: Vom moderaten zum polarisierten Pluralismus. Wie integrationsfähig ist das deutsche Parteiensystem?, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 8 (2019), H. 3, S. 34–42, hier S. 37.

[7] Vgl. Merkel, Wolfgang: Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Harfst, Philipp/Kubbe, Ina/Poguntke, Thomas (Hg.): Parties, Governments and Elites. The Comparative Study of Democracy, Wiesbaden 2017, S. 9–23.

[8] Rippl, Susanne; Seipel, Christian: Modernisierungsverlierer, Cultural Backlash, Postdemokratie. Was erklärt rechtspopulistische Orientierungen?, in: Kölner Zeitschrift für Sozialpsychologie, Jg. 70 (2018), S. 237–254, hier S. 246.

[9] Rohe, Karl: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 24.

[10] Siehe Lösche, Peter: Kleine Geschichte der deutschen Parteien, Stuttgart 1994, S. 22 ff.

[11] Vgl. Jun, Uwe: Parteienforschung, in: Anders, Uwe (Hg.): Parteien in Deutschland. Krise oder Wandel?,

Schwalbach 2009, S. 11–38, hier S. 15 f.

[12] Vgl. Walter, Franz/Dürr, Tobias: Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 213–219.

[13] Hennig, Eike: Das sozialmoralische Milieu und seine Ausgestaltung vor Ort: Die historische Wahlanalyse kleiner Gemeinden und Stimmbezirke, in: Best, Heinrich (Hg.): Politik und Milieu. Wahl- und Elitenforschung im historischen und interkulturellen Vergleich, St. Katharinen 1989, S. 119–154, hier S. 132.

[14] Vgl. Lepsius, M. Rainer: Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Abel, Wilhelm u.a. (Hg.): Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 371–393.

[15] Hennig: Das sozialmoralische Milieu und seine Ausgestaltung vor Ort, S. 151.

[16] Pappi, Franz Urban: Sozialstruktur, gesellschaftliche Wertorientierungen und Wahlabsicht. Ergebnisse eines Zeitvergleichs des deutschen Elektorats 1953 und 1976 [1977], in: Historical Social Research, Supplement, H. 27/2015, S. 81–121, hier S. 82.

[17] Pappi, Franz Urban: Konfliktlinien, in: Nohlen, Dieter (Hg.): Wörterbuch Staat und Politik, München 1991, S. 301–306, hier S. 302. Ähnlich auch Martin Elff und Sigrid Roßteutscher: »Die cleavage-Theorie thematisiert die politische Bindung sozialer Gruppen an spezifische Parteien.« Elff, Martin/Roßteutscher, Sigrid: Die Entwicklung sozialer Konfliktlinien in den Wahlen von 1994 bis 2005, in: Gabriel, Oscar W./Weßels, Bernhard; Falter, Jürgen W. (Hg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2009, S. 307–327, hier S. 321 f.

[18] Arzheimer, Kai/Schoen, Harald: Mehr als eine Erinnerung an das 19. Jahrhundert? Das sozioökonomische und das religiös-konfessionelle Cleavage und Wahlverhalten 1994–2005, in: Rattinger, Hans/Grabiel, Oscar W./Falter, Jürgen W. (Hg.): Der gesamtdeutsche Wähler. Stabilität und Wandel des Wählerverhaltens im wiedervereinigten Deutschland, Baden-Baden 2007, S. 89–112, hier S. 90.

[19] Vgl. Raphael, Lutz: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Frankfurt a. M. 2019.

[20] Vgl. Hooghe, Liesbet/Marks, Gary: Cleavage theory meets Europe’s crises: Lipset, Rokkan, and the transnational cleavage, in: Journal of European Public Policy, Jg. 25 (2018), H. 1, S. 109–135, hier S. 126.

[21] Elff/Roßteutscher: Die Entwicklung sozialer Konfliktlinien, S. 307.

[22] »Weder im einen noch im anderen Fall kann von einem Schwinden der traditionellen sozialen Konfliktlinien die Rede sein.« Ebd., S. 322.

[23] Vgl. Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, S. 18 und – ebendort zitiert – Parkin, Frank: Working-class Conservatives: a theory of political deviance, H. 18/1967, S. 278-290.

[24] Siehe Lipset, Seymour Martin/Rokkan, Stein: Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives, New York/London 1967, S. 47.

[25] Lepsius, M. Rainer: Kulturelle Dimensionen der sozialen Schichtung [1963], in: Ders. (Hg.): Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 96–116, hier S. 111.

[26] Vgl. ebd., S. 126 f.

[27] Lipset/Rokkan: Party Systems and Voter Alignments, S. 5 u. S. 9.

[28] Ebd., S. 26.

[29] Ebd., S. 3.

[30] Ebd., S. 47.

[31] Vgl. Hooghe/Marks: Cleavage theory meets Europe’s crises, S. 116–125.

[32] Vgl. grundlegend Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur.

[33] Vgl. Rohe, Karl: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven in der Politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift, Bd. 250 (1990), S. 321–346.

[34] Rohe, Karl: Politik. Begriffe und Wirklichkeiten. Eine Einführung in das politische Denken, Stuttgart 1994, S. 162.

[35] Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, S. 17.

[36] Vgl. ebd., S. 19.

[37] Vgl. Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur.

[38] Vgl. etwa Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Frankfurt a. M. 2016; Hartmann, Michael: Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden, Frankfurt a. M./New York 2018; Reckwitz, Andreas: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Frankfurt a. M. 2019.

[39] Vgl. Neumann, Amelie: Von Wölfen, Windrädern und Weltuntergang – oder?, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 20.10.2019, URL: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/von-woelfen-windraedern-und-weltuntergang [eingesehen am 29.01.2020]

[40] Vgl. Nickel, Carsten: Rückbau der Gesellschaft, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. Jg. 73 (2019), H. 839, S. 27–36.

[41] Ebd., S. 24.

[42] Decker/Ruhose: Vom moderaten zum polarisierten Pluralismus, S. 35.

[43] Vgl. Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland , S. 25.

[44] Vgl. bspw. Arzheimer /Schoen: Mehr als eine Erinnerung an das 19. Jahrhundert?

[45] Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, S. 18.