Bürgerliche Maskerade?Zum Zusammenhang von Ritualisierungs- und Radikalisierungsprozessen bei PEGIDA zwischen Oktober 2014 und November 2015
Ein Blick auf das Auftreten der ersten PEGIDA-Straßenproteste, die am 20. Oktober 2014 in Dresden ihren Anfang nahmen, d. h. auf die recht spartanisch anmutende technische Ausstattung oder einen zur Bühne umgestalteten Imbisswagen,[1] verfestigt recht schnell einen Eindruck: Etablierte, abgebrühte, auf vielerlei Ressourcen zurückgreifende Bewegungsunternehmer waren hier nicht am Werk. Und dem war auch so. Die Personen, die an der Organisation der ersten und nachfolgenden »Abendspaziergänge« beteiligt waren, u. a. Lutz Bachmann als PEGIDA-Gründer, Kathrin Oertel und weitere zehn Köpfe des sogenannten Organisationsteams, wiesen lediglich geringe Erfahrung in der Vorbereitung und Durchführung von Protesten auf.[2] Auch waren sie keine rhetorischen Talente. Doch was noch nicht war, sollte noch werden.
Zwar mauserte sich Lutz Bachmann nicht gerade zu einem filigranen Wortjongleur, doch waren immerhin Entwicklungen hin zu mehr Bürokratisierung und Professionalisierung zu beobachten, angestoßen insbesondere durch die Gründung des Vereins Pegida e. V. am 19. Dezember 2014. Die Vereinsgründung überführte bis dahin aufgebaute Strukturen in eine institutionelle, rechtlich geregelte Basis – als Stützpfeiler für die Fortsetzung des Straßenprotests. So folgten u. a. solidere Finanzen, die eine Professionalisierung der technischen Ausstattung sowie die Planung von »Begegnung[en] der Bürger zum Gedankenaustausch, Kultur- und Weiterbildungsveranstaltungen, Initiativen und Aufklärungsaktionen«[3] ermöglichten. Dies alles war Ausdruck eines Lernprozesses, der sich im weiteren Entwicklungsverlauf von PEGIDA auch im Ablauf ihrer Proteste widerspiegelte.
Nach anfänglich unterschiedlichen Mobilisierungserfolgen und Verschiebungen innerhalb des personellen und organisatorischen Rahmens bei PEGIDA[4] bildete sich recht zügig ein durchorganisierter und ritualisierter Ablauf heraus,[5] der die Protesthandlungen strukturierte und seitdem weitestgehend unverändert geblieben ist. Dieser besteht aus dem Verlesen der Demonstrationsregeln, aus Redebeiträgen unterschiedlicher Redner*innen und darauf bezogenen Sprechchören des Publikums während der Kundgebungen und einem anschließenden »Abendspaziergang« als Demonstrationsmarsch durch Dresden, bevor die Veranstaltung durch das gemeinsame Singen der Nationalhymne während der Abschlusskundgebung ihren Ausklang findet.
Darüber hinaus beobachtete die Forschung parallel zur Ritualisierung des Protestablaufs Radikalisierungsprozesse. Zwar herrscht Uneinigkeit über die Radikalisierung von politischen Einstellungen und Meinungen der PEGIDA-Demonstrierenden;[6] doch konstatierten Philipp Currle et al.[7] für den Zeitraum vom 10. November 2014 bis zum 21. Dezember 2015 eine Radikalisierung der Redeinhalte – wobei dies Julian Schenke et al. zufolge größtenteils auf den »Import der radikaleren Positionen durch Gastredner*innen, die in ihrem Vokabular krasser und schärfer ausfielen als die des Pegida-Organisationsteams«[8], zurückzuführen sei.
Die Reden sprengten Sagbarkeitsgrenzen und verhalfen rassistisch motivierten Gewalttaten zu größerer öffentlicher Akzeptanz und Legitimität.[9] Inwiefern dies PEGIDA-Demonstrierende und andere Bürger*innen sogar darin bestärkt haben könnte, jenseits des Straßenprotests Gewalttaten zu verüben, war Diskussionsgegenstand medialer Diskurse – sei es anhand der These, dass PEGIDA-Organisatoren bei Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte im Dezember 2014 als »geistige Brandstifter«[10] fungiert hätten, oder durch die weiterführende Frage, ob bei dem Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker PEGIDA »mitgestochen« habe.[11]
PEGIDA wird also eine gesellschaftliche Wirkung attestiert, die eine prozesshafte Entwicklung der bei PEGIDA beobachteten Radikalisierungsprozesse im Kontext des Straßenprotests hin zu derlei Entwicklungen auf Handlungs- bzw. Aktionsebene außerhalb des Protestgeschehens andeutet. Dabei verliefen die ritualisierten Proteste parallel zu diesen Vorkommnissen jedoch zumeist friedlich und gewaltfrei[12] bzw. zumindest im Schnitt weniger gewalttätig als andere Proteste rechter Gruppierungen.[13]
Mögliche Zusammenhänge zwischen den parallel verlaufenden Radikalisierungs- und Ritualisierungsprozessen in dem hier zugrunde liegenden Untersuchungszeitraum zwischen Oktober 2014 und November 2015 sind indes bislang unterbelichtet geblieben und sollen daher im vorliegenden Artikel in den Blick genommen werden.
Beförderung der Radikalisierung von Slogans und Symboliken durch die Ritualisierung des Straßenprotests
Die Reden bei PEGIDA in Dresden wurden im Untersuchungszeitraum von Mitgliedern des Organisationsteams und von Gastredner*innen gehalten. Sie versuchten, Problemverständnisse, Zielsetzungen und Forderungen zu einem kohärenten Deutungsrahmen zu verbinden. Wie bereits erwähnt, radikalisierten sich die Inhalte der Reden[14] zwischen Oktober 2014 und November 2015 und damit die thematischen Kernkategorien PEGIDAs »wie Elitenkritik, verbale Angriffe auf den Islam und auf Muslime sowie eine Abwertung von allem was von Pegida als ›links‹ klassifiziert wird«[15]. Während bspw. noch vor der Spaltung des Organisationsteams im Januar 2015 teilweise zwischen verschiedenen Politiker*innen bzw. unterschiedlichen »Politik- oder Problemfeldern«[16] differenziert worden sei, nahm danach »die Pauschalisierung zu, und es entwickelte sich [eine] allgemeine Politiker- und Parteienverdrossenheit«[17] – dies vor allem gegenüber Regierungsmitgliedern auf Landes- bzw. Bundesebene.[18] Negativ konnotierte Generalisierungen über den Islam nahmen zu.
Insbesondere mit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise im Sommer 2015 als neuem thematischen Fixpunkt wurde der Islam als generell gefährlich und dessen religiöse Anhänger*innen pauschal als kulturell nicht anpassungsfähig und -willig diffamiert.[19] Auch nahmen verschwörungstheoretische Tendenzen zu. Exemplarisch: Die aus muslimischen »Flüchtlingen« bestehende »islamistische Geheimarmee« würde die vor Wien gescheiterten osmanischen Eroberungspläne Europas aus dem 17. Jahrhundert kriegerisch fortführen wollen.[20] Die radikalisierte Symbolik bei PEGIDA zeigte sich für eine breitere Öffentlichkeit wohl am augenfälligsten im PEGIDA-Galgen, welcher der Bewegung noch einmal kurzfristig ein Comeback in medialen Berichterstattungen und politischen Diskussionen bescherte[21] und zu den größten Mobilisierungserfolgen zwischen Dezember 2014 und Januar 2015 führte,[22] die danach jedoch – trotz der sogenannten Flüchtlingskrise als potenziellem Gelegenheitsfenster – ausblieben. Gründe könnten darin liegen, dass statt PEGIDA die AfD besonders von zu jener Zeit herrschenden gesellschaftlichen Stimmungslagen profitierte[23] und auch die Öffentlichkeit[24] zunehmend ihr Interesse verlor.
Dreierlei Aspekte – die Radikalisierung der Reden und der Symbolik, die ausbleibenden Mobilisierungserfolge und das gesunkene öffentliche Interesse an PEGIDA nach Januar 2015 – lassen sich auch auf die Ritualisierung des Protestablaufs zurückführen. Denn das öffentliche Interesse an PEGIDA bzw. der Anreiz für die erneute Teilnahme bei Anhänger*innen, die sich nicht so stark mit dem Straßenprotest an sich identifizierten, speiste sich insbesondere aus dem »Event-Charakter«[25] PEGIDAs, der anfänglich vom Neuen, Aufregenden und Provokanten ausging. Durch ständige Wiederholung erschien der Straßenprotest jedoch nach einer gewissen Zeit innovationslos und normal[26] – und somit in der Konsequenz weniger reizvoll für eine dauerhafte Berichterstattung bzw. für eine Protestteilnahme, deren Motivation vor allem in der Erlebnisorientierung gründete. Reden, Symbole und Banner müssen sich zwecks Prävention schwindenden öffentlichen Interesses und sinkender Teilnehmendenzahlen infolgedessen beständig übertreffen und für neue Überraschungs- und Empörungsmomente sorgen, um den »Event-Charakter« aufrechtzuerhalten.[27] Dies ist möglich, indem Problemverständnisse, Forderungen und Zielvorstellungen durch Tabubrüche verschärft präsentiert, verbale Angriffe auf politische Gegner*innen gehäuft und »neue Aufgeregtheiten« inszeniert und skandalisiert werden.[28] Doch konnten auch die radikaleren Reden und Symboliken im weiteren Zeitverlauf nicht den mit einer Ritualisierung einhergehenden Tendenzen in Richtung schwindender Teilnehmendenzahlen und eines Absinkens des öffentlichen Interesses vollends entgegenwirken. Allerdings kann eine solche Ritualisierung nicht nur die genannten Kehrseiten aufweisen, sondern auch äußert nützlich für eine Protestbewegung sein.
PEGIDAs Rituale sowie ihre Relevanz für die Außen- und Binnenwirkung des Straßenprotests im Wandel
In erster Linie ist es möglich, dass Rituale eine starke Identifikation mit dem Protest und überdies die Bildung kollektiver Zugehörigkeitsgefühle bzw. die Weiterentwicklung und Stabilisierung der kollektiven Identität fördern.[29] Diese kann sich prozesshaft aus der wöchentlichen Teilnahme an einem ritualisierten Straßenprotest bei den Teilnehmenden entwickeln und letztlich die Herausbildung einer »Stammklientel« begünstigen, die aufgrund ihrer starken Identifikation mit dem Protest nicht vorrangig wegen dessen »Event-Charakter[s]«[30] teilnimmt.
Darüber hinaus boten die Rituale bei PEGIDA zum Zeitpunkt größerer Mobilisierungserfolge zwischen Dezember 2014 und Anfang Januar 2015 den Protestierenden eine gewisse Sicherheit[31] und Orientierungshilfe. Denn: Das zu jener Zeit sich wöchentlich stark verändernde Teilnehmendenfeld wies zwar Gemeinsamkeiten auf – sozioökonomisch tendenziell vorwiegend der Mittelschicht Sachsens angehörend und sich, laut Hans Vorländer et al., trotz teils rechtskonservativer bis rechtsextremer Einstellungen selbst politisch in der gesellschaftlichen Mitte verortend.[32] Jedoch fehlten eine gemeinsame Protestidentität sowie protesttypisches Handlungswissen, da der der Großteil der Protestierenden, wie eben auch die Organisator*innen, über wenig Protesterfahrung verfügte.[33]
Die Ritualisierung unterstützte den notwendigen Lernprozess über gewisse Konventionen des Protestierens und bot die Grundlage für die Vermittlung kollektiver Erzählungen, Leitwerte, Protestideale und Verhaltensanweisungen. Ein Medium dafür stellte das direkt zu Beginn einer jeden PEGIDA-Kundgebung wöchentlich wiederholte Vorlesen der Demonstrationsregeln dar, das zugleich den Rahmen für ein gewaltfreies Protestverhalten vorgeben sollte. So wurde bspw. am 16. November 2015 von Siegfried Däbritz dazu aufgerufen, »den Spaziergang ruhig und mahnend abzuhalten, die Fahnenstangen noch ein Stück runterzunehmen. Denn das ist die stärkste Waffe, die wir haben. Diese Ruhe.«[34] Zur Absicherung des friedlichen Protestablaufs rekrutierte PEGIDA für die montäglichen Demonstrationen zusätzlich Ordner, die sich rund um die Demonstrierenden verteilten, um den Protest sowohl nach innen als auch nach außen abzusichern bzw. abzugrenzen und die Befolgung der Demonstrationsregeln sicherzustellen.[35]
Relevant waren all diese Vorkehrungen vor allem zur Anfangszeit von PEGIDA. Als Teil der Protestrituale stellten sie aus der Perspektive PEGIDAs, neben der nach innen gerichteten Einheit,[36] im Kontext der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit auch Handlungsorientierungen hin zu einer gewaltfreien Reaktion gegenüber den vermeintlichen Provokationen der von PEGIDA als gewaltbereit dargestellten Gegendemonstrant*innen[37] dar. Damalige Kategorisierungen von Politiker*innen und von Medienvertreter*innen, die Organisator*innen und Anhänger*innen von PEGIDA als gewaltbereit und rechtsextrem einordneten und sie als »›Rassisten‹, ›Pack‹, ›brauner Mob‹, ›Nazis in Nadelstreifen‹«[38] bezeichneten, sollten damit Lügen gestraft werden. Den Redner*innen ging es um die Verbreitung und wöchentliche Inszenierung der Vorstellung, dass PEGIDA zwar rechts sei, »aber deswegen noch lange nicht rechtsextrem«[39].
Damit das glaubhaft erscheinen konnte, musste man von Gruppierungen wie etwa HoGeSa (Hooligans gegen Salafisten), die zu einer ähnlichen Zeit gegen die »Islamisierung des Abendlandes« martialisch aufmarschierten, für die Öffentlichkeit unterscheidbar sein und an den Demonstrationszügen teilnehmende, gewaltbereite neonazistische Kader und Gruppierungen[40] zur friedlichen Teilnahme disziplinieren. Diese Selbstinszenierung sollte durch die Protestrituale bewerkstelligt werden, mit dem Ziel, in der medialen Rezeption die Selbstdarstellung PEGIDAs als Protestbewegung zu befördern, die für Beobachter*innen eine klare Abgrenzung nach rechts außen überzeugend suggerieren sollte. PEGIDA sollte nicht mit gesellschaftlichen Denkmustern in Verbindung gebracht werden, die Proteste von rechts mit Gewalt gleichsetzen,[41] sondern einen grundsätzlich demokratisch-bürgerlichen Eindruck vermitteln und somit als »Protest der Mitte« gelten, der nicht gewaltvoll, sondern friedlich verläuft.
Effekte der Ritualisierung und Radikalisierung auf die Stabilisierung des Straßenprotests im Kontext ausbleibender Mobilisierungserfolge
Mit dem bereits erwähnten Absinken des öffentlichen Interesses und im Hinblick auf gesunkene Teilnehmendenzahlen ging die Relevanz der Protestrituale für die Außenwirkung im Folgenden zurück, während diese für die Binnenwirkung weiterhin wichtig waren. Zu einer Zeit, in der sich PEGIDA durch die Pflege und Verfestigung kollektiver Zugehörigkeiten konsolidierte,[42] untermalten das gemeinsame Singen der Nationalhymne und die seit dem ersten PEGIDA-Jubiläum als Opener wöchentlich eingespielte »Pegida-Hymne«[43] die Bemühungen um Stabilisierung der Protestierendengruppe.
So hielt das Zusammenwirken der Radikalisierung der Reden, Banner etc. und der Ritualisierungsprozesse den Protest am Leben, obwohl Medien, Wissenschaft und Politik schon mehrmals angesichts ausbleibender Mobilisierungserfolge das jähe Ende PEGIDAs prophezeit hatten.[44] Denn PEGIDA hatte sich mittlerweile zu einem »bewegungsspezifischen Ritual und ›sozialen Akt‹«[45] entwickelt. Die Demonstrationen dienten demnach als Begegnungsstätte zwischen einander kennenden Personen bzw. Personenkreisen, als Orte der Einübung gemeinschaftsbildender Sprechchöre, als Möglichkeit der wöchentlichen Bestätigung, Teil von etwas Größerem, Bedeutendem zu sein.[46] Mit der inhaltlichen Radikalisierung der Reden nach der »Flüchtlingskrise« 2015, der ab dem ersten PEGIDA-Geburtstag wöchentlich abgespielten PEGIDA-Hymne sowie dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne reicherten die mittlerweile erfahrenen Organisator*innen den Straßenprotest mit neuen Identifikationsmöglichkeiten für das treue Publikum an und befriedigten gleichzeitig das auch bei der »Stammklientel« bestehende Bedürfnis nach Erlebnis und Abwechslung.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Protestrituale für die Außenwirkung ein Problem darstellen, weil man sich – der Mediendynamik zufolge – immer übertrumpfen muss, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. So beförderten die Protestrituale radikalere Motive, Sprüche und Symbole, die erst ausprobiert werden konnten, nachdem die Protestrituale genug Sicherheit und Orientierung gestiftet hatten und das Protestieren erlernt worden war.
Zudem schufen die Rituale nach innen Identifikationsmöglichkeiten und einen Handlungsrahmen, der auf Grundlage des straff organisierten Protestablaufs zur Anfangszeit eine Radikalisierung auf Handlungsebene verhindern sollte. Als die öffentliche Aufmerksamkeit nachließ und das Teilnehmendenfeld auf eine »Stammklientel« zusammenschrumpfte[47], dienten die Protestrituale vordergründig der Pflege kollektiver Zugehörigkeitsgefühle und der ständig wiederholten Vergewisserung der eigenen Selbstwirksamkeit. Die Radikalisierung der Reden und die Ritualisierung des Protestablaufs sorgten zudem dafür, dass PEGIDA bestehen blieb. Sie stabilisierten den Protest zu einer Zeit, als PEGIDA schon längst auf dem Weg in die »Peripherie«[48] des sich abzeichnenden »rechten Hegemonieprojektes«[49] war.
Bürgerliche Maskerade radikalisierter Protestteilnehmer*innen
Was hat nun all dies mit einer bürgerlichen Maskerade sich radikalisierender Protestteilnehmer*innen zu tun? Letztlich diente, so kann argumentiert werden, die Ritualisierung als Ablenkungsmanöver für sich vollziehende Radikalisierungsprozesse, die über die eigene Protestbewegung hinausreichten. Neben der beschriebenen Radikalisierung der Redeinhalte, der Symbole und Sprüche und den bereits erwähnten verübten Gewalttaten von PEGIDA-Demonstrierenden nutzten bspw. einige Mitglieder der Freien Kameradschaft Dresden sowie andere Gruppierungen der extremen Rechten die Gelegenheit, das Rekrutierungspotenzial bei jungen PEGIDA-Demonstrierenden auszutesten.[50]
Nicht zuletzt bildete sich bei PEGIDA als Treffpunkt und Aktionsformat im Zuge der wechselseitig bedingten Ritualisierung und Radikalisierung eine neu konstruierte Gemeinschaft zwischen neurechten Akteuren wie der Identitären Bewegung, Hooligans und anderen neonazistischen Gruppierungen sowie »mehrheitlich gut ausgebildete[n], im Beruf stehende[n], von ›der Politik‹ enttäuschte[n] Bürgerinnen und Bürgern«[51] heraus, die möglicherweise jederzeit reaktiviert und mobilisiert werden kann. So versammelten sich 2018 bei Demonstrationen in Chemnitz Teile dieser neuen Gemeinschaft[52], nachdem ein Mann mit Migrationshintergrund mutmaßlich einen anderen Mann durch Messerstiche getötet hatte. Die bürgerliche Maskerade legten Teile der benannten Gruppierungen hier ab. Die sich dort bahnbrechende Gewalt gegenüber Polizist*innen und Personen mit Migrationshintergrund, politischen Feind*innen und Journalist*innen hatte jedenfalls nicht mehr allzu viel mit der gewaltfreien Fassade der PEGIDA-Straßenproteste zu tun.[53]
[1] Vgl. Vorländer, Hans/Herold, Maik/Schäller, Steven: PEGIDA. Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden 2016, S. 12 u. S. 47.
[2] Siehe Göttinger Institut für Demokratieforschung: Büchse der Pandora? PEGIDA im Jahr 2016 und die Profanisierung rechtspopulistischer Positionen, Göttingen 2016, S. 23, URL: http://www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2016/10/Pegida2016_G%C3%B6ttinger_Demokratieforschung.pdf [eingesehen am 23.02.2020].
[3] Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz: Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft, Bielefeld 2015, S. 20; vgl. Vorländer et al.: PEGIDA, S. 12.
[4] Zur Spaltung des Organisationsteams im Januar 2015 vgl. Vorländer et al.: PEGIDA, S. 12 u. S. 47.
[5] Vgl. die diesem Text zugrunde liegende Definition von »Ritualisierung« von Stollberg-Rillinger, Barbara: Rituale, Frankfurt am Main 2013, S. 9: »[W]enn sich ein bestimmtes Verhalten in seiner äußeren Form regelmäßig wiederholt.« Vgl. Vorländer et al.: PEGIDA, S. 47.
[6] Siehe exemplarisch Finkbeiner, Florian et al., Aktuelle Forschungsergebnisse, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 31.01.2016, URL: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/pegida-2016-studie [eingesehen am 23.02.2020] sowie Reuband, Karl-Heinz: Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstvertrauen und Parteipräferenzen der Kundgebungsteilnehmer, in: MIP, H. 1/2016, S. 52–69; auch Patzelt, Werner J.: »Rassisten, Extremisten, Vulgärdemokraten!« Hat sich PEGIDA radikalisiert?, Dresden 2016, URL: https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/polsys/forschung/projekte/pegida/studie3-januar2016#section-3 [eingesehen am 23.02.2020].
[7] Vgl. Currle, Philipp et al.: Pegidas Kundgebungen und Reden, in: Patzelt, Werner J./Klose, Joachim (Hg.): PEGIDA. Warnsignale aus Dresden, Dresden 2016, S. 101–148.
[8] Schenke, Julian et al.: Pegida-Effekte? Jugend zwischen Polarisierung und politischer Unberührtheit, Bielefeld 2018, S. 83.
[9] Vgl. Geiges, Lars: Nach dem Hype. Drei Entwicklungen von PEGIDA seit dem Winter 2014/2015,
in: Rehberg, Karl-Siegbert/Frick-Kunz, Franziska/Schlinzig, Tino (Hg.): Pegida – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016, S. 134–145, hier S. 139; Salzborn, Samuel: Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten, Basel 2016, S. 51 f.
[10] Gaugele, Jochen/Kade, Claudia/Sturm, Daniel Friedrich: »Pegida-Organisatoren sind geistige Brandstifter«, in: welt.de, 21.12.2014, URL: https://www.welt.de/politik/deutschland/article135606989/Pegida-Organisatoren-sind-geistige-Brandstifter.html [eingesehen am 23.02.2020].
[11] Etzold, Marc: Pegida hat mitgestochen? Blödsinn!, in: wiwo.de, 19.10.2015, URL: https://www.wiwo.de/politik/deutschland/attentat-auf-henriette-reker-pegida-hat-mitgestochen-bloedsinn/12469502.html [eingesehen am 23.02.2020].
[12] Vgl. Currle et al., S. 118.
[13] Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Rechtsextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2019, S. 222.
[14] Vgl. Currle et al.
[15] Schenke et al., S. 95.
[16] Currle et al., S. 114.
[17] Ebd., S. 114.
[18] Vgl. ebd., S. 113.
[19] Vgl. ebd., S. 122.
[20] Däbritz, Siegfried: PEGIDA live vom Theaterplatz in Dresden, 16.11.2015, in: YouTube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=7OWegquMNQw&t=1434s, Minute 9 [eingesehen am 23.02.2020].
[21] Vgl. Schenke et al., S. 84 f.
[22] Vgl. u. a. Vorländer, Hans/Herold, Maik/Schäller, Steven: Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus. Was PEGIDA über den sich formierenden Rechtspopulismus verrät, in: Jörke, Dirk/Nachtwey, Oliver (Hg.): Das Volk gegen die (liberale) Demokratie, Baden-Baden 2017, S. 138–159, hier S. 144.
[23] Siehe Geiges: Nach dem Hype, S. 142; ferner Marg, Stine/Trittel, Katharina: PEGIDA. Vom »Schmuddelkind« zum professionalisierten Protestformat, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 11.10.2016, URL: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/zwei_jahre_pegida [eingesehen am 01.02.2020].
[24] Siehe Scharf, Stefan/Pleul, Clemens: Im Netz ist jeden Tag Montag, in: Rehberg, Karl-Siegbert/Frick-Kunz, Franziska/Schlinzig, Tino (Hg.): Pegida – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende“-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016, S. 83–98, hier S. 85 f.
[25] Reuband, S. 66.
[26] Vgl. Balistier, Thomas: Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1979 und 1989, Münster 1996, S. 213; ähnlich dazu Hagen, Lutz M.: Die Medien und PEGIDA – eine dreifach prägende Beziehung, in: Rehberg, Karl-Siegbert/Frick-Kunz, Franziska/Schlinzig, Tino (Hg.): Pegida – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016, S. 207–222, hier S. 216.
[27] Vgl. Reuband, S. 66.
[28] Vgl. Geiges: Nach dem Hype, S. 135.
[29] Exemplarisch mit Bezug auf PEGIDA vgl. Geiges et al., 16 f.; Marg/Trittel; Vorländer et al.: Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus, S. 145.
[30] Reuband, S. 66.
[31] Vgl. Marg/Trittel.
[32] Vgl. Vorländer et al.: Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus, S. 142 f.
[33] Vgl. Göttinger Institut für Demokratieforschung, S. 23.
[34] Däbritz, Minute 39.
[35] Vgl. Vorländer et al.: PEGIDA, S. 49.
[36] Vgl. Vorländer et. al.: Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus, S. 145.
[37] Vgl. Currle et al., S. 112 u. S. 125.
[38] Vorländer et al.: Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus, S. 144.
[39] Currle et al., S. 125.
[40] Vgl. Vorländer et al.: PEGIDA, S. 104.
[41] Vgl. Schedler, Jan: Die extreme Rechte als soziale Bewegung. Theoretische Verortung, methodologische Anmerkungen und empirische Erkenntnisse, in: Virchow, Fabian/Langebach,
Martin/Häusler, Alexander (Hg): Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden 2016, S. 285–324, hier S. 307.
[42] Vgl. Marg/Trittel 2016.
[43] Schmitz, Christopher/Trittel, Katharina: Ein Jahr Pegida: Eine Bewegung gefällt sich selbst, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 20.10.2015, URL: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/ein-jahr-pegida [eingesehen am 23.02.2020].
[44] Vgl. Scharf/Pleul, S. 85 f.
[45] Marg/Trittel.
[46] Vgl. Reuband, 65 f.
[47] Vgl. Marg/Trittel.
[48] Marg, Stine/Schmitz, Christopher/Trittel, Katharina: Pegidas vierter Geburtstag – Bühnenbauer statt Hauptdarsteller, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 23.10.2018, URL: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/pegidas-vierter-geburtstag-buehnenbauer-statt-hauptdarsteller [eingesehen am 23.02.2020].
[49] Friedrich, Sebastian: Der Aufstieg der AfD. Neokonservative Mobilmachung in Deutschland, Berlin 2015, S. 104; zit. nach Geiges, Lars: Wie die AfD im Kontext der »Flüchtlingskrise« mobilisierte. Eine empirisch qualitative Untersuchung der »Herbstoffensive 2015«, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 28 (2018), H. 1, S. 49–69, hier S. 53.
[50] Vgl. Geiges: Nach dem Hype, S. 140.
[51] Vorländer et al.: PEGIDA, S. 104.
[52] Vgl. Schedler, 293 f.
[53] Vgl. Moßburger, Thomas: Gab es »Hetzjagden« in Chemnitz? LKA-Bericht nenne neue Details, in: br.de, 26.08.2019, URL: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/gab-es-hetzjagden-in-chemnitz-lka-bericht-nennt-neue-details,RaGlUaH [eingesehen am 23.02.2020].