Am 7. und 8. Juli 2017 fand in Hamburg der von massiven Ausschreitungen begleitete G20-Gipfel statt. Zumeist linke und linksextreme GlobalisierungskritikerInnen hatten im Vorfeld zu Protest- und Blockadeaktionen aufgerufen. Eine Frage, die Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft gleichermaßen bewegt, ist die Eskalation der Gewalt in der Gipfelnacht vom Freitag auf Samstag. Auf der Suche nach Erklärungen führt ein Pfad zur Geschichte und Theorie anarchistischer Bewegungen, mit denen in breiten Teilen der Bevölkerung die brennenden Autos ebenso wie die Straßenschlachten assoziiert werden. Doch wie stehen AnarchistInnen zur Gewaltfrage? Und können die gewalttätigen Proteste rund um den Gipfel mithilfe anarchistischer Erklärungsmuster gedeutet werden?

»Die meisten VertreterInnen des klassischen Anarchismus gehen von einer guten Natur des Menschen aus, und der ›gute‹ Mensch braucht keinen Staat.«[1] Das Ziel, das AnarchistInnen erreichen wollen, die Abwesenheit von Herrschaft und insofern auch von staatlichen Strukturen, ist damit klar umrissen. Weniger klar ist, mit welchen Methoden diese herrschaftsfreie Gesellschaft erreicht werden soll. Folglich ist wenig verwunderlich, dass die Frage, ob und in welchem Maße Gewalt eingesetzt werden soll, auch innerhalb der Szene diskutiert wird. Dies geschieht auch deshalb, weil es im Anarchismus, wie sich noch zeigen wird, keine unbestrittenen Autoritäten, sondern eine Vielzahl von sich teilweise widersprechenden theoretischen Denkschulen gibt, die insbesondere zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Erscheinung traten, sich teilweise gegenseitig widersprachen und unterschiedliche Standpunkte zur Gewaltfrage einnahmen.

So stellt etwa Hans Diefenbacher fest,[2] dass das Verhältnis zur Gewaltfrage in allen Denkrichtungen des Anarchismus von entscheidender Bedeutung sei und nahezu alle denkbaren Möglichkeiten, »[…] von einem Bekenntnis zur völligen Gewaltlosigkeit […] bis zur begeisterten Zustimmung zu terroristischen Gewaltakten […]«[3], diskutiert würden. Die Revolution bei William Godwin werde beispielsweise durch die Beendigung der Kommunikation mit staatlichen Organen erreicht[4] und bei Gustav Landauer durch die Verweigerung der industriellen Mitarbeit sowie durch die Bildung von Kollektiven, die den Staat und den kapitalistischen Markt ersetzten.[5] Beide hier aufgezeigten Alternativen sind zweifellos gewaltfrei.

Der anarchistische Theoretiker Erich Mühsam merkte jedoch bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts an, dass über die Mittel, mit deren Hilfe der Anarchismus durchgesetzt werden solle, Uneinigkeit bestehe.[6] Da der kommunistische Anarchismus, den er vertrat, in seiner Weltanschauung und Zielsetzung von revolutionärer Natur sei, könne der Weg in die anarchistische Revolution auch über den Kampf beschritten werden.[7] Die Anwendung von Gewalt ist für ihn eindeutig eine Möglichkeit, sie ist jedoch an Bedingungen geknüpft. Der freie Wille des Individuums, das den Gewaltakt begehe, sei eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Tat nach anarchistischer Denkart moralisch zu verantworten sei, dementsprechend werde die Wahl der Methoden zur Gewissensfrage des Einzelnen.[8]

Es lassen sich also sowohl Beispiele für Spielarten des Anarchismus finden, die zu militanten Denkmustern neigen, als auch solche für gewaltlose Denkrichtungen. Daher können AnarchistInnen heute auf unterschiedlichste Strategien zurückgreifen, um gegen staatliche Strukturen und für die von ihnen erstrebte freie Gesellschaft zu kämpfen, als da wären: Aufklärung und Medien, der Aufbau von Gegenkultur, die direkte Aktion, Streiks und Demonstrationen.[9] Dennoch schwingt bei dem Begriff »Anarchismus« immer auch eine gewaltsame Konnotation mit, was laut dem bereits erwähnten Hans Diefenbacher vor allem an der Unfähigkeit von AnarchistInnen liege, sich von nicht-anarchistischen Terrorakten zu distanzieren.[10]

Eine Analyse des Protestaufrufs zur »Welcome to Hell«-Demonstration während des G20-Gipfels, die für sich selbst in Anspruch nahm, den radikalsten Teil der GlobalisierungsgegnerInnen zu vertreten, zeigt, dass sich sämtliche oben skizzierte Denkmuster darin wiederfinden lassen. So werden die G20-Staaten und ihre VertreterInnen für Armut, Kriege, Unfreiheit und die Verelendung der Bevölkerung verantwortlich gemacht. Die kapitalistische Logik ließe nichts anderes als Krieg, Terror und Ausbeutung zu.[11] Es wird dazu aufgerufen, den reibungslosen Ablauf des Gipfels zu stören und zu blockieren; dabei sollten die AktivistInnen »selbst bestimmen, welche Aktionsformen für uns politisch angemessen und vermittelbar sind«[12]. Hiermit können sowohl friedliche Aktionen des zivilen Ungehorsams als auch gewaltsame Blockadeaktionen sowie ebenfalls Angriffe auf die physische Unversehrtheit einzelner Personen gemeint sein. Dieses Konzept der Gleichzeitigkeit und der Gleichberechtigung ungleichzeitiger Aktionsformen wird in der Bewegungsforschung »Diversity of Tactics« genannt.

So fordert einer der explizit anarchistischen Aufrufe beispielsweise die Zerstörung der bestehenden (Macht-)Mechanismen, welche ein freies Leben unmöglich machten: »Die Verteidigung ihrer Herrschaft [der RepräsentantInnen der G20] bedeutet, die Zerstörung von Emanzipation […]. Es bedeutet die Zerstörung des anarchistischen Lebens.«[13] Aber auch in diesem Dokument wird betont, dass es neben friedlichen Demonstrationen auch Raum für militante Protestformen geben müsse. Welche Art von Aktionen freilich jene Personen, die diesen Aufruf verfasst haben, bevorzugen, scheint eindeutig: »Es ist an der Zeit uns weiter zu entwickeln. Zurück in die Unberechenbarkeit. Voran zur Verteidigung und Analyse unseres Handelns auf der Straße.«[14]

Es bleibt nun zu untersuchen, womit sich eine solche Schärfe der Rhetorik erklären lässt, obwohl es doch zahlreiche anarchistische TheoretikerInnen gibt, welche die Gewalt ablehnen. Aber werden diese und andere AutorInnen von den heutigen AnarchistInnen gelesen und diskutiert? Oder liegt die Tragik des Anarchismus jenseits der Theorie darin, dass, wie der deutsche Autor und Anarchist Horst Stowasser es beschreibt, anarchistische Bewegungen sich ihre Aktionsformen nicht selbst aussuchen, sondern sie ihnen stattdessen von außen, quasi durch das System, aufgezwungen werden?[15]

Der Soziologe Rainer Paris liefert eine dritte Erklärungsmöglichkeit, die sich unabhängig von der politischen Couleur der ProtestteilnehmerInnen diskutieren lässt. Er argumentiert, dass in sozialen Bewegungen die Provokation oft eine gewichtige Rolle einnehme, da sie als Medium der Zuweisung von sozialer Identität fungiere.[16] Die Provokation als Machtmittel der weniger mächtigen Konfliktpartei führe »den Mächtigen als den Mächtigen vor und bestreitet zugleich seine Legitimität«[17]. Die Provokation – an dieser Stelle kann allerdings diskutiert werden, ob und in welchem Ausmaß die Vorkommnisse um den G20-Gipfel noch als Provokation zu werten sind – wird so zu einem strategischen Werkzeug, das durchaus auch eine Gewaltspirale in Gang setzen kann.

Die hier vorgestellten Begründungsmuster für anarchistische, gewaltsame Aktionen bedürfen einer gründlichen Überprüfung. Weiterhin muss berücksichtigt werden, ob wirklich (ausschließlich) politische AktivistInnen für die Ausschreitungen in Hamburg verantwortlich waren, da rasch Berichte kursierten, dass sich hier auch Personen von außerhalb der linksextremen Szene beteiligt hätten.[18] Zudem muss der Beitrag einer eskalativen Polizeistrategie zur Dynamik der Gewalt genauer untersucht werden. Erst dann lassen sich die Randale und die RandaliererInnen seriös mit einer politischen Gesinnung in Verbindung bringen.

[1] Mümken, Jürgen: Anarchismus in der Postmoderne. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.): Anarchismus in der Postmoderne. Beiträge zur anarchistischen Theorie und Praxis, Frankfurt a.M. 2005, S. 17.

[2] Hans Diefenbacher ist außerplanmäßiger Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Heidelberg und habilitierte zum Themenkomplex »Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit«.

[3] Diefenbacher, Hans: Anarchismus – die verlorene Utopie? Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.): Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, Darmstadt 1996, S. 7–23, hier S. 12.

[4] Vgl. Diefenbacher, Hans: Anarchie ist Ordnung. Individualistischer Anarchismus bei William Godwin, Anselme Bellegarrigue und Gustav Landauer, in: ders. (Hrsg.): Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, Darmstadt 1996, S. 34–51, hier S. 36.

[5] Vgl. ebd., S. 45.

[6] Vgl. Mühsam, Erich: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, Berlin 1988, S. 9.

[7] Vgl. ebd., S. 57–58.

[8] Vgl. ebd., S. 66–72.

[9] Vgl. Stowasser, Horst: Freiheit pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft, Frankfurt a.M. 1995, S. 25.

[10] Vgl. Diefenbacher: Anarchismus – die verlorene Utopie?, S. 22.

[11] Vgl. URL: https://g20tohell.blackblogs.org/g20-welcome-to-hell/de/ [eingesehen am 31.07.2017].

[12] Ebd.

[13] Vgl. URL: https://tschuess.noblogs.org/post/2017/05/20/anarchistischer-aufruf-zur-gemeinsamen-revolte-gegen-die-g20-mai-2017/#more-456 [eingesehen am 31.07.2017].

[14] Ebd.

[15] Vgl. Stowasser, S. 27.

[16] Vgl. Paris, Rainer: Stachel und Speer. Machtstudien, Frankfurt a.M. 1998, S. 57.

[17] Ebd., S. 68.

[18] Vgl. Leitner, Gerhard (Interview mit Andreas Scheffel): Journalist: Rechtsradikale unter Randalierern, in: swr.de, 17.07.2017, URL: https://www.swr.de/swraktuell/proteste-bei-g20-journalist-rechtsradikale-unter-randalierern/-/id=396/did=19916574/nid=396/1efq4t8/index.html [eingesehen am 31.07.2017].